03. November 2015 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingskrise: Unsere Willkommenskultur“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Quelle: Zeit Online

Klar schaffen wir das, aber vielleicht anders als gedacht: Die rechten Protestbewegungen und die konservativen Eliten könnten sich in der Flüchtlingskrise verbünden und über den Ausnahmezustand befinden. Ein Szenario.

Von Thomas Assheuer

Was wird über diese Tage im Oktober einmal in den Geschichtsbüchern stehen? Vielleicht „Europas Versagen“? Die Temperaturen sinken auf den Nullpunkt, in Europa übernachten Tausende Flüchtlinge im Freien, in Schlamm und Kälte, unter ihnen Säuglinge und Kinder. Als die Banken wankten, spannte die europäische Wertegemeinschaft im Handumdrehen einen „Rettungsschirm“ auf, nun dauert es Wochen, bis sie „wirksame Maßnahmen“ beschließt. Die EU ist Trägerin des Friedensnobelpreises, auf ihren Selbstbeweihräucherungsfeiern besingen die Damen und Herren gern den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Zum Dessert dann Beethoven. „Alle Menschen werden Brüder.“

Anfangs waren die Flüchtlinge nur ein italienisches, ein griechisches und vor allem: ein ungarisches Problem. Dabei waren sie längst ein europäisches, doch Europa wollte davon nichts wissen. Dann kollabierte unter den Flüchtlingstrecks die Dublin-Vereinbarung; die Drittstaatenregelung, von der Deutschland so profitiert hatte, war Makulatur, an den Grenzen herrschte, mit einem Lieblingswort der Konservativen, der Ausnahmezustand. In diesen Tagen hat Angela Merkel etwas getan, was viele europäische Regierungschefs und viele Konservative ihr nicht verzeihen werden: Sie tat das Selbstverständliche. Sie handelte im europäischen Geist. Sie sagte nicht Notwehr, sondern Nothilfe; nicht „Schutz der konkreten Ordnung“, sondern Schutz der konkreten Menschen. Merkel hätte sagen können, es seien alles Orbáns Flüchtlinge und Deutschland habe mit ihnen nichts zu schaffen. Stattdessen sagte sie, Bürgerkriegsflüchtlinge dürfe man nicht abweisen. Merkel bewies historische Größe, ihre Sätze hatten Würde, sie werden ihre Amtszeit überdauern. Mit einer moralischen Begründung („Es sind Menschen“) bestand sie auf der Einhaltung des Asylrechts und weigerte sich, die Grenzen zu schließen.

In der konservativen Staatsrechtslehre bezeichnet der Ausnahmezustand die Stunde der Entscheidung. Wenn die Ordnung zusammenbricht, herrscht der übergesetzliche Notstand, und das Wesen des Staates tritt gleichsam nackt hervor: der Wille zur Macht und der Wille zur Selbsterhaltung. Der Staat entledigt sich der Fesseln des Rechts und bestimmt Freund und Feind, was bedeutet hätte: Der Flüchtling ist der Feind.

Doch Angela Merkel wiederholte stoisch ihren Satz „Wir schaffen das.“ Sie sagte, dass in den Zeiten der Globalisierung ihre politische Macht zwangsläufig begrenzt sei. „Konflikte kommen bis vor unsere Haustür. Sie können die Grenzen nicht völlig schließen, wie wollen Sie das machen?“ Seit diesen Sätzen tobt eine Debatte um die Staatsräson, der Ton ist scharf. Merkel, so der Vorwurf, ersetze Moral durch Politik, sie kapituliere vor der Realität. „Deutschland schafft sich ab.“

Wenn nicht alles täuscht, dann ist der neue Streit die Wiederholung eines alten. Als 1989 die Mauer fiel, malten konservative Intellektuelle ein düsteres Bild von der Zukunft; schwere Zeiten kämen auf Deutschland zu, und nur eine selbstbewusste, von ihren Machtinteressen geleitete Nation sei ihnen gewachsen. Dieser Streit um das staatliche Selbstverständnis wiederholt sich heute in ganz Europa, und Viktor Orbán spricht aus, was viele denken, auch viele Intellektuelle: Merkel lässt sich von Gefühlen leiten, sie belästigt Europa mit ihrem „moralischen Imperialismus“ und verrät die nationalen Interessen. Doch im Chaos der Weltgesellschaft sei mit Moral kein Staat zu machen.

Weltgesellschaft – dieser Begriff klang schon immer so, als sei er im grauen Beton grauer Akademien ausgebrütet worden. Wie eine Honigoblate wurde er auf Kirchentagen herumgereicht, die Welt sei ein Dorf mit Netzanschluss, und alle redeten darin ganz lieb mit allen. Tatsächlich war „Weltgesellschaft“ ein brutal realistischer Begriff. Er bedeutete, dass das geordnete Universum der geordneten Nationen brüchig wird und sich die Welt nach innen entgrenzt. Er meinte, dass die grenzenlos gewordenen Märkte die alten Nationalstaaten in einen ruinösen Steuersenkungswettbewerb treiben: Wer macht’s billiger? Kurzum, „Weltgesellschaft“ hieß: Es gibt keine wirksame Politik innerhalb des Nationalstaates. Und außerhalb auch nicht.

Es gab einmal die Hoffnung, dass Politiker neue transnationale Institutionen erfinden, die den Bürgern ein vergleichbares Gerechtigkeits- und Sicherheitsversprechen geben wie der alte Nationalstaat. „Regieren in der Weltgesellschaft“ hieß das Programm, doch es war ein ebenso nebelhafter wie großartiger Traum. Die Europäische Union blieb auf halbem Weg stecken, in anderen Weltregionen herrscht ewiger Krieg für ewigen Frieden. Das Gefühl sagt: Wir leben in einer Zwischenzeit; eine vertraute Welt geht zu Bruch, und die neue kennt man nicht. Die Moderne, schreibt der Soziologe Zygmunt Bauman, verflüssigt sich, und in dieser liquid modernity entstehen unregierbare chaotische Räume. Ausgerechnet dort, wo der amerikanische Hegemon seine größte Niederlage erlitt, im Irak, der Wiege der Menschheit, kehrt etwas Anfängliches zurück, eine Gewalt in mythischer Dimension. Und auch die Flüchtlinge erscheinen als apokalyptische Metapher. Wie sie mit ihren Habseligkeiten durch die Wildnis der Zivilisation irren, sehen sie aus wie die ersten Menschen, wie Gestalten der Frühe in der späten Moderne. Der Flüchtling ist das, was nach dem Zerfall politischer Räume übrig bleibt, er ist das nackte Leben auf der Flucht.

Die Flüchtlinge treffen auf nervöse Gesellschaften, von denen keine das Desaster der Finanzkrise überwunden hat. Der Wachstumskapitalismus wächst nicht mehr richtig, und nicht einmal Systemtheoretiker glauben noch an die magische Selbststeuerung der Ökonomie. Die integrative Kraft der Wirtschaft lässt nach, und Unternehmen wie der Taxidienst Uber setzen ohnehin auf „disruption“. Niemand weiß, ob die alten Rezepte noch greifen: mehr Privatisierung und weniger Staat, mehr Zaubergeld von der EZB, mehr Internet, mehr Reform, mehr Ich-AGs. So erscheinen die Flüchtlinge als Vorboten des Ungewissen, und selbst kluge Menschen sagen über sie Verächtliches, darunter katholisierende Schriftsteller und kleine Philosophenkönige, alle große Retter des deutschen Geistes. Im CDU-Land Sachsen tragen Heidenchristen schwarz-rot-goldene Kreuze schlagbereit durch Dresden; ihre geistigen Brandstifter fabulieren vom tausendjährigen Reich und zündeln für die „Konservative Revolution“. Es gibt den Biedermann Alexander Gauland (AfD), früher einmal der Edelmarzipankonservative der hessischen CDU, einen echten Intellektuellen, viele hatten sie ja dort nie. Gauland verkörpert den inneren Abgrund des Bürgertums, seine Bereitschaft zum Selbstverrat, zum Pakt mit den Rechten. Jetzt begrüßt der deutsche Bildungsbürger noch Frauke Petry. Wen begrüßt er danach?

Mit der Globalisierung haben sich die Ängste globalisiert

Vielleicht muss man die Panikmacher und Einpeitscher einfach ertragen, genauso wie den Dresdner Villenbewohner und Pegida-Fan, dem es übel wird bei der Vorstellung, er müsse beim Toleranzsingen in der Semperoper neben einem Asylbewerber mit Freikarte sitzen. Nicht ignorieren aber darf man die kritische Masse der Mitläufer, jene Gestalten, die Sigmar Gabriel als „Pack“ beschimpft, anstatt sich zu fragen, warum das Pack seine biegsame Mittelschichtspartei einfach nicht mehr wählen will. Die Rede ist von den Gelegenheitsdemonstranten und den Fremdenfeinden aus dem Verbitterungsmilieu – von Tagelöhnern, Leiharbeitern und Dienstleistungsproletariern, die nichts gegen den Kapitalismus haben, sich aber trotzdem von ihm betrogen fühlen.

Die working poor sind keine geborenen Rechtsradikalen oder Ausländerhasser – sie fühlen rechts, weil sie Sozialdemokraten und Grüne für lebensfremde Kosmopoliten halten, und Kosmopolitismus übersetzen sie mit „Globalisierung“, und die mögen sie nicht. Globalisierung ist für sie eine Bedrohung, eine ebenso ungreifbare wie undurchdringliche Niemandsherschaft, zusammengesetzt aus neoliberalen Brüsseler Funktionären („Dijsselbloem!“), US-Monopolen („Google!“) und namenlosen Finanzkapitalisten, die in sonnigen Steuerparadiesen ihre Schäfchen leistungslos ins Trockene bringen.

Für die prekären Milieus bedeutet Globalisierung nicht nur empörende Ungerechtigkeit, sie bedeutet für sie auch: Trash-Jobs, Lohndumping, Lockerung des Kündigungsschutzes, hohe Mieten und miese Renten – und nun auch noch Flüchtlinge. Wer sich ohnehin als ein sozial Heimatvertriebener fühlt, der empfindet Flüchtlinge als Krisenverstärker; als Konkurrenten in der Konkurrenzgesellschaft, als Rivalen um knappe Arbeitsplätze, knappen Wohnraum, knappe Transferleistungen. Seit der Regierung Schröder wissen alle: Wer aus der Wohlstandsmaschine herausfällt, der ist ganz schnell ganz unten, er ist nicht mehr viel wert. Es sind solche Deklassierungsängste, die die Erfahrung kultureller Fremdheit gegenüber Flüchtlingen noch einmal intensivieren, die tief sitzende Furcht vor dem Anderen und Unbekannten. „Die Ärmsten zahlen für die Masseneinwanderung“, heißt es in den Netzwerken. Die rechten Rattenfänger finden das übrigens auch.

Man irrt, wenn man glaubt, es gehe nur um Tatsachen, nein, es geht um das Imaginäre, um Vorstellungen und Ängste, die bis tief in die Mittelschicht reichen („Wird es mein Kind aufs Gymnasium schaffen, wenn Flüchtlingskinder in seiner Klasse sind?“). Mit der Globalisierung haben sich auch die Ängste globalisiert, und es ist sinnlos, sie als irrational abzutun, denn Ängste filtern die Wahrnehmung und erzeugen eine eigene, wirkliche Wirklichkeit. Das letzte Krisenjahrzehnt hat eine diffuse Unglückserwartung hinterlassen, die Angst vor allem Möglichen. Elfter September, War on Terror, Irakkrieg, Fukushima, Klimakrise, Energiekrise, Finanzkrise, Wachstumskrise, Euro-Krise, Griechenlandkrise. Und nun: die Flüchtlingskrise. Die Krise wird zur Lebensform, und darum wird es nicht viel helfen, wenn ostdeutsche Politiker stolz auf ihre jüngsten Errungenschaften verweisen, auf die Schwimmbäder mit echtem Wasser drin, das prächtige neue Jobcenter und den Pseudomarmor auf den Bahnsteigen der Deutschen Verspätungsbahn.

Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was passiert, wenn die Flüchtlingstrecks nicht enden, wenn Städte und Gemeinden vor der Zahl der Schutzsuchenden kapitulieren und die Europäische Union aus einem lösbaren Großproblem ein unlösbares macht. Gut möglich, dass sich dann die Abgehängten, all die stimmlos verstummten Nichtwähler, die Opfer von Finanzkrise und Sparpolitik mit den kulturkonservativen Eliten in einer schlagenden Verbindung zusammenfinden, radikalisiert von den Angstausbeutern der Rechten, getrieben von einer – wie in der Schweiz – panisch gewordenen Mittelschicht. Flankenschutz erhielten sie von konservativen Intellektuellen, den „letzten Deutschen“ und „letzten Franzosen“ mit ihrer Sehnsucht nach dem neuen Herrn, dem Souverän über den Ausnahmezustand, einer Mischfigur aus Wladimir Putin und dem Weisen aus dem Morgenland.

Das gesamte politische Spektrum würde sich erdrutschartig verschieben, und Angela Merkel stünde plötzlich als linksliberale Europäerin da. Die Wähler brächten Politiker ins Amt, die den Ausnahmezustand ausrufen unter dem Vorwand, ihn zu verhindern. Scheinheilig würden sie fragen, ob es gerecht sei, dass Migranten die gleichen bürgerlichen Rechte genießen wie Einheimische. Schließlich würden sie die Grenzen dichtmachen und der Europäischen Union ins offene Grab spucken.

Undenkbar im aufgeklärten Europa? In der Schweiz will eine einflussreiche Initiative die EU-Menschenrechtskonvention aufkündigen („Schweizer Recht statt fremde Richter“), auch Viktor Orbán, das große Vorbild der polnischen Wahlsieger, hat die Karten schon auf den Tisch gelegt. Die Flüchtlingskrise, sagt er, „bietet für die christlich-nationale Ideologie die Gelegenheit, wieder die Dominanz zu gewinnen – nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Europa“. Orbán will das Zeitalter der Menschenrechte abwickeln und das lästige Asylrecht aushebeln. Alles im Namen einer „tausendjährigen christlichen Kultur“, einer putinhaften Melange aus Shoppen und Beten und dem Staat die Stiefel lecken.

Das wäre also das Szenario: 25 Jahre nach dem Sieg der Freiheit über den Kommunismus entstünden in Europa wieder autoritäre Nationalstaaten mit hohen Zäunen zur allfälligen Abwehr unrechtmäßiger Menschen, vielleicht auch ein Eiserner Vorhang mit Stacheldraht und Schießbefehl, die Fachkräfte dafür sind ja noch vorhanden. Europa, das seinen Reichtum der Grenzenlosigkeit des Marktes verdankt, würde Krieg gegen Flüchtlinge führen, die soeben dem Tode entronnen sind, es würde ihre Boote zurück aufs offene Meer treiben und Vollzug melden, und danach gäbe es vielleicht die Frontex-Tapferkeitsmedaille aus der Hand des Herrn Ministers. Grenzenlos und ungehindert dagegen funktionierte der Markt, die freie Zirkulation des freien Kapitals, auch Waffen sind kein Problem. Irgendwo draußen, in den Schwarzen Löchern der Weltgesellschaft, ziehen die Displaced Persons vorüber, die Staatenlosen und „Ausländer in irregulären Situationen“, die undocumented workers, die sans-papiers, die clandestini und Vogelfreien. Ein Container, der irgendwo in der Ägäis von einem Frachter fällt, hat dann mehr Rechte als ein Mensch.

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