29. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Warum ausgerechnet die Afghanen nach Hause schicken?“ · Kategorien: Afghanistan, Deutschland · Tags: ,

Quelle: DeutschlandRadio Kultur

Reinhard Erös im Gespräch mit Dieter Kassel

Deutschland plant, afghanische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzuschicken. Das stößt auf heftige Kritik bei Afghanistan-Experten wie dem Entwicklungshelfer Reinhard Erös. Die Situation im Land sei heute weitaus schlimmer als während der NATO-Einsätze.

Reinhard Erös, Entwicklungshelfer in Afghanistan und Gründer der Kinderhilfe Afghanistan hat die Pläne der Bundesregierung, Asyl suchende Afghanen in ihr Heimatland zurückzuschicken, nachdrücklich kritisiert.

Der ehemalige Oberstabsarzt der Bundeswehr sagte im Deutschlandradio Kultur: „Die Situation in Afghanistan ist jetzt so schlimm wie in den letzten 13 Jahren nicht mehr, in fast allen Bereichen. Und die wollen wir jetzt zurückschicken? Das Ganze drei Wochen nach dem Luftschlag in Kundus.“ Die jungen Menschen, vor allem junge Männer, die in den letzten Wochen und Monaten nach Deutschland gekommen seien, seien schließlich keine Taliban. „Das sind aktive, hoch motivierte (…) junge Männer, die die Situation in ihrem Land – zu Recht – mit Perspektivlosigkeit betrachten.“

Erös sagte weiter: Afghanistan könne nicht als sicheres Herkunftsland bezeichnet werden, denn mehr Zivilisten und Polizisten als je zuvor seien in der letzten Zeit ums Leben gekommen. „Das heißt: Die Sicherheitslage in Afghanistan im Jahr 2015 ist schlimmer als in all den Jahren, in denen die Nato (…) dort tätig war.“
Bestens integriert

Die Statistik zeige zudem deutlich, dass jene Afghanen, die bereits seit etlichen Jahren oder Jahrzehnten in Deutschland lebten, zu den am besten integrierten Migranten zählten: Sie bildeten bei den Hartz IV-Empfängern und in der Kriminalitätsstatistik das Schlusslicht, ein hoher Prozentsatz der jungen Afghanen in Deutschland besuche ein Gymnasium und mache Abitur.

Erös sagte, den Plan der Bundesregierung, Tausende von Afghanen in ihre Heimat zurückzubringen, halte er zudem auch für logistisch nicht durchführbar: Flöge man sie mit Transall-Maschinen aus, würde dies viele Monate ununterbrochenen Flugzeugeinsatz bedeuten.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Flüchtlinge aus Afghanistan gehören nicht zu denen, deren Asylanträge in aller Regel in Deutschland erfolgreich sind. In immerhin gut der Hälfte der Fälle wurden ihre Anträge bisher negativ beschieden. Zurückgeschickt wurden trotzdem nur wenige, und genau das will die Bundesregierung nun ändern.

Ein Abkommen der EU mit der Regierung in Kabul soll dafür sorgen, dass Afghanen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, möglichst schnell in ihre Heimat zurückkehren. Ist das organisatorisch überhaupt machbar? Und ist es zumutbar? Das fragen wir jetzt Reinhard Erös, er hat zusammen mit seiner Frau vor 17 Jahren die Kinderhilfe Afghanistan gegründet, kennengelernt hat er das Land aber schon vorher in den 80er-Jahren bei verschiedenen Einsätzen als Arzt, und seitdem lässt dieses Land ihn und eigentlich seine ganze Familie nicht mehr los. Schönen guten Morgen, Herr Erös!

Reinhard Erös: Guten Morgen nach Berlin!

Kassel: Voraussetzung für eine Rücksendung von Afghanen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, ist ja, wie erwähnt, ein Abkommen mit der Regierung in Kabul. Gehen Sie denn davon aus, dass man in Kabul ein Interesse an so einem Abkommen hat?

Erös: Davon gehe ich aus. Denn die Äußerungen der Spitzenpolitiker Afghanistans, der letzte Präsident Karzai hat sich geäußert und der neue, Ghani und auch sein Stellvertreter Abdullah Abdullah haben sich dazu klar geäußert, dass sie es nicht gut finden, dass vor allen Dingen junge Männer ihr Heimatland Afghanistan verlassen, nach Europa fliehen, statt im Land zu bleiben und mit zu helfen, das Land wieder aufzubauen.

Also, von Seiten der Verantwortlichen in der Regierung in Kabul erwarte ich da keine erheblichen Widerstände. Selbstverständlich – davon kann man in Afghanistan wie in vielen vergleichbaren Ländern ausgehen – wird man da natürlich gewisse Forderungen haben, Geldforderungen, Fortsetzung der Entwicklungshilfe, Fortsetzung des Verbleibs der Bundeswehr und so weiter. Aber ich kann mir vorstellen, dass man diese dann gerne hier in Kauf nimmt.

Kassel: Von wie vielen reden wir, die, wenn es ein solches Abkommen gäbe, prinzipiell zurückgeschickt werden müssten?

Erös: Wir haben Zahlen der Afghanen, die jetzt schon im Land Deutschland sind, oder es soll ja ein EU-Abkommen sein, also die sich in Europa befinden, und dort sind ja nun weitere Zehntausende vermutlich auf dem Weg hierher. Der deutsche Entwicklungsminister Müller sprach vor wenigen Wochen den bemerkenswerten Satz, in Afghanistan sitzen Millionen junger Männer auf gepackten Koffern, um eben nach Europa zu kommen.

Also, wir dürfen schon, würde ich mal sagen, wenn das Abkommen dann in die Realität umgesetzt wird, also die Rückführung dann stattfindet, dass wir sicher von ein bis zwei, zweihundertfünfzigtausend Afghanen, die es dann betrifft, beziehungsweise diejenigen, die abgelehnt werden, das ist so in etwa die Hälfte … Also ungefähr 100.000, die zurückgeführt werden müssten, davon gehe ich mal aus.
„Eine der bestintegrierten Migrantenpopulationen“

Kassel: Wie soll denn das allein schon logistisch funktionieren?

Erös: Nun ja, die müssen ja mit den Flugzeugen nach Afghanistan zurückgebracht werden, man kann sie ja nicht irgendwie in einen Bus stecken, das ist undenkbar, oder auch in die Eisenbahn, dort gibt es gar keine Eisenbahn, in Afghanistan, muss man durch mehrere Länder durch. Also, es geht wohl nur mit Lufttransport. Aber wenn das dann so wäre, dass man Flugzeuge der Bundeswehr nimmt, da müssen wir mal gucken, was haben wir da für welche, wie viel haben wir, wie viel passen da rein, und welchen Zeitaufwand – vom Geld reden wir mal gar nicht – würde das in Anspruch nehmen.

Also, als Flugzeuge kämen zum Beispiel infrage – denn davon haben wir ein paar Dutzend – die C-160 Transall, das ist ein Transportflugzeug der Bundeswehr, das kann auch überall landen, da kann man direkt auch Kabul anfliegen zum Beispiel. In dieses Flugzeug passen an Personen, wenn die kein Gepäck oder ganz wenig Gepäck nur dabei hätten, etwa 90 Personen rein. Wenn sie dann schweres Gepäck dabei haben, man muss ja … Das, was sie hier in Deutschland haben, kann man ihnen ja nicht wegnehmen, das dürfen sie ja wieder mitnehmen, oder was sie eingekauft haben, dürfen sie mitnehmen, dann gehen wir von ungefähr 60 Personen aus.

Wenn wir 100.000 haben – und die Bundeswehr hat 51 dieser Flugzeuge –, dann ist das ein Dreisatz eigentlich, mathematischer Dreisatz, um auszurechnen, wie viele Monate dann diese Flugzeuge pausenlos unterwegs sein müssten, wie viele Monate, um diese 100.000 nach Afghanistan zurückzubringen. Also, ich würde es mal etwas zynisch formulieren: Eine flüchtige Herausforderung der besonderen Art!

Kassel: Wie verhält es sich denn mit den Menschen aus Afghanistan, die geduldet oder wie auch immer, aber ohne einen bewilligten Asylantrag hier leben? Sind die im Allgemeinen halbwegs vernünftig integriert?

Erös: In den 80er-Jahren kamen etwa 100.000 Afghanen nach Deutschland, während des sowjetisch-afghanischen Krieges. Diese 100.000, die sind ganz gut – ich sage es nur so – soziologisch ausgewertet worden. Von diesen 100.000 Afghanen, die seit den 80er-Jahren hier … Deren Kinder gehen zu 31 Prozent auf die Oberschule und machen zu 31 Prozent Abitur.

In Bayern hier, dort gehen zurzeit 28 Prozent der Kinder auf ein Gymnasium und machen Abitur. Unter den Migranten in Deutschland stellen die Afghanen, was Hartz-IV-Empfänger angeht – also auch ein, wenn man so will, Hinweis auf Integration oder auf Nicht-Integration –, stellen die Hartz-IV-Empfänger das Schlusslicht. Das heißt, die Afghanen sind fast alle in Arbeit. Und was die sogenannte Ausländerkriminalitätsstatistik angeht, stehen die Afghanen, die in Deutschland sind, als Schlusslicht da.

Also, es sind eigentlich die bestintegrierte oder eine der bestintegrierten Migrantenpopulationen, die wir in Deutschland haben. Ein weiteres Fragezeichen: Warum sollen wir dann ausgerechnet diejenigen nach Hause schicken? Denn die jetzt zu uns kommen, die neuen Flüchtlinge seit drei, vier, fünf Jahren oder vor allen Dingen den letzten Monaten, das sind ja nicht irgendwie Verbrecher oder Taliban, die wir dann möglichst schnell loswerden wollen und die Afghanistan entsprechend zurücknehmen müsste, das sind aktive, hoch motivierte vor allen Dingen junge Männer, die ihr Schicksal im eigenen Land mit einer Perspektivlosigkeit betrachten, zu Recht betrachten.

Die Situation in Afghanistan ist jetzt im Moment so schlimm wie die letzten 13 Jahre nicht mehr in fast allen Bereichen. Und die wollen wir jetzt zurückschicken, und das Ganze drei Wochen nach dem Luftschlag in Kundus. Sie wissen, dort hat ein amerikanisches Kampfflugzeug ein ziviles Lazarett der Ärzte ohne Grenzen bombardiert, da kamen 20 Afghanen ums Leben. Interessant ist, der Gouverneur – also der Ministerpräsident, würde man in Deutschland sagen – der Provinz Kundus, also wo dieser Schlag der amerikanischen Luftwaffe geschah – übrigens ein Kriegsverbrechen, wie wir es seit 1949 in der Form noch nicht erlebt haben, also das bewusste Bombardieren eines zivilen Krankenhauses, noch dazu durch die Luftwaffe eines Friedensnobelpreisträgers Obama auf ein Krankenhaus eines ebenfalls Nobelpreisträgers, Ärzte ohne Grenzen, also, das wird in die Geschichte eingehen, sage ich mal ganz zynisch –, der Gouverneur dieser Provinz hat in einem Interview vor wenigen Tagen erst mit einem deutschen Magazin gesagt: Wenn sich das jetzt beruhigt hat, werde ich ebenfalls mich auf den Weg nach Deutschland machen. Das zeigt so ein bisschen, wie in Afghanistan nicht nur die Stimmung, sondern die objektive Lage ist, die es für viele dort notwendig macht, ihr Land zu verlassen.

Kassel: Die Frage, ob Afghanistan ein sicheres Land ist, die kann man klar mit „nein, ist es nicht“ beantworten. Aber das ist ja nicht die gleiche Frage wie die, die sich juristisch stellt, nämlich: Ist es ein sicheres Herkunftsland?

Erös: Ich weiß nur eins, in Afghanistan kamen in den letzten Monaten mehr Zivilisten ums Leben als in den vergangenen 14 Jahren. In Afghanistan kamen doppelt so viel Polizisten in den letzten Monaten seit Jahresbeginn ums Leben als alle 14 Jahre vorher. Das heißt, die Sicherheitslage in Afghanistan im Jahr 2015 ist schlimmer als in all den Jahren, in denen die NATO – also ISAF, die Bundeswehr ist auch dabei – dort tätig war und für Sicherheit sorgen sollte. Und ausgerechnet jetzt entscheidet man in Deutschland de facto zumindest, das Land scheint doch nicht so unsicher zu sein, also, man kann die Leute wieder zurückschicken, die bis vor wenigen Tagen noch oder bis heute eigentlich noch Abschiebestopp aus den gleichen Gründen unterlagen.

Kassel: Reinhard Erös, Gründer und Leiter der Kinderhilfe Afghanistan und seit vielen Jahren mit seiner ganzen Familie in Afghanistan engagiert, über die Pläne der Bundesregierung, deutlich mehr Menschen als bisher nach Afghanistan zurückzuschicken. Herr Erös, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Erös: Ich bedanke mich, alles Gute nach Berlin!

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siehe auch: Pro Asyl

Bundesregierung will Abschiebungen nach Afghanistan forcieren

Wie es um die Sicherheitslage in Afghanistan steht, bewies jüngst die mehrtätige Besetzung der Stadt Kundus durch die Taliban. Dessen ungeachtet will die Bundesregierung verstärkt nach Afghanistan abschieben. Angesichts der hohen Flüchtlingszahlen will die Bundesregierung offenbar Handlungsfähigkeit beweisen – ohne Rücksicht auf die Realität und die Menschenrechte.

Angesichts der vielen Flüchtlinge, die in Griechenland anlanden und sich in elenden Trecks durch Südosteuropa Richtung Österreich und Deutschland bewegen, ist der Bundesregierung offenbar jedes abschreckende Signal recht: Medienberichten zufolge drängt sie darauf, durch ein Rücknahmeabkommen auf EU-Ebene Abschiebungen nach Afghanistan zu erleichtern und droht damit, den faktischen Abschiebestopp der letzten Jahre beenden zu wollen – trotz der sich laufend verschlechternden Sicherheitslage.

»Horror der Gewalt in Afghanistan«

Der Konflikt zwischen Regierungstruppen und Taliban hat in diesem Jahr mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert als in den Vorjahren, wie die UN-Afghanistan-Mission UNAMA berichtet. Zwischen Januar und Juni sind demnach 1592 Zivilisten getötet und 3329 weitere verletzt worden. Inzwischen gibt es mehr Opfer durch Kampfhandlungen am Boden als durch Attentate, Sprengsätze und ähnliches. „Die nackte Statistik ziviler Opfer spiegelt nicht in ausreichendem Maße den Horror der Gewalt in Afghanistan wieder“, hatte Unama-Chef Nicholas Haysom zur Halbjahresstatistik erklärt.

Die FAZ berichtete am 6.10.2015 unter dem Titel „Scherbenhaufen Kundus“, wie das Land seit zwei Jahren dem Abgrund entgegen schlittere. Erst kürzlich gelang es den Taliban, die Provinzhauptstadt Kundus zu erobern und mehrere Tage zu halten. Der Fall von Kundus wird von vielen Beobachtern als Wendepunkt für Afghanistan interpretiert, galten doch die größeren Städte den modernen Eliten trotz regelmäßiger Bombenanschläge noch immer als relativ sicher vor dem Zugriff der Taliban. Damit ist es offenbar vorbei. Dass die Bundesregierung vor diesem Hintergrund Abschiebungen nach Afghanistan forcieren will, ist aus menschenrechtlicher Sicht inakzeptabel.

Hohe Zahl geduldeter Afghanistan-Flüchtlinge

Ein großer Teil der afghanischen Asylsuchenden wird in Deutschland im Asylverfahren anerkannt. Bei den inhaltlich erfolgten Entscheidungen erhielten 2014 68 Prozent der Betroffenen einen Schutzstatus zugesprochen. Beachtet man, dass Verwaltungsgerichte häufig negative Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge korrigieren, dürfte die Schutzquote noch höher liegen.

Abschiebungen von abgelehnten afghanischen Asylsuchenden nach Afghanistan erfolgten in den letzten Jahren nur im einstelligen Bereich. Bei den Betroffenen handelte es sich in der Regel um Straftäter. Dennoch wurde die Fiktion aufrechterhalten, abgelehnte afghanische Asylsuchende könnten eines Tages im großen Stil abgeschoben werden. Insbesondere alleinstehenden Männern, so der Tenor der Rechtssprechungspraxis, könnte zugemutet werden, sich im relativ sicheren Kabul irgendwie durchzuschlagen.

Mit dieser Argumentation wird ein Teil der afghanischen Asylsuchenden mit einer Duldung abgespeist – die Betroffenen bleiben nicht selten jahrelang ohne sichere Lebensperspektive. PRO ASYL hat die Bundesinnenministerkonferenz in den letzten Jahren immer wieder gebeten, aus der aus guten Gründen zurückhaltenden Abschiebungspraxis aller Bundesländer die Konsequenz zu ziehen und lediglich geduldeten Afghanen einen Aufenthaltstitel zuzusprechen.

Abschiebung als Mittel der Abschreckung

Diesen Zustand der Nichtabschiebung bei gleichzeitiger Verweigerung eines Schutzstatus will die Bundesregierung offenbar jetzt beenden – zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Rund 7000 geduldete Afghanistan-Flüchtlinge könnten von den geplanten Abschiebungen betroffen sein. Das Schicksal der oft bereits seit Jahren in Deutschland lebenden Flüchtlinge soll nun offenbar zur Abschreckung jener missbraucht werden, die sich aktuell in Afghanistan zur Flucht entschließen.

In der Tat wollen sich viele Menschen in Afghanistan nach der Eroberung von Kundus und der ständig zunehmenden Gewalt nicht mehr mit den üblichen Verharmlosungen abspeisen lassen, die im Rahmen des ISAF-Einsatzes in Afghanistan seitens der westlichen Staaten immer wieder verkündet werden. Angesichts der sich verschärfenden Situation der Sicherheitslage und den Erfolgen der Taliban ist damit zu rechnen, dass die Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan weiter steigt.

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