29. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Diese EU ist nicht gefährdet, sie ist tot“ · Kategorien: Europa

Quelle: der Standard

von Rudolf Fußi

Wir erleben die Entdemokratisierung Europas und seiner Nationalstaaten in einem schier erschreckenden Ausmaß

Die EU ist tot. Die Eliten werden uns noch ein paar evolutionäre Wimpernschläge lang erklären, dass dem nicht so sei. Dass man das schon wieder hinkriege. Weil die EU und den Euro aufzugeben keine Option sei. Es ist aber nicht nur die EU tot. Die meisten Länder Europas sind es in Wahrheit doch auch.

Und das alles hat einen ziemlich banalen Grund: Die Politik hat auf allen Ebenen das Primat des Handelns sukzessive aufgegeben. Man ist zum Handlanger reiner Marktinteressen und deren Vertreter verkommen. Das hat im Übrigen per se nichts mit Marktwirtschaft zu tun. Nein, wir erleben die Entdemokratisierung Europas und seiner Nationalstaaten in einem schier erschreckenden Ausmaß. In funktionierenden Demokratien wäre es undenkbar, dass sich Finanz- und Industrieoligopole einen ganzen Kontinent, ja eine ganze Welt so herrichten, wie sie wollen.

Datenschutz? Wurscht. Alle Menschen werden überwacht? Wurscht. Die Anhäufung von Kapital und damit Macht in den Händen einzelner weniger Player? Wurscht. Ist halt so. Gottgewollt.

Nein, es ist nicht gottgewollt. Es sind die Taten der Täter, die uns diese Situation bescheren.

Neid statt Solidarität

Sie haben die Solidarität als Wert unserer Gesellschaften umgebracht und sie durch den Neid ersetzt. Früher haben Politiker, die Staatsinteresse über Eigen- und/oder Parteiinteresse gestellt haben, kräftig mit beiden Händen angepackt, um eine Gesellschaft weiterzuentwickeln. Um zu gestalten. Um zu tun.

Heute greift die herrschende Klasse auch mit beiden Händen zu – in unsere Taschen, um sich und die Ihren gut durch die Reise ans Ende Europas zu finanzieren. Sie treffen dabei auf ein willfähriges, verdummtes Volk, das achselzuckend, sediert durch die letzten Zuckungen wohlfahrtsstaatlicher Verfasstheit danebensteht und staunt. Oder gar nicht mitkriegt, was hier eigentlich passiert.

Der Karren ist völlig verfahren

Und das stimmt für die große Welt genauso wie für das kleine, feine Österreich. Es werden im Dauertakt Nebensächlichkeiten diskutiert, bei den großen Fragen, von einer Vision gar nicht zu sprechen, geht nichts weiter.

Es gibt ein paar Beispiele, die jedes für sich und geballt erst recht zeigen, dass der Karren völlig verfahren ist.

Mein Vater war Alleinverdiener, meine Mutter Hausfrau, wir sind drei Kinder. Er war Versicherungsdirektor in der Steiermark, hat gut verdient und zwei Häuser gebaut. Und das ging sich aus. Ein Einkommen, eine Familie mit fünf Personen. Heute undenkbar – und zwar (fast) egal wo.

Ich gehöre laut Statistik Austria zu den obersten fünf Prozent der Einkommenspyramide, kann mir aber keine 100-Quadratmeter-Wohnung innerhalb des Gürtels in Wien kaufen. Unleistbar. Nein, ich jammere nicht. Aber wenn ich es mir mit einem Vielfachen des Durchschnittseinkommens nicht leisten kann, wie sollen es sich dann die anderen 95 Prozent leisten können?

Würden Starbucks, Google, Amazon und Co „normal“ ihre Steuern bezahlen wie jedes KMU und jede Angestellte in Österreich und Europa auch, wären konservativ geschätzt 1.000.000.000.000 Euro mehr pro Jahr im Steuertöpflein. Ein tausend Milliarden Euro pro Jahr.

Da sprechen wir noch gar nicht von der Beseitigung von Privilegien wie Gruppenbesteuerung oder Schachtelprinzip. Oder gar von der Erhöhung vermögensbezogener Steuern.

Mein absolutes Lieblingsbeispiel übrigens: Ich bezahle pro Jahr weniger als 100 Euro Grundsteuer für mein Haus im Waldviertel. Das ist unfassbar lächerlich. Würde gerne 1.000 oder 2.000 Euro Grundsteuer bezahlen, dafür aber weniger Steuern auf mein Arbeitseinkommen. Selbst wenn ich dadurch mit plus/minus Null aussteigen würde, wäre es gerechter und würde dort Mehreinnahmen bringen, wo es notwendig ist.

Minizahlungen für Flüchtlingskrise

Jetzt stellt die EU also ein paar Millionen Euro für Griechenland zur Verfügung, wegen dieser ominösen Hotspots. Unser Außenminister freut sich, dass wir einen einstelligen Millionenbetrag für Syrien bereitstellen. Gleichzeit erklärt man uns, dass die EU gefährdet sei, weil die Flüchtlingskrise große Ausmaße angenommen habe. Aha.

Die Wahrheit ist viel einfacher: Wir haben Banken- und den Casinofinanzoligopolen tausende Milliarden in den Rachen geworfen. Alleine in Österreich kosten uns Hypo, Kommunalkredit und Co bist jetzt fast 20 Milliarden Euro. Wie lächerlich sind da diese Minizahlungen, wenn es um diese Flüchtlingskrise geht?

Primat des Handelns zurückholen

Dieses Europa will nicht. Seine Länder wollen nicht. Diese EU ist nicht gefährdet, sie ist tot.

Entweder erleben wir eine weitere Entdemokratisierung, einen Zerfall Europas, die unaufhaltsame Ökonomisierung aller Lebensbereiche, wenn man so will einen autoritären Kapitalismus, noch mehr Überwachung, weiter sinkende Kaufkraft, das Verschwinden des Mittelstandes, eine neofeudale Diktatur des „Geldadels“, oder: Aus diesen Trümmern entstehen neue, echte Demokratien, die sich das Primat des Handelns zurückholen und die Interessen des einen Prozents zurückdrängen.

Meine Hoffnung ist kaum noch vorhanden. An eine internationale Lösung dieser Probleme glaube ich nicht mehr, man steht einer Übermacht gegenüber, die unbesiegbar ist. „Think global, act local“ wäre ein Ansatz, der treffender und richtiger nicht sein könnte – in Wahrheit unsere letzte Hoffnung.

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