24. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für Regierungschef Borissov: „Ich kann Leute aus Afghanistan schwer als Flüchtlinge bezeichnen“ · Kategorien: Bulgarien · Tags: , ,

Quelle: Telepolis

von Frank Stier

Tod eines afghanischen Flüchtlings in Bulgarien führt zu Solidaritätsbekundungen mit dem Todeschützen, einem Grenzpolizisten

Unter einer Straßenbrücke in der Nähe des Dorfs Djulovo bei Sredets im Bezirk Burgas kommt es am Donnerstagabend, 15. Oktober 2015, nach 22 Uhr zu einer Begegnung zwischen bulgarischen Grenzpolizisten und afghanischen Flüchtlingen. Eine Kugel aus der Dienstwaffe eines Beamten tötet einen Afghanen.

Noch bevor die genauen Umstände des tragischen Tods eines Flüchtlings zweifelsfrei geklärt sind, entsteht in der bulgarischen Öffentlichkeit eine Solidaritätskampagne mit dem Todesschützen Valkan Hambarliev. Er sei für seinen Einsatz gegen „Grenzverletzer“ und zum „Schutz der bulgarischen Grenze“, dreißig Kilometer von ihr entfernt, mit einem staatlichen Orden auszuzeichnen, fordern hunderte Demonstranten und zigtausend Unterzeichner einer Unterschriftensammlung.

„Gestern Abend ist unsere Grenzpatrouille aus drei Beamten im Gebiet der Stadt Sredets auf ungefähr fünfzig Verletzer gestoßen. Als sie Handlungen zu ihrer Überprüfung unternehmen, stoßen sie auf Widerstand, in dessen Folge einer der Beamten von der Schusswaffe Gebrauch macht. Er schießt in die Luft, dabei kommt es nach seinen Angaben zu einem Querschläger. Ein Grenzverletzer wird verwundet und stirbt.“

So lautet die erste Schilderung des Zwischenfalls, die der Hauptsekretär des Innenministeriums Georgi Kostov am nächsten Morgen der Presse zu Protokoll gibt. Die „illegalen Immigranten“, alle zwischen zwanzig und dreißig Jahren und in sportlicher Form, seien unbewaffnet gewesen, hätten sich aber agressiv verhalten.

Auf ihrer Pressekonferenz erklärt die Staatsanwältin des Kreises Burgas KalinaTschapkanova, der Warnschuss in die Luft sei unter der Brücke gefallen und dort zum Querschläger geworden. „Die Untersuchung der Tatwaffe hat ergeben, dass sich in ihr sieben von acht möglichen Patronen befanden, es ist also ein Schuss gefallen“, sagt sie. Der Verletzte sei fünfundsechzig Meter von der Brücke medizinisch behandelt worden und dort gestorben. Bei den Festgenommenen seien keine persönlichen Dokumente gefunden worden, aber Mobiltelefone und eine Schusswaffe.

Es gibt Widersprüche in den Aussagen von Hauptsekretär Kostov und Staatsanwältin Tschapkanova etwa zur Frage, ob bei den Migranten Waffen gefunden wurden, doch auch eine Woche später haben diese keine Klärung durch die Behörden erfahren.

Am vergangenen Donnerstag reagierte Georgi Kostov auf die Journalistenfrage, wann die Ergebnisse der angekündigten ballistischen Untersuchung bekanntgegeben würden, gereizt. „Diese Frage ist nicht für mich“, beschied er. „Wir warten auf das unabhängige Gutachten der Staatsanwaltschaft. In Ermittlungsverfahren gibt es Fristen und an deren Ende steht eine offizielle Stellungnahme. Ich habe mit der Art und Weise zu tun, wie die Ermittlungen durchgeführt werden, nichts zu tun. Es ist sogar nicht korrekt, dass ich ihren Verlauf kommentiere, denn das könnte ihre Objektivität und Unabhängigkeit in Zweifel ziehen.“

Zeugen widersprechen der Darstellung der Polizei

Die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft der Öffentlichkeit seit einer Woche neuere Erkenntnisse zum Tod des Afghanen vorenthält und bisher keine Resultate der ballistischen Untersuchung bekannt gemacht hat, muss tatsächlich misstrauisch stimmen. Umso mehr als das Bulgarische Helsinki-Komitee (BHK) am 20. Oktober 2015 in einer Presseerklärung Aussagen afghanischer Augenzeugen publiziert hat, die in frappantem Widerspruch zur offiziell verlauteten Version des Tathergangs stehen.

Die BHK-Mitarbeiter konnten zwanzig der vierundfünfzig Afghanen im Flüchtlingsverteilzentrum Elhovo befragen. Nach ihren übereinstimmenden Aussagen soll es sich nicht um drei Polizisten, sondern um vier oder fünf gehandelt haben. Und von diesen hätten mindestens zwei mindestens vier Schüsse abgegeben. Entgegen der Aussage der ermittelnden Staatsanwältin hätten die Flüchtlinge persönliche Dokumente bei sich getragen.

Einen krassen Widerspruch gibt es zum Alter des Opfers. Noch am 16. Oktober 2015 berichteten Medien unter Berufung auf einen Anonymität wünschenden Polizisten, das Opfer sei 56 Jahre alt gewesen. Das Bulgarische Helsinki-Komitee will jedoch mit dem 17-jährigen Bruder des Opfers gesprochen haben, der ausgesagt habe, sein Bruder Ziahullah Vafa sei 19 Jahre alt gewesen.

„Die Polizei will im Moment nicht nur nicht mit uns reden, sie will mit gar niemandem reden. Sie stellt sich auf den Standpunkt, dass sie keine Aussagen macht, bevor die Untersuchung abgeschlossen ist“, antwortet BHK-Vorsitzender Krassimir Kanev auf telefonische Nachfrage, ob seine Organisation die Behörden mit den differierenden Aussagen der Afghanen zur Anzahl der Polizisten, der Menge der gefallenen Schüsse, dem Vorhandensein persönlicher Dokumente und dem Alter des Getöteten konfrontiert habe.

Den im Verteillager Elhovo internierten Flüchtlingen wird der Kontakt zu Journalisten verwehrt. Dies sei nicht rechtens, so Kanev, aber gängige Praxis in Bulgarien. „In einigen Tagen müssen sie freigelassen werden, dann steht dem Kontakt zu Journalisten nichts mehr imWege“, sagt der BHK-Chef. Für ihn ist eindeutig, dass der Gebrauch der Schusswaffe nicht gerechtfertigt war, da die Afghanen unbewaffnet gewesen seien und die Polizisten nicht bedroht hätten.

„Die Flüchtlinge haben ausgesagt, beim Eintreffen der Polizisten weggerannt zu sein, um sich der Festnahme zu entziehen. Als ein Schuss einen von ihnen getroffen habe, hätten sie sich alle auf den Boden gelegt“, berichtet Krassimir Kanev. Selbst wenn sie verbal agressiv gewesen wären, hätte das den Schusswaffeneinsatz nicht gerechtfertigt, da gemäß §2 der Europäischen Menschenrechtskonvention und nach bulgarischer Rechtslage Schusswaffeneinsatz nur bei absoluter Notwendigkeit zulässig sei.

Das Bulgarische Helsinki-Komitee will Ziahullah Vafas Bruder in einem gegegebenfalls bevorstehenden Gerichtsprozess um den Tod seines Bruders Rechtsbeistand gewähren, ihn notfalls bis zum Europäischen Menschengerichtshof begleiten. „Ob er das in Anspruch nimmt, muss sich zeigen. Im Moment befindet er sich noch in einem Schockzustand und wir wollen ihn zu nichts drängen“, sagt Kanev. Auf jeden Fall werde das BHK ihn und die anderen Afghanen bei ihren Asylverfahren unterstützen.

Dass es ein ordentliches Ermittlungsverfahren geben wird, glaubt Kanev nicht, das habe es in ähnlichen Fällen in Bulgarien bisher nie gegeben. Er sieht eine Parallele zu einem Vorfall aus dem Jahre 2000, als 93 Iraker festgenommen wurden und dabei ebenfalls einer durch einen angeblichen Querschläger zu Tode kam. Auch in diesem Falle ist der Schütze laut Krassimir Kanev nicht verurteilt worden.

Strafanzeige aus Deutschland wegen des Verdachts des Totschlags bzw. der fahrlässigen Tötung

Um sicherzustellen, dass der Ziahullah Vafas Tod in angemessener Weise aufgeklärt wird, hat der Vize-Präsident des Brandenburgischen Landtags Dieter Dombrowski beim bulgarischen Justizministerium Strafanzeige wegen des Verdachts des Totschlags bzw. der fahrlässigen Tötung gestellt.

Er habe dies nicht getan, weil er einen persönlichen Bezug zu Bulgarien hätte, sagt Dombrowski auf telefonische Nachfrage. „Ich war selber DDR-Flüchtling und weiß, wieviel Flüchtlinge an der DDR-Grenze bzw. an den Außengrenzen des Warschauer Pakts gewaltsam zu Tode gekommen sind. Deshalb bin ich für solche Fälle sensibel“, erklärt Dombrowski. Zwar zweifle er nicht generell an der Rechtsstaatlichkeit des EU-Mitglieds Bulgarien, gewisse Äußerungen der bulgarischen Behörden ließen es ihm aber ratsam erscheinen, durch eine Anzeige „darauf einzuwirken, dass der Vorgang so gründlich und unvoreingenommen untersucht wird, wie es sich nach EU-Standards gehört. Es soll diese Sache nicht unter den Teppich gekehrt werden können, nur weil es sich um einen Flüchtling handelt“, sagt der brandenburgische Landtagsvizepräsident.

Dabei spiele für ihn keine Rolle, dass er damit die politische Loyalität zu den bulgarischen Parteifreunden aus der Europäischen Volkspartei (EVP) verletzen könnte. „Auch wenn deutsche Politiker in Diktaturen reisen, werde ich nicht müde, sie dazu zu drängen, Menschenrechtsfragen anzusprechen und nicht etwa wegen wirtschaftlicher oder politischer Interessen zu verschweigen“.

Für die Mehrheit der bulgarischen Medien sind die Ungereimtheiten im Falle des getöteten Afghanen momentan kein Thema. Sie interessiert eher, wie es der vierundfünfzigköpfigen Gruppe gelingen konnte, von dem Nachtsicht ermöglichenden Infrarot-Überwachungssystem im Grenzgebiet unbemerkt dreißig Kilomter in Landesinnere zu gelangen. Medienberichten zufolge soll der Strom für das „integrierte Überwachungssystem“ abgeschaltet gewesen sein, weil dem Innenministerium das Geld für die Stromrechnungen fehle.

„Verurteilt nicht den Grenzpolizisten, er ist ein Held“

Breite Resonanz findet in bulgarischen Medien die Diskussion darüber, ob der Todesschütze strafrechtlich verfolgt oder mit einem Orden ausgezeichnet werden solle. Boschidar Dimintrov, einst führender Sozialist, dann Minister ohne Portefeuille im ersten Kabinett Boiko Borissov und jetzt amtierender Direktor des Nationalen Historischen Museums, hat eine Unterschriftenaktion zur Verleihung staatlicher Verdienstorden an die Grenzpatrouille von Sredets initiiert. „Die Unterschriftensammlung für eine Auszeichnung von Valkan Hambarliev und seinen Kolegen hat 22.000 Unterschriften von Bulgaren im Land ergeben. Es gibt aber auch ausgesprochen viele Unterschriften von Bulgaren im Ausland, etwa aus Berlin, London, Madrid, Rom und anderswo“, freut er sich.

Am Abend des 17. Oktobers 2015 haben sich vor der Bulgarischen Volksversammlung hunderte Bürger zu einer Solidaritätskundgebung mit Valkan Hambarliev versammelt. „Verurteilt nicht den Grenzpolizisten, er ist ein Held“, stand auf einem Transparent geschrieben, auf einem anderen: „Mobilisierung – befreien wir Bulgarien von ausländischer Okkupation!“.

Noch am Morgen des 16. Oktobers 2015 kommentierte Valeri Simeonov, Vorsitzender der nationalistischen Patriotischen Front (PF), den Vorfall im Frühstücksfernsehen von bTV. Die PF unterstützt das Kabinett von Ministerpräsident Boiko Borissov, ohne der Koalition anzugehören. Simeonov vertritt die Ansicht, bulgarische Grenzpolizisten müssten immer schießen, wenn jemand Grenzgebiet verletzt: „Das ist eine bulgarische Grenze. Das ist heiliges bulgarisches Territorium und niemand hat das Recht, es zu verletzen.“

Versuche, bei den bulgarischen Grenzpolizisten Schuldgefühle zu erwecken, seien zu unterbinden. „Es ist mehr als klar, dass es sich nicht um Flüchlinge handelt, die aus Kriegsgebieten fliehen, um ihr Leben zu retten. Es geht um Abenteuerer im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die bewaffnet sind. Sie versuchen sich überall einzunisten, wo es ein Sozialsystem gibt und sie Hilfe erhalten. Bulgarische Polizisten müssen immer schießen, wenn jemand ihre Anordnungen nicht befolgt“, so Simeonov.

Regierungschef Borissov hat die Nachricht vom Todesschuss bei Sredets in Brüssel erreicht. Er verließ das Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs zur Flüchtlingskrise vorzeitig. Heimgekehrt nach Sofia erklärte er, Bulgarien schütze seine Grenzen, wie es dazu verpflichtet sei. „Ich kann Leute aus Afghanistan schwer als Flüchtlinge bezeichnen. Wir haben Soldaten dort, um den Frieden zu schützen. Zwischen Syrien und Afghanistan gibt es einen großen Unterschied.“

Das Überschreiten der bulgarischen Grenze hält er für ein Verbrechen, in diesem Falle habe es zu einem tragischen Zwischenfall geführt. „Unsere Jungs haben ihre Arbeit getan, dafür sind sie weder zu bestrafen, noch mit Orden auszuzeichnen“, meint Boiko Borissov.

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