21. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Wenn das erste Baby erfriert, dann ist was los“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Quelle: Die Welt

Interview mit Klaus Bouillon

Von Hannelore Crolly, Saarbrücken

Morddrohungen wegen Verlegungen, Geringschätzung von Frauen und mangelnde Hygiene: Saarlands Innenminister kennt viele Probleme mit Flüchtlingen. Er sagt: Deutschland befindet sich im Notstand.

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Klaus Bouillon aus dem Saarland ist der vielleicht ungewöhnlichste Innenminister in Deutschland. Als sich die Flüchtlingskrise im Sommer verschärfte, verlegte der CDU-Politiker sein Büro für drei Wochen in das Asylheim Lebach. Inzwischen besucht Bouillon das Heim etwa dreimal pro Woche – nicht nur, um die Lage besser einschätzen zu können, sondern um vor Ort Entscheidungen zu treffen Foto: Alex Kraus

Die Welt: Herr Bouillon, in der Flüchtlingsdebatte haben Sie kürzlich kritisiert, es gebe zu viele Jammerlappen in dieser Republik. Wen meinen Sie?

Klaus Bouillon: Damit waren all die politisch Verantwortlichen gemeint, die zu viel schwätzen und zu wenig handeln. Viele starren zurzeit auf die Menschenströme wie das Kaninchen auf die Schlange. Das nützt aber nichts. Die Leute sind da, und sie gehen auch nicht mehr weg.

Die Welt: Geht der Vorwurf auch an die Adresse Angela Merkels?

Bouillon: Dass die Union gespalten ist, ist kein Geheimnis. Es gibt Merkel-Anhänger und Merkel-Gegner. Aber mir ist das zu einfach gestrickt. Frau Merkel hat die Leute im September reingelassen, unter dem Eindruck von den Bildern aus Budapest und dem toten Kind am Strand. Sie hat aber klar gesagt, dass das eine einmalige Situation ist. Das ist völlig untergegangen. Jetzt schieben ihr viele die Schuld in die Schuhe.

Wir sind alle in der Situation überrascht worden. Manche Regionen werden ja regelrecht überrollt oder haben es wegen ihrer Klientel schwer. Mit Flüchtlingen vom Westbalkan gibt es mehr Ärger als bei uns im saarländischen Lebach, wo fast alle aus Syrien kommen. Aber in Bremen, Hamburg oder Nordrhein-Westfalen ist jede dritte Turnhalle auf Dauer belegt. Da wird die Stimmung bald sehr, sehr schlecht werden. Außerdem steht der Winter vor der Tür. Wenn irgendwo das erste Baby erfriert, dann ist was los. Dann gibt es Zwangsbelegungen, und die Aggressionen werden eskalieren.

Die Welt: Ein beklemmender Ausblick.

Bouillon: Es hat keinen Sinn, die Lage schönzureden. Deutschland befindet sich seit zwei Monaten im Notstand. Wenn ein Land mit einer der besten Verwaltungen der Welt nicht mehr weiß, wie viele Flüchtlinge unterwegs sind und wo die alle herkommen, dann kann man das nicht mehr anders nennen als Notlage. Die Leute fahren wild hin und her, verschwinden nach Skandinavien oder Holland, werden von dort zurückgeschickt, halten sich nicht an die Spielregeln, fälschen Pässe, tauchen unter. Es gibt verschiedene Registrierungssysteme, nichts ist vernetzt. Es herrscht überall ein Riesenchaos.

Die Welt: Auch bei Ihnen im Saarland?

Bouillon: Wir haben die Lage im Griff. Jeder wird mit Fingerabdruck registriert, da kann keiner zweimal anklopfen. Den Rückstau von 2000 Personen haben wir mit verdreifachtem Personal abgebaut. Wer heute zu uns kommt, hat morgen seine Registrierung und drei Wochen später seinen Asylantrag. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, aus den drei Wochen ein bis zwei Tage zu machen. Und das schaffen wir auch.

Die Welt: Bereitet Ihnen der nahende Winter Sorgen?

Bouillon: Ich habe winterfeste Industriehallen bauen lassen, mit Heizung, Isolation, festem Boden, das heißt, die Landesaufnahme ist für den Winter gerüstet. Etagenbetten habe ich gleich am Anfang gebunkert. Zum Glück. Jetzt kostet alles viermal so viel. Und für die Kommunen haben wir schon im Dezember 2014 ein Sonderprogramm aufgelegt. Vermieter bekommen langfristig eine Festmiete deutlich über dem Marktschnitt, das gibt es nirgends sonst in Deutschland. Das greift so langsam. Der Winter ist geregelt.

Die Welt: Viele Einrichtungen leiden unter zunehmender Gewalt, es gibt immer öfter Polizeigroßeinsätze. Gilt das auch für das Aufnahmelager Lebach?

Bouillon: Bei uns war bisher, bis auf zwei, drei kleine Ausnahmen, alles ruhig. Es gibt schon mal Konflikte, wenn wir Leuten mitteilen, dass sie in ein anderes Lager wechseln müssen und sie nicht wollen. Die schreien und schlagen mit dem Kopf an die Sicherheitsscheibe, machen den Stinkefinger, drohen mit Mord, schreien, werfen sich auf den Boden.

Aber das lässt sich mit Sicherheitspersonal regeln. Die Polizei fährt regelmäßig Streife, und ich lasse eine Videoanlage montieren. Aber es gibt keinen Zaun, die Leute können sich frei bewegen, und trotzdem funktioniert es.

Die Welt: Wie erklären Sie sich das?

Bouillon: Ganz wichtig: Beschäftigungsmöglichkeiten für die Leute. Ich bekomme deshalb zwar Drohbriefe, aber wir bauen gerade für die Bewohner vom Lager Lebach eine Halle, wo sie auch im Winter Tischtennis oder Hallenfußball spielen können. Wir planen ein arabisches Café, wo die Männer Backgammon spielen und rauchen können, einen Bolzplatz, ein Frauenzelt oder Spielprogramme und Filme für die Kinder. Außerdem gibt es einen Kindergarten, in dem einheimische Kinder und Kinder von Asylbewerbern zusammen betreut werden.

Die Welt: Mit Animation gegen die Flüchtlingskrise?

Bouillon: Wer nur herumsitzt, wird aggressiv. Gut wäre auch, wenn die Leute arbeiten dürften, im Wald oder in unseren verlotterten Parks wäre genug zu tun. Aber einfach ist das alles trotzdem nicht. Wir versuchen, die Leute mit der Lagerreinigung zu beschäftigen, aber das funktioniert nicht. Viele haben einfach eine andere Lebensweise. Die Essensreste werden oft einfach aus dem Fenster geworfen.

Jeden Tag gibt es eine Komplettreinigung von eigenem Personal, aber nach zwei Stunden sieht alles wieder so aus wie vorher. Wir versuchen, mit Flugblättern zu erziehen. Aber weil ja alle drei, vier Wochen andere Menschen da sind, geht das immer wieder von vorn los. Da kommt schon einiges auf uns zu. Deutschland kann das alles hinkriegen, auch finanziell, dank der Steuereinnahmen. Aber dann müssen alle mitziehen.

Die Welt: Vor Kurzem kam heraus, dass Bewohner im Lebacher Flüchtlingsheim Hunderte von Zalando-Bestellungen nicht bezahlt haben.

Bouillon: Wenn Leute unehrlich sind, ärgert mich das. Es gibt auch Ladenbesitzer in Lebach, die überlegen zu schließen, weil die Diebstahlrate zu hoch ist. Wir werden auch Bundeswehrärzte für die Gesundheitschecks brauchen. Private Ärzte trauen sich manchmal nicht mehr, jemanden für die Abschiebung reisefähig zu schreiben. Denn dann kann es passieren, dass der ganze Clan vor der Tür steht und meckert.

Die Welt: Was bekommen Sie über kulturell bedingte Konflikte mit?

Bouillon: Das kommt natürlich auch vor. Da werden in Warteschlangen Leute weggeschubst, nach dem Motto: Ich Mann, du Frau. Bei der Essensausgabe weigern sich manche, Essen aus der Hand einer Frau anzunehmen, weil die unrein ist.

Die Welt: Wie wird da reagiert?

Bouillon: Ganz energisch: raus. Wer sich so benimmt, bekommt nichts zu essen. Aber für die Frauen ist es sehr unangenehm. Die müssen wir manchmal betreuen lassen.

Die Welt: Wie stellen Sie sich die Integration der Flüchtlinge vor?

Bouillon: Auf Dauer geht die Integration nur mit einem völlig neuen Denkansatz, ähnlich wie Ende der 80er-Jahre mit den Russlanddeutschen und vor 50 Jahren mit den Türken und Italienern. Das Deutschland, wie wir es kennen, wird völlig auf den Kopf gestellt. Fast alles, was wir bisher angenommen haben, ist Makulatur – in der Bildungsplanung, auf dem Arbeitsmarkt oder dem Städtebau. Nur ist das vielen noch nicht bewusst. De facto entstehen neue Städte und Dörfer. Das wird zu Problemen führen, wir brauchen völlig neue Landesplanungen.

Die Welt: Aber Planwirtschaft kann doch auch nicht die Lösung sein.

Bouillon: Wir müssen wie nach dem Krieg, als alles zerbombt war, am Reißbrett planen: Wo entsteht die Stadt A, wo entsteht die Stadt B? Wo schaffen wir neue Infrastruktur, und wo können wir andocken? Da muss sich die Bundesregierung mit den Landesbauministern zusammensetzen. Wir brauchen ein Planungsrecht, das uns erlaubt, den Kommunen den Bau von Wohnungen zu gestatten. Sonst sagt unter Umständen der eine oder andere Gemeinderat: Was, eine Siedlung für 100 Syrer? Wollen wir nicht.

Die Welt: Wie könnte der nächste Schritt aussehen?

Bouillon: Ich habe Bauträger beauftragt, mir Modelle für die Unterbringung von Einzelpersonen und Familien in verschiedenen Zusammensetzungen zu erstellen und durchzurechnen. In einfacher Holzschnellbauweise ist die Wirtschaft in der Lage, sehr schnell Tausende von Menschen unterzubringen. Solche Container sind in drei bis dreieinhalb Monaten gebaut. Das kann man überall in Deutschland machen. In neun Containern können 40 Leute menschenwürdig untergebracht werden.

Wir gehen von 10.000 Menschen im Saarland aus, die bei uns bleiben, macht 2250 Container, verteilt auf 52 Kommunen. Die Wirtschaft steht Gewehr bei Fuß, weil die Firmen wissen, dass sie Geld damit verdienen und den Menschen helfen können. Für zwei Millionen Menschen brauchen wir 500.000 Wohnungen. Hier ist doch Geld zu verdienen. Auf was warten wir? Fangen wir doch an.

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