17. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Naivität des Bösen“ · Kategorien: Deutschland, Lesetipps

Quelle: Zeit Online

Weder eine dichte Grenze noch ein hartes Wort der Kanzlerin werden die Flüchtlinge aufhalten.

Ein Kommentar von Bernd Ulrich

1. Im Herbst der Illusionen

Es ändert sich etwas in Flüchtlingsdeutschland. Der Sommer war geprägt von Hilfsbereitschaft und Idealismus, die immensen Probleme, die ein solcher Zustrom von Flüchtlingen unweigerlich bringen würde, wurden erst einmal nach hinten geschoben. Dabei hätte man es von Anfang an wissen können, die Politik hätte es wissen müssen: Flüchtlinge ziehen mehr Flüchtlinge nach sich, unter ihnen sind Islamisten, Terroristen und Kriminelle, nicht alle werden sich den Regeln fügen, die in Deutschland herrschen, es wird zu Engpässen kommen, zu Durcheinander, zu Gewalt. Viele wollten das nicht sehen, jetzt sehen es alle, gut so.

In diesem Herbst macht sich eine andere Stimmung breit. Doch handelt es sich dabei keineswegs um einen Wechsel von Idealismus zu Realismus, wie viele behaupten, im Gegenteil: Deutschland leidet in der Flüchtlingsfrage unter galoppierendem Realitätsverlust, die Illusionen sind zahlreicher geworden, als sie es im Sommer je waren. Und sie haben ihre Farbe gewechselt, sie tragen jetzt Schwarz: Die Angst davor, dass der Zustrom von jährlich einer Million zu 80 Millionen Deutschland überfordern könnte, bekommt mehr und mehr panische Züge, entsprechend schießen wirklichkeitsfremde Abgrenzungswünsche ins Kraut, Gewaltfantasien gegen Flüchtlinge machen sich breit. Und unter der falschen Fahne der „Realpolitik“ wird im Mittleren Osten wieder mehr in Illusionen investiert und mit Bomben außenpolitischer Voodoo betrieben.

Es wird Zeit, dass Amerikaner und Europäer, dass insbesondere auch die Deutschen sich von ihren Illusionen und Obsessionen befreien und sich ihren Ängsten stellen.

2. Die Araber wollen ihr Leben nicht mehr vergeuden

Zunächst mal wird in diesen hektischen Tagen verdrängt, dass es um weit mehr geht als um Flüchtlinge und um Syrien, sondern um einen epochalen Einschnitt, der sich seit zwei Jahrzehnten anbahnt. Jetzt, da Millionen Araber sich hierher aufgemacht haben, lässt sich eines nicht mehr übersehen: Im Mittleren Osten leben nicht etwa Ölquellen, dort leben Menschen. Und diese Menschen haben seit mindestens zwanzig Jahren mehr und mehr die Schnauze voll, sie wollen nicht länger ihr Leben lassen oder vergeuden, nicht in korrupten, heuchlerischen Diktaturen und nicht im Chaos. Das Ende ihrer Geduld hat drei verschiedene Ausdrucksformen angenommen: den islamistischen Terrorismus, den Versuch, in Aufständen die Diktatoren abzuschütteln, und eben die massenhafte Flucht. Selbstverständlich sind diese drei Spielarten von „Es reicht“ moralisch unterschiedlich zu bewerten, verleugnen lassen sie sich indes nicht. Darum ist es auch illusorisch, zu glauben, man könnte den Terrorismus ersticken oder den Flüchtlingsstrom stoppen, ohne den Menschen dort die Aussicht auf ein besseres Leben zu eröffnen.

Jetzt, im Angesicht der Massenflucht, wird auch klar, welchen Nutzen die Diktatoren des Mittleren Ostens für den Westen hatten und größtenteils immer noch haben. Diese Männer bewachen für uns die Ölquellen und halten uns die arabischen sowie afrikanischen Flüchtlinge vom Leib. Sie tun das, was westliche Politiker sich nicht trauen würden, sie schießen Menschen nieder und verschleppen sie in ihre Folterkeller, sie werfen Giftgas und bedrohen die Angehörigen derer, die fliehen. Das allerdings ist funktionierende Abschreckung.

3. Die schwächliche Idee von den starken Männern

Natürlich ist die Verführung groß, diesen Schutzwall aus blutrünstigen, scheinstabilen Diktaturen wieder aufrichten zu wollen. Der große Narr der westlichen Höfe, der zurzeit alle peinlichen Wahrheiten des kollektiven Unterbewusstseins ausspricht, Donald Trump also, hat auch dies klar gesagt: Mit Saddam und Gaddafi sind wir besser gefahren. Und Putin, der große Verführer aus dem Osten, singt dasselbe Lied: Kommt, wir zerstören gemeinsam alles, was sich in Syrien zwischen Assad und dem IS gebildet hat, dann stützen wir Assad oder einen seiner Verwandten, anschließend machen wir etwas Ähnliches mit Libyen, und der Flüchtlingsspuk hat ein Ende.

Das klingt, weil es so brutal und zynisch ist, zunächst mal nach der guten alten, schmutzigen Realpolitik, nur: Nicht alles, was schmutzig ist, ist deswegen schon Realpolitik. Auch die Intervention Russlands wird das Chaos in der Region nur noch vergrößern, schließlich tut Putin nur das, was Amerikaner und Europäer mit viel größerem Mitteleinsatz immer wieder versucht haben: den Mittleren Osten mit Bomben und Gewehren wieder zu einer Region zu machen, aus der nur Öl kommt, nicht aber Terror und Menschen.

Voodoo-Außenpolitik des Westens

Der Westen hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten Diktaturen gestützt und sie gestürzt, wenn sie zu viel Terror zuließen, er hat massiv interveniert und es wie in Syrien sein lassen, er hat die einen Islamisten gegen die anderen ausgespielt und die anderen gegen die einen – es hat alles nichts genützt. Auch das Gefuchtel dieser Monate wird schwerlich einen Fortschritt bringen. Beispielsweise auf eine marode extremistische Diktatur wie Saudi-Arabien zu setzen, die ihre äußere Stabilität nur um den Preis noch eine Weile aufrechterhalten kann, dass sie einen Krieg im Jemen führt, islamistische Ideologie exportiert und es offenbar zulässt, dass aus ihrer Mitte heraus die sunnitische Terrormiliz IS subventioniert wird. Auch ob Ägyptens Diktator Al-Sissi erfolgreich den Terrorismus unterdrückt oder ob seine Unterdrückung den Terrorismus vielmehr produziert, das weiß in Wahrheit niemand. An keiner Stelle ist es gelungen, den Teufelskreis aus Diktatur, Terrorismus, Rebellion und Flucht zu durchbrechen.

Was der Westen da treibt, ist mit wenigen Ausnahmen (wie dem Iran-Abkommen) Voodoo-Außenpolitik. Er reagiert auf die Flüchtlingskrise genauso konfus wie seinerzeit auf den 11. September. Wenn Obama dem türkischen Präsidenten Erdoğan die Hand reicht zum Kampf gegen die Flüchtlingsursache IS, nur damit der anschließend die Kurden bombardiert, die den IS bekämpfen, so zeugt das nicht von Realitätssinn, sondern von Planlosigkeit. Wenn das Ganze dann mit Putin wiederholt wird, der zum Dank die syrischen Rebellen bombardiert, wie soll man das dann nennen? Realpolitik? Panikpolitik!

Doch auch die westlichen Medien sind mittlerweile von Angst und Wunschdenken befallen. Seriöse Zeitungen titeln dieser Tage, die EU wolle die Ägäis „dichtmachen“ und verhandele mit der Türkei, auf dass Ankara den Flüchtlingsstrom „stoppt“. Das sind keine Nachrichten, das ist Science-Fiction. Tatsächlich will Erdoğan allenfalls ein neues Flüchtlingslager bauen lassen, aber nur wenn die EU im Gegenzug 500 000 Flüchtlinge aufnimmt. Nichts ist dicht, nichts wird gestoppt.

Es geht nur um Verlangsamung und die Rückgewinnung von Kontrolle, das ist gut, ja zwingend, aber es ändert nichts an der Grundrichtung der Geschichte.

Ohnehin verdankt sich das, was im Mittleren Osten unter westlicher Realpolitik firmiert, im Nachhinein gesehen nur einer militärischen und ökonomischen Übermacht, bei der die eine verfehlte Großstrategie mit großem Tamtam durch die nächste kollabierende Dummheit ersetzt wurde. Aber jetzt sind alle Varianten durch.

Nur eines haben die USA und Europa mit Arabern und Persern noch nicht probiert: sie zu behandeln wie Menschen. Die Versuche, in Afghanistan und im Irak mit militärischer Gewalt die Demokratie einzuführen, waren nicht mehr als ein Kollateralnutzen eigensüchtiger Interventionen und sind gescheitert. Barack Obamas ergreifender Kairoer Rede an die Muslime im Jahr 2009 folgten keine nachhaltigen Taten.

Und jetzt machen sich die Menschen dort auf, um die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Verzweiflung und Hoffnung gewissermaßen zu Fuß zu überwinden. Sie treten damit zu uns in eine neue Nachbarschaftlichkeit, sie rücken uns auf den Pelz. Das ist ein epochaler Prozess.

Und es ist ein Schock.

4. Hoffentlich ist wenigstens die Kanzlerin schuld

Niemand hat die Deutschen darauf vorbereitet, dass arabische Aufstände, arabischer Exodus und arabisch-persische Autoaggression zu einem Thema würden, das sie direkt – physisch, mental, finanziell – angeht, dass diese Probleme gewissermaßen zu uns ins Gästezimmer ziehen. Auch logistisch hat sich das Land nicht darauf vorbereitet, obwohl seit Anfang des Jahres klar war, dass sich Größeres anbahnt. Das ist ein schlimmes Versäumnis, auch eines von Angela Merkel. Vorwerfen kann man ihr ebenfalls, dass sie nach der Entscheidung vom 6. September zwar standhaft ihre Sätze wiederholt, aber dem „Wir schaffen das“ wenig an Erklärung hinzugefügt hat.

Nicht zuletzt wegen dieses Vakuums hat das psychologisch geschickte Angebot von Horst Seehofer an den Angsthasen in den Deutschen gefruchtet, das epochale Ereignis zu einem persönlichen Versagen der Kanzlerin umzudefinieren. Schließlich ermöglicht die Fantasie, Mutti habe bloß Mist gebaut, eine noch angenehmere Illusion: Wenn Merkel ihren Kurs korrigiert, dann geht das Problem wieder weg.

Nüchtern betrachtet hätte wahrscheinlich sogar Seehofer selbst dieselbe Entscheidung getroffen, wenn er, was Gott verhüten möge, Kanzler wäre. Die Kanzlerin jedenfalls hat Anfang September nicht Geschichte gemacht, das haben die Flüchtlinge getan. Sie hat nur Geschichte erkannt, was auch nicht wenig ist.

Nun kann man lange darüber streiten, wie viele Flüchtlinge weniger nach Deutschland gekommen wären, wenn die Kanzlerin sich ein wenig unfreundlicher gezeigt hätte. Nur, dass sich nun Menschen, die vor Assad oder dem IS weglaufen, die in notdürftigen Massenlagern sitzen und sich vor dem Winter fürchten und die nicht zuletzt von ihren bereits in Deutschland angekommenen Verwandten per Handy um die relativ anständige Behandlung hier wissen, durch ein böses Wort der Kanzlerin in nennenswerter Zahl abschrecken ließen – diese Vorstellung ist naiv, eine Flucht vor der Realität.

Man muss auch am gesunden machtpolitischen Menschenverstand derer zweifeln, die der Kanzlerin eine „Umkehr“ empfehlen, denn egal, wie sie es formuliert, es würde als Resignation empfunden und das baldige Ende ihrer Kanzlerschaft einleiten. Und, was schlimmer ist, sie würde eine Entmutigungsspirale in Gang setzen, bei der am Ende auch deutlich weniger Flüchtlinge als Überlastung empfunden würden.

Noch etwas zum Realismus: Man kann eine Million Flüchtlinge, die schon hier sind, nicht abschreckend behandeln, um weiteren Zuzug zu entmutigen, und sie zugleich integrieren. Wer abschreckt, schafft unversöhnliche Parallelgesellschaften. Es gibt auch eine Naivität des Bösen.

Zuviel des Guten, zuviel des Bösen?

5. Zäune und andere Gewaltfantasien

Viktor Orbán glaubt an Zäune, das kann er auch. Denn der seine hält zurzeit tatsächlich Flüchtlinge ab. Weil die einfach dran vorbeigehen, sie wollten eh nicht zu ihm, sondern nach Österreich, Deutschland oder Schweden. Würden die genannten Länder allerdings ebenfalls Zäune bauen, womöglich sogar höhere als der Ungar, dann würde sein Zaun schneller eingedrückt, als ein Syrer eine SMS schicken kann.

Es sei denn, die ungarische Regierung würde genügend Soldaten dorthin abkommandieren, die auch bereit wären, von ihren Schusswaffen Gebrauch zu machen. Orbán selbst hat diesen Gedanken schon formuliert. Aber auch die österreichische Innenministerin Mikl-Leitner drohte bereits ein „strengeres Vorgehen an den Grenzen“ an, „das heißt auch mit Gewalteinsatz“. Und in dieser Woche schrieb ein Leitartikler der FAZ, es sei möglich, „dass Europa aus Verzweiflung zur Sicherung seiner Seegrenzen im östlichen Mittelmeer noch zu letzten, militärischen Mitteln greift“. Deutsche Soldaten gegen unbewaffnete Familien aus Syrien? Das eben ist die grausame Wahrheit: Wer eine Mauer nicht zur Kontrolle, sondern zur Abschottung errichtet, der braucht zu der Mauer einen Schießbefehl. Man sieht, wie schnell aus dem Zuviel des Guten ein Zuviel des Bösen werden kann.

Natürlich, das sind Gewaltfantasien, so wird es kaum kommen, weil die dann entstehenden Bilder die Deutschen mehr überfordern würden als alle überfüllten Turnhallen zusammen.

Dennoch zeigen diese Albträumereien, wo die Angst landet, wenn der Wirklichkeitssinn verloren geht. Gibt man ihr nach, dann wird die ganze Gesellschaft davon vergiftet. Denn die Fantasie einer dichten Grenze muss diejenigen, die da abgewehrt werden sollen, umdeuten – von Opfern zu Invasoren, von Mitmenschen zu Feinden. Lassen wir auch hier noch mal den Hofnarren die Wahrheit sagen: Die Mexikaner „bringen Drogen. Sie bringen Verbrechen. Sie sind Vergewaltiger.“ Das sagt Donald Trump, der aus dem wenig effizienten Zaun an der mexikanischen Grenze eine unüberwindliche Mauer machen will. Starke Mauern brauchen eine starke, aggressive Legende.

So weit sind wir in Deutschland noch lange nicht, allerdings hat der überforderte Innenminister jüngst einen Schritt in diese Richtung getan, als er in einem Interview mit dem heute journal einseitig den verwöhnten, gewaltbereiten, Taxi fahrenden Flüchtling an die Wand malte.

Anders als die blutige Illusion einer dichten Grenze ist der Wunsch nach Kontrolle absolut nachvollziehbar und auch in gewissem Maße realisierbar. Natürlich möchte man wissen, wer da kommt, im Zweifel auch Kriminelle oder Terroristen herausfischen können. Doch wer sich nicht der Gewaltlogik der dichten Grenze hingeben will, der wird rasch sehen: Dichte Grenzen schaffen nicht mehr Kontrolle, sondern weniger, sie treiben die Menschen in die Illegalität. Nur wenn Flüchtlinge mehrheitlich auf eine Willkommenskultur, eine Verwaltung und einen Verteilungsschlüssel treffen, die sie leidlich lebbar finden, werden sie sich auch registrieren lassen.

6. Ist Deutschland überfordert?

Weil Europa und Deutschland sich nicht auf die Flüchtlinge vorbereitet haben, fühlt man sich nun allenthalben überfordert. Es gibt bisher keine funktionierende Flüchtlingsinfrastruktur, zu wenige Wohnungen, Sozialarbeiter, Polizisten, Ärzte, Lehrer. Stattdessen werden die Versäumnisse der Politik auf dem Rücken der Freiwilligen, der städtischen Beamten und der Flüchtlinge ausgetragen. Diese reale, politisch verschuldete Überforderung verbindet sich zurzeit mit der apokalyptischen Vorstellung eines unendlichen, nie versiegenden Flüchtlingsstromes. Tatsächlich ist nicht leicht zu sagen, wie viele Menschen noch kommen. Eines jedoch ist gewiss: So viele Fehler wie in diesem Jahr werden wohl kaum noch einmal gemacht. Die EU hat das Problem zunächst brutal verdrängt, der Flüchtlingsgipfel im April erging sich in Symbolhandlungen, viele Syrer verloren derweil jede Hoffnung auf Besserung, und in den jordanischen, libanesischen und türkischen Flüchtlingscamps wurden obendrein die Essensrationen runtergefahren, weil ihnen das Geld ausging; schließlich verwandelte der anschwellende Flüchtlingsstrom die EU binnen weniger Tage in einen unsolidarischen Hühnerhaufen. Schlechter kann man es nicht machen, 2016 kann nur besser werden.

Ansonsten helfen bei der Frage, wann Überforderung beginnt, am ehesten Vergleiche. Nicht mit Jordanien oder dem Libanon, das sind keine hochkomplexen Industriegesellschaften. Auch der Vergleich mit unserer eigenen Vergangenheit, mit den ersten Nachkriegsjahren trägt nicht ganz, weil die zwölf Millionen Flüchtlinge, die damals binnen kürzester Zeit kamen, auf eine Not gewohnte, geschlagene deutsche Gesellschaft trafen.

Hilfreicher ist vielleicht der Blick auf das winzige Israel mit seinen sechs Millionen Einwohnern. Die Israelis haben binnen eines Jahrzehnts eine Million russische, ukrainische, georgische und zentralasiatische – also recht kulturfremde – Juden aufgenommen, das sind 14 Prozent. Und Israel hat es verkraftet. Bezogen auf Deutschland, wären das elf Millionen für eine Dekade, also etwas mehr als eine Million pro Jahr. Ist das zu viel für uns? Jedenfalls sollte man nicht schon nach der ersten Million den Notstand ausrufen.

7. Von wegen moralischer Imperialismus!

Auch siebzig Jahre nach dem Krieg lässt es sich die politische Klasse in Deutschland nicht nehmen, jedes größere reale Problem zur identitären Selbstbespiegelung zu nutzen. So geschieht es nun auch beim Thema Flüchtlinge. Der erste Anstoß kam von außen, von Viktor Orbán, der den Deutschen „moralischen Imperialismus“ vorwarf. Seine Bemerkung wurde von Horst Seehofer sogleich durch ein süffisantes Lächeln ratifiziert und von diversen Intellektuellen, auch von Heinrich August Winkler, aufgegriffen. Orbáns Vorwurf und Winklers Selbstbezichtigung anderer verdrehen grotesk die Tatsachen. Denn in Wirklichkeit haben ja nicht die Deutschen anderen Europäern Flüchtlinge aufgezwungen, vielmehr wurden sie von den meisten europäischen Nachbarn im Stich gelassen. Zudem haben es sich die Deutschen nicht ausgesucht, am Ende der Balkanroute zu liegen, gern hätten sie mit den Franzosen schnell mal die geografische Lage getauscht.

Aber man fragt sich auch, wo die Vertreter dieser Imperialismus-These während der Griechenlandkrise waren, als die Deutschen von allen Seiten als kaltherzige Fast-Nazis beschimpft wurden, weil sie an ihre Hilfe Bedingungen knüpften. Man mag sich ja gar nicht ausmalen, was passiert wäre, hätten die Deutschen sich seit Anfang September auch nur annähernd ähnlich verhalten wie die Ungarn oder auch bloß wie die Franzosen in Calais. Die Hölle wäre losgebrochen. Ein wenig moralischer zu sein als andere ist darum für Deutsche derzeit schlichtweg ein Gebot politischer Weitsicht, mit Imperialismus hat das nichts, mit Pragmatismus aber sehr viel zu tun.

Und um es mal deutlich zu sagen: Wie lange wollen ältere Deutsche noch ihre Ticks und Projektionen aus dem vergangenen Jahrhundert an jungen Leuten austoben, die einfach nur auf Bahnhöfen stehen, um zu helfen – weil sie Menschen, nicht weil sie Deutsche sind? Es ist schon ein merkwürdiges christliches Abendland, in dem man sich fürs Helfen pathologisieren lassen muss. Ist nicht vielleicht doch Mitleidlosigkeit eine Krankheit?

Versöhnung zwischen Abend- und Morgenland

8. Selbstverständlich ist das Abendland in Gefahr

Auf das Grundgesetz gibt es keinen Rabatt, weder auf das geschriebene noch auf das gelebte, so viel steht fest. Sicher ist außerdem, dass diese scheinbare Selbstverständlichkeit angesichts von mehreren Millionen überwiegend islamisch und patriarchalisch geprägten Flüchtlingen immer neu erkämpft werden muss. Allerdings scheint es eher unwahrscheinlich, dass ein Zwanzigstel oder ein Zehntel der Bevölkerung in der Lage wäre, unsere Kultur genetisch zu verändern. Viel größer ist die Gefahr, dass Deutschland und die EU sich ihren Abgrenzungs- und Gewaltfantasien hingeben. Ein aggressiver Nationalismus ist derzeit auf dem Vormarsch, er kommt von außen, aus Russland oder der Türkei, er dominiert in einigen osteuropäischen Ländern und grassiert bei radikalen linken und rechten Parteien in der gesamten EU. Dies, der aggressive Nationalismus, die Ausgrenzung und innere Deliberalisierung sind die handfesten Bedrohungen des Abendlandes. Denn all das liegt leider tatsächlich in den europäischen Genen.

In der Flüchtlingskrise schlummert jedoch noch eine tiefere Herausforderung für das Abendland, sei es in seiner christlichen, sei es in seiner säkularisierten Gestalt. Man kann als Katheder-Christ natürlich sagen, dass der Feminismus die Familie gefährde – so lange, bis die eigene Frau einem einen Vogel zeigt; man kann sagen, dass Homosexualität etwas sehr Problematisches sei – so lange, bis der eigene Sohn schwul ist. Man kann auch sagen, diese Muslime da unten in Arabien seien kulturfremd und selbst schuld an ihrem elenden Leben – so lange, bis sie vor der Tür stehen. Christentum ist, was man den Menschen ins Gesicht sagen kann. Die Humanisierung – Christen würden sagen, das Zu-sich-selbst-Finden – des Christentums durch Begegnung erreicht jetzt also eine neue Stufe. Es wird sie erklimmen oder schweren Schaden nehmen. Eine Frage noch an die Christen und die Sozialdemokraten: An die wunderbare Brotvermehrung, daran, dass Liebe und Solidarität Knappheit überwinden können, daran glaubt ihr noch, oder?

9. Das große Versöhnungswerk

Einer der wichtigsten Gründe dafür, dass der Mittlere Osten nicht vorankommt, ist seine ausgeprägte Ausredenkultur. Immer ist der Westen schuld, der Kolonialismus, der Imperialismus, Amerika, Israel, die EU. Das Argument vergiftet die Araber und Perser, lähmt ihren Ehrgeiz, deswegen müsste es dort eigentlich gesetzlich verboten sein.

Für den Westen hingegen wäre ein Schuldeingeständnis eine Befreiung, weniger eine moralische als eine geistige. Denn es ist ja nicht wahr, was hier gern gedacht wird, dass der Westen dort unten alles versucht habe und denen einfach nicht zu helfen sei. Nein, der Westen hat in einer Mischung aus Nachlässigkeit und Egoismus, aus Blindheit und Arroganz im Mittleren Osten in den letzten hundert Jahren Tausende Fehler gemacht und Verbrechen begangen, bis heute. Noch nie haben Amerikaner und Europäer wirklich Fantasie, Geld und Geduld in die Frage investiert, was sie beitragen können, um einen nachhaltig menschenwürdigen arabischen Raum zu schaffen, das ist jetzt Neuland. Und da die westlichen Demokratien stark sind, intellektuell wie ökonomisch, kann man zuversichtlich sein, dass ihnen zu dem Thema spätestens ab der dritten Flüchtlingsmillion etwas Gescheites einfällt.

Immerhin hat nun das bisher größte Versöhnungswerk zwischen Christen und Muslimen begonnen, mithin zwischen Abend- und Morgenland, denn genau das ist, richtig besehen, die Aufnahme von Millionen Muslimen, die in Not geraten sind. Vielleicht, hoffentlich ein Neuanfang von historischem Rang.

Und sonst? Die Staaten, die sich Briten, Franzosen und Amerikaner für den Mittleren Osten zurechtgeschnitten haben, sind so nur durch eine eiserne Faust zusammenzuhalten, Syrien und der Irak womöglich nicht einmal mehr dadurch. Es wäre also gut, über einen föderalen Mittleren Osten nachzudenken.

Aber das ist nur ein Beispiel. Zunächst einmal kommt es darauf an, dass der Westen endlich realistisch wird, sich von seinen Beengungen und Besessenheiten befreit. Denn: „Eine Grenze erkennen heißt sie überschreiten“ (frei nach Baruch de Spinoza).

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