17. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „EU-Gipfel zur Flüchtlingskrise: Ein Deal mit Ankara rückt näher“ · Kategorien: Europa, Türkei

Quelle: NZZ

Die EU-Kommission hat mit der Türkei einen Aktionsplan zur Kooperation in der Flüchtlingskrise ausgehandelt. Die EU-Regierungschefs zeigen sich grundsätzlich offen, Ankaras Forderungen zu erfüllen.

von Niklaus Nuspliger, Brüssel

Unaufhörlich hatte EU-Rats-Präsident Donald Tusk in den letzten Wochen gemahnt, die EU müsse als Reaktion auf die Flüchtlingskrise die Aussengrenzen besser sichern und den Zustrom von Flüchtlingen eindämmen. In der Nacht auf Freitag zeigte sich Tusk in Brüssel nun «vorsichtig optimistisch» und sprach von einem «Schritt in die richtige Richtung». Bei ihrem Gipfel hatten die EU-Regierungschefs soeben einen Aktionsplan zur Kooperation zwischen der EU und der Türkei in der Flüchtlingskrise «begrüsst» , den der erste Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, mit der türkischen Regierung in der Nacht auf Donnerstag in Ankara ausgehandelt hatte.

Reise nach Europa unterbinden

Der Aktionsplan verfolgt aus EU-Sicht das Ziel, die Bedingungen für Flüchtlinge in der Türkei zu verbessern und deren Weiterreise nach Europa zu unterbinden. Konkret geht es um zusätzliche Anstrengungen der Türkei bei der Unterbringung und Integration der Flüchtlinge, aber auch um die Schlepper-Bekämpfung und um gemeinsame Massnahmen zur effizienteren Sicherung der Seegrenze zwischen der Türkei und Griechenland.

Im Gegenzug will die EU der Türkei finanziell unter die Arme greifen – in erster Linie, um zusätzliche Flüchtlingslager zu errichten. Die direkte Aufnahme von Flüchtlingen von der Türkei in die EU ist nicht Teil des Deals. Doch nach Angaben aus EU-Kreisen ist sich Ankara bewusst, dass die EU-Kommission im Frühjahr 2016 einen Vorschlag für die Neuansiedlung («resettlement») von Flüchtlingen vorlegen will, über den auch eine nicht unerhebliche Zahl von Flüchtlingen aus der Türkei nach Europa gebracht werden könnten.

Rasche Visa-Liberalisierung

Die Verzweiflung der EU-Regierungschefs in der Flüchtlingskrise ist derart gross, dass sie bereit zu sein scheinen, Erdogans Forderungen weit entgegenzukommen. So verlangt die türkische Regierung laut EU-Diplomaten eine Summe von drei Milliarden Euro – die EU-Kommission hatte eigentlich bloss eine Milliarde angeboten. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die den von der Kommission ausgehandelten Deal ausdrücklich unterstützte, erklärte, die von Ankara geforderte Summe sei im vertretbaren Rahmen. Die Türkei habe für die Aufnahme von über 2 Millionen syrischer Kriegsflüchtlinge rund 7 Milliarden Euro ausgegeben, weshalb sich Europa an diesen Lasten beteiligen solle. Den Löwenanteil müssten die EU-Staaten aus den nationalen Haushalten beisteuern. Der finanzielle Beitrag wird aber Gegenstand von weiteren Verhandlungen mit Ankara sein.

In ihren Schlussfolgerungen erklären sich die Regierungschefs auch bereit, den laufenden Prozess für die Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger zu beschleunigen, sofern der Aktionsplan zur Migration erfolgreich umgesetzt wird. Eine Bestandesaufnahme will die EU im Frühling 2016 vornehmen, die Türkei fordert den Abschluss des Prozesses bis Ende nächsten Jahres. EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker betonte, das nur der Prozess beschleunigt, nicht aber die materiellen Kriterien für die Visa-Liberalisierung gelockert würden. Dennoch ist ein solches Entgegenkommen für viele EU-Staaten innenpolitisch überaus heikel, auch wenn es zunächst wohl nur Studenten und Geschäftsreisende betreffen würde. Der französische Präsident François Hollande hatte vor dem Gipfel vor einer überhasteten Lockerung der Visa-Bestimmungen gewarnt.

Beitrittsverhandlungen beleben

Absehbar ist, dass die EU-Staaten die Türkei auch auf eine neue Liste der sicheren Herkunftsstaaten aufnehmen, deren Staatsangehörige in der EU in aller Regel keinen Anspruch auf Asyl haben. Dies würde der Türkei ein gutes Zeugnis bezüglich Menschenrechten ausstellen, stösst aber bei Nichtregierungsorganisationen auf Kritik, zumal in der EU jedes vierte Asyl-Gesuch aus der Türkei angenommen wird. In ihren Beschlüssen zeigen sich die Regierungschefs auch bereit, den faktisch eingefrorenen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei neues Leben einzuhauchen. Wie sie das genau tun wollen, lassen sie aber offen. Ankara fordert die konkrete Eröffnung mehrere neuer Verhandlungskapitel, was nicht nur für Zypern eine überaus bittere Pille darstellen würde.

Merkel, die am Sonntag für ein Treffen mit Erdogan in die Türkei reist, räumte ein, dass es zur Vereinbarung mit Ankara noch zu konkretisieren gelte, wie verlässlich die gegenseitigen Zusagen seien. Zudem müsse ein genauer Zeitplan festgelegt werden. Dass es noch Stolpersteine zu überwinden gibt, tönte auch Tusk an, der erklärte, ein Deal mit der Türkei sei nur dann sinnvoll, wenn er effektiv zu einer Reduktion der Flüchtlingsströme führe. Dennoch verhilft die EU dem zunehmend autoritär agierenden Erdogan mit ihrer Bereitschaft zu einer Übereinkunft kurz vor den anstehenden Wahlen zu einem innenpolitischen Prestigeerfolg.

Umstrittene Umsiedlungen

Die EU-Regierungschefs setzen für die Verbesserung des Grenzschutzes auch auf eigene Anstrengungen . So soll die EU-Grenzschutzagentur Frontex mehr operationelle Kompetenzen erhalten. Allerdings zieren sich die EU-Staaten bereits heute, Frontex genügend Personal zur Verfügung zu stellen. Tusk kündigte nun an, dass in den kommenden Wochen Hunderte von Grenzwächtern mobilisiert würden. Die Regierungschefs versicherten, ihren Worten Taten folgen zu lassen und ihre finanziellen Zusagen für die Hilfe vor Ort und für unterfinanzierte Uno-Organisationen nun auch umzusetzen.

Erwartungsgemäss noch keine Entscheide fielen am EU-Gipfel zur heiklen Forderung nach der Schaffung eines europäischen Grenzwachtkorps. Auch zum geplanten permanenten Mechanismus zur Umsiedlung von Flüchtlingen aus akut überlasteten EU-Staaten hielten die Regierungschefs bloss fest, dass sie darauf zurückkommen wollten, wobei der Widerstand aus osteuropäischen Staaten hierzu nach wie vor immens ist.

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