14. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Die Türkei, Weltmeister der Flüchtlingshilfe“ · Kategorien: Türkei · Tags: ,

Quelle: Gruss vom Bosporus

Blog des Türkei-Korrspondenten der Berliner Zeitung Frank Nordhausen

Meine Sommerferien verbrachte ich auch dieses Jahr wie immer in Deutschland. Zwei Wochen im Paradies, so erscheint mir Berlin. Nicht nur, weil ich dort geboren bin und die Stadt liebe, sondern auch wegen der allgemeinen Umstände. Die Leute haben Arbeit oder werden vom Staat versorgt, das öffentliche Nahverkehrssystem ist perfekt, die Krankenversorgung herausragend.

Berlin ist sicher, geordnet, nicht überlaufen und vergleichsweise billig. Noch immer kostet der Cappuccino in meinem Lieblingscafé Barrista im Prenzlauer Berg weniger als hier in Cihangir. Vom Bierpreis wollen wir gar nicht anfangen. Und wenn die Leute sich unterhalten, geht es um den neuesten Tatortkommissar, Beziehungen oder Urlaubspläne. Kurz gesagt: Den meisten Deutschen geht’s richtig gut.

In diese Idylle platzen nun Flüchtlinge aus den politischen und wirtschaftlichen Krisengebieten, und plötzlich scheint eines der reichsten und am besten geordneten Länder der Welt hoffnungslos überfordert zu sein. Vom „Panikthema“ der Deutschen schreibt Georg Diez auf Spiegel Online. Ich lese Berichte aus Dresden oder Bayern, in denen von Zeltlagern die Rede ist und von Zuständen schlimmer als im Kongo. Wie ist das möglich in einem der reichsten und besten geordneten Länder der Welt? Das Problem wird noch deutlicher, wenn man es mit der Lage in der Türkei vergleicht.

Kein anderes Land nimmt mehr Flüchtlinge auf

Die Türkei und Deutschland haben etwa die gleiche Einwohnerzahl (77 bzw. 80,6 Millionen). In Deutschland wurden im letzten Jahr rund 202.800 Asylanträge gestellt, davon 173.000 Erstanträge. Das waren in absoluten Zahlen die weitaus meisten in Europa (als nächste Länder kommen Schweden mit 81.300 Anträgen und Italien mit 64.600). Setzt man die Antragszahlen jedoch ins Verhältnis zur Bevölkerungsgröße, liegt Deutschland in Europa auf Platz sechs nach Schweden, Ungarn, Österreich, Malta und Dänemark. Weltweit kommt die Bundesrepublik laut UNO-Hilfswerk UNHCR sogar erst an 20. Stelle.

In diesem Jahr wird mit 400.000 bis 450.000 Erstanträgen auf Asyl gerechnet, das wären doppelt so viele wie im vergangenen Jahr, wobei allerdings mehr als die Hälfte auf Menschen aus Balkanländern entfallen, die ganz überwiegend nicht aus politischen, sondern wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen und vermutlich wieder zurückgeschickt werden. Für sie muss man schnellstens angemessene Regelungen finden, wie sie mit der Deklarierung sicherer Herkunftsstaaten etwas spät im Gespräch sind; es müssen aber echte Verfolgte wie beispielsweise Roma aus Ungarn auch weiter anerkannt werden können. Doch in ganz Europa sind bisher nur rund 130.000 syrische Flüchtlinge angekommen, die in der Regel auch politisches Asyl erhalten.

Sehen wir uns nun die Türkei an. Das Land hat seit Ende 2011 rund zwei bis 2,5 Millionen Syrer aufgenommen, durchschnittlich also mehr als 500.000 Flüchtlinge pro Jahr. Laut UNHCR-Daten liegt die Türkei damit an der Spitze der Aufnahmestaaten weltweit. Kein anderes Land beherbergt so viele Flüchtlinge in absoluten Zahlen, danach kommen Pakistan, Libanon und Iran.

Die Türkei hat kein Asylantragsverfahren (außer für Flüchtlinge aus Europa), die Syrer werden als „Gäste“ bezeichnet und haben das Recht, sich in der Türkei aufzuhalten – ein Status, um den sie viele andere Flüchtlinge etwa aus dem Irak, dem Iran oder Somalia beneiden. Sie genießen weitgehende Freizügigkeit, und dürfen außerhalb der Camps arbeiten, soweit sie nicht in qualifizierten Berufen tätig sein wollen (auf die damit zusammenhängenden Probleme gehe ich hier nicht ein). Mindestens 200.000 Syrer arbeiten laut entsprechenden Studien bereits in der Türkei.

Flüchtlingslager: Von der Türkei lernen!

Etwa zehn Prozent der syrischen Flüchtlinge oder rund 250.000 Menschen sind in großen Zelt- oder Containerlagern untergebracht worden, die – soweit ich das nach dem Besuch von etwa zehn Camps beurteilen kann – erstklassig organisiert und ausgestattet sind. Es ist furchtbar, wenn man fliehen und im Lager leben muss, aber wenn, dann sollte man die Türkei wählen. Ich habe noch nie zuvor solche tollen Flüchtlingslager gesehen, und ich habe einige besucht. Schickt die Dresdner und die Bayern nach Kahramanmaraş, Kilis oder Gaziantep, um von den Türken zu lernen! Denn das Land ist der internationale Champion beim Flüchtlingslagerbau und -management.

Im Camp nahe der anatolischen Großstadt Kahramanmaraş ist beispielsweise das Geldproblem sehr pragmatisch und vorbildlich gelöst worden: Die Flüchtlinge bekommen eine Chipkarte, auf die jeden Monat eine bestimmte Summe Geld geladen wird, mit der sie dann in einem riesigen Supermarkt am Eingang des Camps einkaufen können. Dort gab es wirklich alles, auch frisches Obst und Gemüse in einer riesigen Auswahl und spezielle Lebensmittel, die Syrer bevorzugen.

Im Prinzip kann sich jeder Flüchtling in der Türkei in einem Lager registrieren und hat dann Anspruch auf die dortigen Leistungen, also Unterkunft, Essen, sanitäre Einrichtungen, Chipkarte, kostenlose Krankenversorgung, Schule für die Kids. Wer nicht ins Lager will, der kann, soweit er sich bei der staatlichen Katastrophenhilfe AFAD registriert hat, immerhin Lebensmittel abholen und wird im Krankenhaus ebenfalls kostenlos behandelt.

Diese gewaltige Leistung hat die Türkei weitgehend aus eigener Kraft gestemmt. Laut Präsident Erdoğan wurden bisher rund 5,5 Milliarden Dollar für die syrischen Flüchtlinge ausgegeben, von denen nur 256 Millionen Dollar aus dem Ausland kamen. Im Januar waren offiziell 1,5 Millionen Flüchtlinge registriert, die vorübergehende Personalausweise bekamen, mehr als 350.000 syrische Kinder besuchten eine Schule (meist in den Lagern).

Drei Gruppen von syrischen Flüchtlingen

So weit, so gut. Außerhalb der Lager gibt es, grob gesagt, drei Gruppen von Flüchtlingen: Erstens die mehr oder weniger Wohlhabenden, die meistens der Mittelschicht oder der oberen Mittelschicht angehören und eine gewisse Summe Gold und Geld aus Syrien mitgebracht haben. Soweit sie das Geld nicht nutzen, um weiter nach Europa zu reisen, mieten sie Wohnungen in grenznahen Städten der Türkei wie Gaziantep, Mardin oder Şanlıurfa, am Mittelmeer in Antakya, Adana oder Mersin und natürlich in Ankara und Istanbul. Allein in Istanbul sollen 300.000 bis 400.000 Syrer leben. Weil ihr Geld nicht ewig reicht, versuchen die Mittelschichts-Syrer, so schnell wie möglich Arbeit zu finden, müssen dann aber oft mit sehr schlecht bezahlten Jobs vorlieb nehmen.

Die zweite Gruppe bilden all jene Syrer, die vielleicht nicht viel Geld haben, aber das Glück, Verwandte oder Clan-Mitglieder in der Türkei zu haben, die sie aufnehmen. So sind allein rund 150.000 Kurden syrische Kurden in Istanbul untergekommen, wo sie meistens in kurdisch dominierten Vierteln leben. Ähnliches gilt für Jesiden, christliche Gruppen und auch Alawiten, die von Netzwerken der türkischen Aleviten betreut werden. Diese Menschen wohnen zwar wie die erste Gruppe auch äußerst beengt (ich war mal in einer Zweiraumwohnung, in der zwei Familien mit rund 15 Personen lebten), sie haben aber die Chance, sich in die Nachbarschafts- und sonstigen Netzwerke ihrer jeweiligen Minoritäten zu integrieren und damit auch ihren Lebensunterhalt erwirtschaften zu können.

Schließlich bleibt die Gruppe der Habenichtse, die in Abrisshäusern, improvisierten Hütten, Armenvierteln oder auf der Straße leben (Letzteres ein Phänomen, das man zumindest in der Westtürkei zuvor kaum kannte). Diese Gruppe fällt am meisten auf, weil die Leute, um zu überleben, aufs Betteln angewiesen sind oder für Hungerlöhne arbeiten und damit das Lohnniveau gerade bei den einfachen Jobs drücken. Dusche und Toilette erledigen sie oft in den Moscheen. Sie könnten in die Camps gehen, tun dies aber aus verschiedenen Gründen nicht, weil sie beispielsweise befürchten, dort wegen ihrer Religion oder Ethnie von anderen Flüchtlingen angegriffen zu werden.

Beispiellose Toleranz

Allgemein sind unter dem Andrang die Mietpreise vor allem in der Grenzregion enorm gestiegen und gleichzeitig die Löhne für einfache Arbeiten abgestürzt – was inzwischen mehrfach zu Unruhen und Angriffen von Einheimischen auf die Fremden geführt hat. Flüchtlinge wurden beschimpft, verprügeln, mit Messern attackiert und auch Wohnungen angezündet. Insgesamt sind diese Taten aber extrem selten, obwohl die Menschen hier viel mehr zu verlieren haben als im reichen Deutschland. Wenn man nachfragt, warum die Bevölkerung der Türkei so viel Solidarität und Geduld aufbringt, wird das oft mit der Hilfsbereitschaft erklärt, die der Islam den Gläubigen gegenüber anderen Muslimen vorschreibt. Da ist sicher etwas dran.

Trotz einer zunehmenden Überzeugung, dass die Syrer wahrscheinlich nicht so schnell wieder verschwinden, gehen die Regierung und die Menschen in der Türkei tolerant mit den Flüchtlingsmassen um – obwohl diese in der Regel Araber sind und viele Vorurteile gegenüber Arabern bestehen. Und obwohl mit der MHP eine extrem nationalistische 17-Prozent-Partei existiert, wurde die Zuwanderung in den drei Wahlen der vergangenen anderthalb Jahre kaum populistisch ausgebeutet. Ich habe keine großen Plakate gesehen, auf denen etwa die Abschiebung der Syrer gefordert wurde. Die Flüchtlinge standen in keinem Wahlkampf im Vordergrund. Was ich erlebt habe, war eine MHP-Kundgebung in Adana, auf der die Redner forderten, alle Syrer in die existierenden Lager zu bringen, aber der Beifall war nicht frenetisch.

Offen rassistische „Ausländer raus!“-Parolen habe ich noch nie gehört und auch auf Hauswänden sehr selten aufgemalt gesehen. Viele Türken spenden Kleidung und Geld für die Syrer, eine Reihe islamischer und anderer NGOs kümmern sich um sie. Abgesehen von einigen Ausrutschern finde ich, dass die Menschen der Türkei mit der gewaltigen psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Belastung durch die Flüchtlinge bisher absolut vorbildlich umgehen.

Das heißt nicht, dass es so bleiben muss, es gibt einige besorgniserregende Entwicklungen, aber immerhin: Trotz fast vier Jahren Flüchtlingswelle hat es bisher keine solchen massiven Angriffe wie in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda oder Freital gegeben. Als ein Mob in Kahramanmaraş 2014 Jagd auf Syrer machte, weil sie angeblich abends zu viel Krach im Stadtzentrum veranstalteten, griff die Polizei ein und hatte die Lage schnell unter Kontrolle.

Menschenwürde und Bürokratie

Das Prinzip der türkischen Flüchtlingspolitik gegenüber den Syrern lautet: „Wenn ihr ins Lager geht, wird all-inclusive für euch gesorgt. Wenn ihr das nicht wollt, könnt ihr machen, was ihr wollt, solange ihr nicht gegen Gesetze verstoßt, aber außer der Basis-Gesundheitsversorgung auch nichts erwarten.“ Das ist so ziemlich das Gegenteil der deutschen Rundumversorgung mit ihrem gewaltigen bürokratischen Aufwand.

Man mag darüber streiten, welches System der Menschenwürde mehr dient. Das türkische ist jedenfalls flexibler, auch wenn Amnesty International schon davor warnt, dass es nun auch an seine Grenzen stoße, da viele Syrer ihre Geldreserven aufgebraucht haben, ums schiere Überleben kämpfen und in Gefahr sind zu verelenden. Vermutlich wäre eine Mischung aus beiden Systemen ideal. Allerdings betrachten viele Syrer die Türkei ohnehin nur als Durchgangsstation nach Europa.

Das Elend wird den Druck, weiter Richtung Europa zu flüchten, erhöhen. In deutschen Onlinemedien lese ich jetzt oft Kommentare, in denen es heißt, man solle die Probleme in den Herkunftsländern der Flüchtlinge lösen. Wollte man die Probleme in Syrien lösen, wäre eine Militärintervention angebracht – aber da würden die gleichen Kommentatoren wohl laut aufjaulen.

Wenn Europa wirklich etwas tun will, um den Flüchtlingsstrom nach Griechenland oder Bulgarien einzudämmen, könnte es der Türkei mehr unter die Arme greifen. Nicht indem ein sinnloser und gefährlicher Krieg Erdoğans gegen die Kurden abgenickt wird, wie es gerade geschieht. Sondern indem Programme aufgelegt werden, um den syrischen Flüchtlingen in der Türkei zu helfen – wie z. B. beim Aufbau nicht-salafistischer Schulen, wie es der Verein Die Brücke e.V. der Berliner dpa-Journalistin Ann-Béatrice Clasmann tut. Das Land wird das Problem auf Dauer nämlich nicht bewältigen können. Doch bisher ist der Beitrag, den die Europäer in der Türkei leisten – siehe oben – geradezu niederschmetternd gering.

Eines hat der Umgang der Türkei mit der Flüchtlingskrise zudem bewiesen: Behauptungen, dass das Boot voll sei, sind blanker Unsinn. Das Schwellenland Türkei bricht unter dem anhaltenden Zustrom der Flüchtlinge nicht zusammen – um wieviel weniger also die ungleich reichere Bundesrepublik. In Istanbul zum Beispiel ist mit den rund 400.000 syrischen Neuankömmlingen eine komplette Großstadt eingesickert, ohne dass dies den Rhythmus der Metropole wesentlich geändert hätte. Das Argument war in Deutschland schon während der Flüchtlingskrise der 1990er Jahre aus dem Balkan zu hören, und schon damals war es falsch.

Belebt die sterbenden Städte!

Der Gegensatz zwischen dem pulsierenden Leben in Istanbul und der Grabesstille Dessaus ist natürlich eine besonders extreme Erfahrung, aber dort schoss mir ein naheliegender Gedanke durch den Kopf: Was, wenn wir die verlassenen, sterbenden Städte Ostdeutschlands mit Flüchtlingen füllen? Ich habe es gesehen: Dort ist massenhaft Platz, und es würde den Orten gut bekommen. Dessau könnte ein quirliger Platz zum Leben sein, kein Altenheim, in das sich kein Teenager mehr hineintraut. Und es gibt viele Dessaus im Osten … Eine Utopie? Gewiss …

Es ist richtig, dass Deutschland viel für die Flüchtlinge tut, die es bis in die Bundesrepublik schaffen. Im Vergleich mit der Türkei ist es trotzdem beschämend wenig und geht einher mit peinlich viel Jammerei. Auch wenn man nur halb so viele Vorschriften hätte, würde vieles leichter. Die Menschenwürde hängt nicht an acht Quadratmetern pro Person, sondern z.B. an der Möglichkeit zu arbeiten.

Als ich jetzt in Deutschland war, machte ich mit meiner Liebsten auch einen Ausflug in die Bauhausstadt Dessau. Man kann dort wunderbar im alten Atelierhaus in einem originalen Bauhaus-Ambiente für einen sehr geringen Preis übernachten. Etwas nervig war nur der Kommandoton, mit dem die Reinigungskraft im sächsischem Tonfall um 10:30 Uhr morgens das Verlassen des Zimmers befahl (später stellte sie sich als ganz verträglich heraus). Trotzdem kann ich den Besuch und einen Rundgang durch die Bauhaus-Dauerausstellung unbedingt empfehlen.

Im Bauhaus und den angrenzenden Gebäuden ist jetzt eine Design- und Architekturuniversität, die Studenten aus aller Welt anzieht. Deshalb fühlte ich mich dort auch sehr wohl, das Publikum war jung, man sprach Englisch, sogar die freundliche Bedienung im Bistro konnte Ausländisch reden. Sobald man aber den Einzugsbereich des Bauhauses überschritt oder gar auf die andere Seite des Bahnhofs und der Schienen wechselte, vom Villenviertel in die „Stadt“, dann wurde es gruslig.

Dessau war mal eine Industriestadt, die im Krieg schwer zerstört wurde und inzwischen völlig verödet. Ich fühlte mich dort wie in einer post-apokalyptischen Einsamkeitswelt. Auf den Straßen: kein Mensch. Hin und wieder ein Auto, das an Ampelkreuzungen halten musste, die niemand braucht, weil gar kein Verkehr herrscht. Im Einkaufszentrum am Rathaus schlichen Greise mit Rollatoren herum. Das allgemeine Tempo der Stadt hatte sich schon den Rollatoren angepasst. Straßenzügeweise stehen Häuser leer und verfallen. Nachts ist es totenstill. Ehrlich, ich habe noch nie eine so deprimierende, leere Stadt erlebt.

Ich war froh, als ich wieder in Istanbul war. Und ärgerte mich, als mein Taxi auf dem Weg vom Atatürk-Flughafen nach Chihangir prompt in einen Stau geriet. Klar, bei so vielen Leuten an einem Ort!

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