13. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Zeltstädte werden für Flüchtlinge zur Frost-Falle“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Quelle: Die Welt

Mehr als 42.000 Flüchtlinge sind bundesweit in Zelten untergebracht. Viele Unterkünfte sind nicht winterfest – und werden es nicht. Es gibt keine Alternativen, die Bewohner sind gefangen in der Kälte.

Von Andreas Maisch, Benno Müchler

Salman Khan hat sich die Kapuze seines Pullis über den Kopf gezogen. Es nieselt. Der Abend ist angebrochen. Der 23-Jährige steht mit zwei Freunden aus Afghanistan vor dem Gelände der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne in Berlin-Spandau. Sie vertreten sich die Beine. Autos rauschen vorbei.

Seit 37 Tagen wohnt Khan schon hier, in einem weißen Zelt für zehn Personen. Und mit ihm rund 700 andere Flüchtlinge. Doch langsam wird es Winter. An diesem Donnerstagabend beträgt die Außentemperatur gerade einmal acht Grad, Tendenz fallend in den folgenden Tagen. Und mit dem Regen kriecht die Kälte in die Knochen. Khan hat die Schultern hochgezogen, um am liebsten seine Ohren darin zu vergraben. Die Zehen in den Turnschuhen werden steif, so klamm ist es.

„Es ist furchtbar“, sagt Khan. „Wir haben im Zelt zwar eine Heizung und Strom, doch das reicht nicht.“ Wenn es so wie jetzt regnet, blieben viele Flüchtlinge den ganzen Tag über im Zelt eingewickelt in ihre Decke. Nachts frieren sie. Einer der Freunde habe schon einen Schnupfen und Kopfschmerzen. „Deutschland ist so kalt“, sagt Khan.

Aufgrund des Mangels an geeigneten Unterkünften sind in Deutschland derzeit rund 42.000 Flüchtlinge in Zelten untergebracht. Dies ergab eine Anfrage der „Welt“ bei den 16 Bundesländern. Die Zahl könnte jedoch deutlich höher sein. Denn wie viele Flüchtlinge die Städte und Gemeinden in Zelten beherbergt haben, wissen die Länder nicht. Die Zahl 42.000 bezieht sich allein auf landeseigene Unterkünfte, insbesondere Erstaufnahmestellen und Notunterkünfte.

So hat etwa allein die Stadt Essen 800 weitere Flüchtlinge in beheizten, zeltähnlichen Bauten einquartiert. In Freiburg im Breisgau befürchtet man eine Zuspitzung der Lage. In etwa vier bis fünf Wochen müssten Flüchtlinge wohl auch in beheizten Zelten untergebracht werden, teilt der baden-württembergische Stadtkreis mit. Noch gelingt es aber, die Flüchtlinge in Freiburg in Wohnheimen und Wohnungen unterzubringen.

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Die Mehrzahl der Länder sagt, dass die Zelte verschiedener Bauart noch vor dem Wintereinbruch winterfest gemacht werden sollen, wenn sie es nicht schon sind. Außerdem sollen die Zelte durch feste Unterkünfte ersetzt werden. Angesichts der schon jetzt sinkenden Temperaturen ist jedoch fraglich, ob dieses Ziel überhaupt rechtzeitig erreicht wird. Einige Zelte könnten sogar im winteruntauglichen Zustand in Betrieb bleiben müssen – zum Beispiel in Berlin.

Bundesweit gehört Berlin zwar nicht zu den Spitzenreitern. Die ehemalige Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne in Berlin-Spandau ist Berlins einzige Zeltstadt. Die restlichen 22.800 Flüchtlinge leben nach Angaben der Stadt in festen Unterkünften, wozu auch Turnhallen und eine Traglufthalle gehören. Doch gegenwärtig eignet sich die Zeltstadt nicht für den Winter. Und ob rechtzeitig eine Lösung für Khan und die anderen Flüchtlinge gefunden wird, ist fraglich, sagte Susan Hermenau, Sprecherin der privaten Betreibergesellschaft der Anlage Prisod.

Bewohner der Zeltstadt können nicht umziehen

Weiter heißt es:“Wir als Betreiber sind sehr daran interessiert, die Zeltstadt vor Wintereinbruch räumen zu können, und haben dies in allen relevanten Gremien stets zum Ausdruck gebracht. Dabei sind wir jedoch maßgeblich auf die Unterstützung des Landesamts für Gesundheit und Soziales angewiesen, das für die Verteilung von Flüchtlingen zuständig ist.“

Inwiefern es jedoch gelinge, für 700 Menschen alternative Unterkünfte zu finden, sei vor dem Hintergrund von Hunderten Neuankömmlingen pro Tag ungewiss. Es fänden sich kaum noch Quartiere, die infrage kommen; Ausweichobjekte müssen durch neue Flüchtlinge bezogen werden, sodass die Bewohner der Zeltstadt nicht umziehen können. „Wir arbeiten unermüdlich daran, dennoch Alternativen zu finden“, sagt Hermenau.

Auch andere Zeltbewohner vor der Spandauer Unterkunft bestätigen, dass es dort bereits sehr kalt sei. Wie in den anderen Bundesländern werden in Spandau vor allem junge, alleinstehende Männer in Zelten untergebracht. Frauen, Kinder und Familien wohnen in einem Backsteingebäude. Dort sei es sehr gut, sagen viele Flüchtlinge vor der Kaserne.

Hessen ist das Bundesland, das im Verhältnis zur Gesamtzahl der Flüchtlinge am meisten Schutzsuchende in Zelten unterbringt. Mehr als ein Drittel – insgesamt 6900 von 18.000 Flüchtlingen – leben dort in Zelten. Eine der größten Anlagen steht am Flugplatz in Kassel-Calden. Hier war auf Anfrage ein Besuch nicht möglich. In der Vergangenheit war die Zeltstadt, die aus der Luft wie ein Flüchtlingslager in Afrika aussieht, mehrfach aufgrund gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen in den Schlagzeilen.

Auch Container sind kaum noch zu haben

Rund 1250 Flüchtlinge sind aktuell in mehreren Großraumzelten und kleinen Zelten untergebracht. „Man ist im Begriff, einige der Zelte winterfest zu machen“, sagt der Sprecher des Regierungspräsidiums in Kassel, Michael Conrad, der „Welt“. „Das ist aber nicht bei allen möglich.“ Bis zu fünf Großraumzelte sollen in den nächsten Tagen auf jeden Fall winterfest gemacht werden, sagt Conrad. Wohl auch noch sechs weitere.

Die Zelte seien zwar schon beheizt, aber sie müssten zusätzlich doppelwandig gemacht werden, um der Last des Schnees standzuhalten. Wie die „Hessisch Niedersächsische Allgemeine“ vor Kurzem berichtete, soll die Anlage im Winter aber offenbar bestehen bleiben, während andere Zeltstädte in Hessen durch feste Unterkünfte ersetzt werden. Die 27 Kleinraumzelte in Kassel-Calden können nicht winterfest gemacht werden. Sie sollen nach Möglichkeit durch Container ersetzt werden, allerdings ist das Angebot auf dem Markt erschöpft.

Auch in Brandenburg, wo die Bundeswehr im August in der Kleinstadt Doberlug-Kirchhain Zelte für rund 450 Menschen baute, sollen diese für einen Großteil des Winters bestehen bleiben. Das sagte Wolfgang Brandt vom dortigen Innenministerium. „Die Heizkörper sind bereits beschafft.“ Allerdings könne das nur bis Anfang Dezember durchgehalten werden – obwohl die Bundeswehrzelte auch im Hochgebirge Afghanistans zum Einsatz kommen. Doch spätestens im Dezember sollen die Flüchtlinge in ein Gebäude nebenan umziehen, das bereits fast fertig hergerichtet sei. Auch an anderen Standorten in Brandenburg sollen bestehende Zelte beheizt oder durch Leichtbauhallen ersetzt werden. In ganz Brandenburg sind gegenwärtig 1500 Menschen in Zelten untergebracht.

Ein weiterer Spitzenreiter ist Rheinland-Pfalz, wo ein Drittel der Flüchtlinge in Zelten lebt – insgesamt 3200 von 9650. Das Land Nordrhein-Westfalen bringt etwa 15.000 Flüchtlinge in beheizten Leichtbauzelten und -hallen unter. Das Saarland und Thüringen verwenden dagegen nach eigenen Angaben gar keine Zelte. In Bayern gibt es mehr als 1300 Plätze, wobei manche Zelte jedoch nur für die Registrierung genutzt würden und so Flüchtlinge hier nur eine Nacht verbringen.

Bald müssen Antragsteller noch länger im Zelt ausharren

In Hamburg sind von den rund 30.000 Flüchtlingen derzeit 4000 in Zelten einquartiert. Wie Sprecher Frank Reschreiter sagte, wird in einigen mit dem Einbau von Heizungen begonnen. Andere seien schon beheizt oder würden durch wintertaugliche Zelte und Holzhäuser ersetzt. Der Flüchtlingsrat Hamburg bezweifelt, ob alle Zelte ausreichend beheizt werden können, und kritisierte das Konzept der Stadt.

„Wir fordern statt immer mehr Großlagern die Belegung leer stehender Wohnungen und allen anderen geeigneten Gebäuden mit einem Standard, der auch im Winter menschenwürdig ist, und ein sofortiges Wohnungsbauprogramm für Flüchtlinge und alle anderen obdachlosen und bedürftigen Menschen“, sagte Conni Gunßer vom Flüchtlingsrat Hamburg.

Ein neuer Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, dass alle Asylbewerber bis zu sechs Monate in den Erstaufnahmestellen der Länder bleiben sollen. Schutzsuchende aus sicheren Herkunftsländern sollen dort sogar bis zum Ende ihres Asylverfahrens wohnen. Und das, obwohl Zelte, selbst wenn sie wintertauglich sind, nur eine Notlösung sein können. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl und die Flüchtlingsräte kritisieren den Entwurf scharf.

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