12. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Der Kritiker: Die Putinisierung der deutschen Politik“ · Kategorien: Deutschland, Europa · Tags: , ,

Quelle: Spiegel Online

Eine Kolumne von Georg Diez

Demokratie und Menschenrechte – das war das alte Europa. Das neue will abschrecken: An den Rändern des Kontinents lassen wir Zäune gegen Flüchtlinge errichten. Was kommt als nächstes? Schießbefehl?

Wenn nun schon Politiker, die ständig mit dem Grundgesetz herumfuchteln, sobald sie nur das Wort Flüchtling in den Mund nehmen, mit nachlässiger Geste Verfassungsbruch begehen, dann ist das ein neuer Tiefpunkt in der an Tiefpunkten reichen Geschichte der vergangenen Wochen.

Was Seehofer, Söder, Herrmann und die anderen Verfassungsverächter in diesem neuesten Unrechtsstaat tun, ist nicht weniger als die Putinisierung der deutschen Politik: Sie stellen Stabilität und Ordnung über alles, über das Grundgesetz, die Freiheit, die Menschenrechte, die Grundlagen des demokratischen Systems.

Aber das Recht beugt man nicht ungestraft so lange, bis es bricht, man macht es nicht kaputt und ruft „Notwehr“ und stellt es dann zurück ins Selbstbedienungsregal der Demokratie und tut so, als sei nichts gewesen.

Es hat Folgen, Folgen im Inneren, wenn man nach außen seine eigentlichen Werte verrät und von der Türkei bis Eritrea, von Russland bis Syrien mit Diktatoren paktiert, um denen dabei zu helfen, die eigene Bevölkerung zu drangsalieren, zu unterwerfen, zu ermorden.

All das, was jetzt passiert, die Abschaffung oder Einschränkung von Grundrechten, die populistische Panikmache, die Militarisierung der Flüchtlingsfrage, wird Folgen haben für das Selbstverständnis von Deutschland und Europa und die Legitimität der Demokratie, die darauf beruht, dass man Rechte achtet.

Geld gibt es nicht für Hilfe, sondern für Zäune

Die Identität Europas, so hieß es vor Monaten, als die Schlauchboote im Mittelmeer kenterten und ein humanitäres Restempfinden bei einzelnen Politikern erkennbar war, die Identität Europas entscheidet sich daran, wie es mit dem Tod vor der Tür umgeht, mit dem Tod, der an den Strand gespült wird, mit dem Tod, der am Maschendrahtzaun geschieht, an den Rändern Europas, das keine Festung sein kann und sein darf.

Das ist lange her. Die Identität Europas bestimmt sich wieder von den Rändern aus – aber nicht aus Idealen, Humanität, Menschenrechten ist dieses neue Europa gemacht, es definiert sich aus der Logik der Abschreckung und durch das Vokabular und die Werte des Krieges: Die Rede ist vom „Kampf gegen die Flüchtlinge“.

Es herrscht Krieg im neuen Europa, im postnationalen 21. Jahrhundert bedeutet das nicht mehr Krieg zwischen Staaten, sondern Krieg gegen einzelne Menschen. Sicherheit gibt es nicht für Personen, sondern für Grenzen, Geld gibt es nicht für Hilfe, sondern für Zäune.

Partner in diesem Kampf sind Länder wie Montenegro oder das Kosovo, wo klar ist, dass von jedem Euro, der zur „Sicherung der Grenzen“ überwiesen wird, mindestens die Hälfte direkt in den Taschen jener korrupten Eliten landet, die wiederum die Gründe dafür schaffen, dass die Menschen fliehen.

Europa subventioniert die Schergen, die dafür sorgen sollen, dass die Menschen, die vor ihnen fliehen, es gar nicht erst aus dem Land schaffen.

Die „Lösung“ der Flüchtlingsfrage

Recep Erdogan zum Beispiel, dessen Türkei vor Jahren vergeblich an die Tür der EU hämmerte, was konservativen Politikern einen Türken-vor-Wien-Schauder über den Rücken jagte. Aber kaum geht es darum, dass weniger Flüchtlinge in Deutschland ankommen, dass also mehr Flüchtlinge ertrinken, wird Erdogan beim Staatsdinner in Brüssel hofiert.

Es ist da auch ganz egal, dass er Journalisten verfolgt, es ist ganz egal, dass er Kurden verfolgt, es ist egal, wenn in Ankara Bomben explodieren: Die „Lösung“ der Flüchtlingsfrage, wie auch immer die aussehen mag, die Lösung schlägt die Demokratie.

Wobei das alles nicht sonderlich überraschend ist: Die EU ist eine schrumpfdemokratische Fehlgeburt, die gerade erst in Ländern wie Italien und Griechenland geduldet oder eher: gefördert hat, dass gewählte Regierungen abgesetzt oder weggeputscht wurden.

Dort regieren Technokraten, keine Demokraten. Und nun setzen sie in der Flüchtlingsfrage auf eine Art realpolitischen Ablasshandel: Haltet uns die Menschen vom Leib, wie auch immer, sperrt sie ein, schreckt sie ab, wir zahlen euch gute Euro dafür.

All das Geld also, das man jahrelang hätte in den Aufbau der Länder investieren können, wird nun in Abschreckung der Menschen dort gesteckt. Das ist mal echt ein Teufelskreis.

Und am teuflischsten ist es in Syrien, Schande des Westens: Was heißt es denn etwa, wenn Sigmar Gabriel, der traurige Chef-Opportunist der deutschen Politik, der so oft die Richtung ändert, dass er schon nicht mehr weiß, wo seine eigene Nase ist, sagt, man müsse auch mit Assad reden?

Worüber ganz genau? Wie man die Fassbomben besser einsetzt gegen die eigene Bevölkerung? Wen man in Zukunft foltern will? Wo die russischen Flieger den Widerstand gegen Assad am besten attackieren?

Nirgendwo sonst ist das großflächige Politikversagen der vergangenen Monate, der vergangenen Jahre so deutlich zu beobachten wie in Syrien.

Der syrische Bürgerkrieg ist für das 21. Jahrhundert, was der spanische Bürgerkrieg für das 20. Jahrhundert war: Ein Übungsterrain für Verrat, ein Trainingsfeld für trügerische Diplomatie, der Vorhof der Hölle für die Menschen.

Das Alphabet der politischen Täuschungsmanöver

Damals wurden die freiheitlichen Kräfte zwischen Faschisten und Kommunisten zerrieben, es war ein Stellvertreterkrieg zwischen Deutschland und Russland, die ihren Krieg später in die ganze Welt trugen.

Heute werden die freiheitlichen Kräfte wieder zerrieben, vom Westen im Stich gelassen, vom IS genauso bedroht wie von Assad. Womit wir wieder bei Putin wären.

Er tritt in die Lücke, die ihm der Westen gelassen hat. Erst hat George W. Bush die Region mit einem verbrecherischen Krieg ins Chaos gestürzt, dann hat Barack Obama die amerikanischen Truppen aus dem Irak und Afghanistan zu schnell abgezogen und weiteres Chaos geschaffen, schließlich hat er sich gegen den Rat seiner Militärs entschieden und nicht in Syrien interveniert, als es noch keinen IS dort gab und schon gar keinen Putin.

Wann hat man eigentlich zuletzt von einem Politiker gehört, dass er sagt, er habe versagt? Es wäre kein Zeichen der Schwäche, es wäre eine Ehrlichkeit, die Vertrauen schafft.

Stattdessen: von Aktionismus bis Zynismus, das Alphabet der politischen Täuschungsmanöver.

Die meisten syrischen Flüchtlinge geben als Grund für ihre Flucht die Angst vor Assad an.

Da kann Seehofer so viel mit seinem Vorbild Putin reden, wie er will, diese Menschen lassen sich auch nicht durch Zäune an der bayerischen Grenze aufhalten.

Was wäre dann die nächste Stufe? Schießbefehl?

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