09. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Hetze gegen Flüchtlinge“ · Kategorien: Deutschland · Tags: ,

Quelle: Telepolis

von Patrick Spät

„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, heißt es in Artikel 16a des Grundgesetzes. Doch statt geflüchteten Menschen in Not zu helfen, werfen Politiker verbale Brandsätze

Jeder Flüchtling, der Berlin erreicht hat, muss sich beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) registrieren lassen. Nur mit dieser Registrierung erhalten geflüchtete Menschen eine Unterkunft und Verpflegung. Soweit die Theorie, die Praxis ist schrecklich:

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Flüchtlinge warten vor der LAGeSO / Berlin

Wer dieser Tage das Gelände des LAGeSo in Berlin-Moabit betritt, sieht Schlimmes: Familien mit Babys und Kleinkindern sitzen auf dem kalten Betonboden, frierend und durchnässt vom Regen. Hunderte Menschen müssen vor dem Gebäude ausharren und warten wochenlang darauf, dass sie sich endlich registrieren lassen können. Schon auf die Wartemarke warten viele tagelang. Währenddessen müssen sie im Freien in den umliegenden Parks übernachten.

Unter ihnen sind viele Menschen, die schwer traumatisiert sind – sie werden vom Land Berlin ebenso wenig medizinisch versorgt wie schwangere Frauen und Menschen, die an Lungenentzündungen oder Tuberkulose erkrankt sind. Und die Zahl der im Stich gelassenen Flüchtlinge wächst exponentiell: Pro Tag kommen zwischen 300 bis 500 Flüchtlinge am LAGeSo an, pro Tag werden aber maximal 250 Menschen von der Behörde registriert.

Hinter diesen abstrakten Zahlen stecken furchtbare individuelle Schicksale – Menschen, die wochenlang auf der Flucht waren, die Luftangriffe mit Fassbomben erleben mussten, die gefoltert wurden, die hungerten und die ihre Familien zurücklassen mussten. Viele möchten ihre Familien nachholen, jeder Tag des Wartens auf das ihnen zustehende Asyl wird zur Qual.

Aufgrund der katastrophalen Lage am LAGeSo rufen Christiane Beckmann und Diana Lucine von „Moabit Hilft! Willkommensinitiative für Geflüchtete“ derzeit zu einer Demo auf und schreiben:

Entgegen aller Behauptungen und Mutmaßungen durch Politik und Medien organisieren, kochen, sortieren, behandeln, pflegen, bespaßen, informieren, betreuen, begleiten, trösten, transportieren, aktivieren die ehrenamtlichen Unterstützer*innen der Bürgerinitiative „Moabit hilft“ nach wie vor am LAGeSo. Und das oft 15 Stunden am Stück, Tag und Nacht, sieben Tage die Woche.

UNENTGELTLICH.

Entgegen aller Behauptungen seitens der Politik und Verwaltung ist gar nichts gut. Die Strukturen des LAGeSo sind intern bereits zusammengebrochen. Die ehrenamtlichen Helfer*innen verhindern noch größeres Chaos und managen seit Wochen mit einem großen Kraftaufwand den Ausnahmezustand auf dem Gelände. Tagtäglich kommen bis zu 300-500 in die Turmstraße 21, um sich registrieren zu lassen. Die verzweifelten, wartenden Menschen werden Tag für Tag immer verzweifelter und der Winter steht vor der Tür. Nachweislich warten die Menschen vom Zeitpunkt des Anstellens für eine Nummer zur Registrierung bis zur Ausgabe der ersten Unterlagen bis zu 57 Tagen. Jeden Tag, fast zwei Monate!

„Moabit hilft“ klagt die Senatsverwaltung an. Besonders Schutzbedürftige bleiben unversorgt, das Asylbewerberleistungsgesetz bleibt über Wochen unberücksichtigt. Wenig bis gar kein Geld, keine Krankenversorgung, mangelhaftes Essen und noch schlechtere Informationspolitik. Die Folge ist ein katastrophaler Ausnahmezustand.
Moabit hilft!

Der CDU-„Brandbrief“ und das Ende der Nächstenliebe

Berichte von anderen Annahmestellen für Geflüchtete lesen sich ähnlich. Die Politik versagt auf ganzer Linie. Und statt nun endlich zu handeln und zu helfen, haben sich 34 CDU-Politiker dazu entschieden, einen an Angela Merkel adressierten „Brandbrief“ zu verfassen, weil die Aufnahmekapazitäten „bis an die Grenzen gespannt und man manchen Orten erschöpft“ seien. Die CDU-Politiker fordern, die „Politik der offenen Grenzen“ zu beenden, sie entspreche „weder dem europäischen oder deutschen Recht, noch steht sie im Einklang mit dem Programm der CDU.“

Unterzeichnet haben den Brief auffallend viele Berliner CDU-Politiker, unter anderem Christoph Brzezinski, Vorsitzender der Jungen Union Berlin, sowie Sven Rissmann, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion Berlin. Anders formuliert: Statt zu helfen, sitzen sie in ihren beheizten Büros und Dienstwagen und werfen nun verbale Brandsätze.

Während des Kalten Kriegs gingen etliche Kritiker dazu über, die DDR als DdR zu schreiben, um mit dem Kleinbuchstaben zu signalisieren, dass es sich mitnichten um einen demokratischen Staat handle. Man sollte auch dazu übergehen, cDU zu schreiben, denn die christliche Nächstenliebe haben die Christdemokraten wohl vergessen. Denn die Mittel, den Flüchtlingen zu helfen, sind selbstverständlich vorhanden.

Aber die Sache mit der Nächstenliebe haben ja selbst die offiziellen Stellvertreter Gottes in diesem Land vergessen: Anfang Oktober sprachen sich Bedford-Strohm, Vorsitzender der stinkreichen Evangelischen Kirche in Deutschland, und Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der ebenfalls stinkreichen katholischen Deutschen Bischofskonferenz, in einer gemeinsamen Erklärung für eine „Abschiedskultur“ aus. Nur zur Erinnerung: Maria und Josef flohen nach Ägypten, weil König Herodes drohte, ihr Kind zu töten. Das Flüchtlingskind Jesus fand Asyl und überlebte. Heute würden Maria, Josef und Jesus vermutlich von ihrer eigenen Kirche im Stich gelassen werden.

Grundgesetz, Artikel 16a und die cdU

Man könnte auch gleich cdU schreiben, denn selbst die letzten Fetzen des demokratischen Rechtsstaats scheinen die Unterzeichner des Brandbriefs über Bord gespült zu haben. Wieso bitte soll das Recht auf Asyl dem „europäischen oder deutschen Recht“ widersprechen?

In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es unter Artikel 18: „Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gewährleistet.“

Und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht eindeutig unter Artikel 16a, Absatz 1: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“

In dem Moment, wo ein geflüchteter Mensch die Grenzen der Bundesrepublik erreicht, hat er oder sie das Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren und das Recht auf Schutzgewährung. Die Forderungen des CDU-„Brandbriefs“ verletzen also ganz klar die Grundrechte der deutschen Verfassung, wie auch Pro Asyl betont.

Das gleiche gilt für all jene Politiker, darunter auch vermehrt Politiker der SPD, die eine „Obergrenze“ und ein „Aufnahmestopp“ fordern. Zum Glück sieht unser Grundgesetz keine solchen Obergrenzen vor, und damit auch keine Aufnahmestopps. Die Menschen fliehen nicht aus Jux und Tollerei, sondern vor Krieg, Armut und Hunger (Flucht vor allem vor den Bomben des Regimes).

Hier von Obergrenzen zu sprechen, als handle es sich bei notleidenden Menschen um einen rein bürokratischen Verwaltungsakt, ist mehr als zynisch – und eben auch gegen die Verfassung. Insofern hat Bundeskanzlerin Merkel schlichtweg recht, wenn sie zumindest als Lippenbekenntnis sagt: „Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze.“

Gewollte Abschreckung, gewollter Rechtsruck

Die Medien verbreiten allabendlich Bilder von gesunkenen Flüchtlingsbooten und überfüllten Flüchtlingslagern. Mehr und mehr drängt sich der Eindruck auf: Die Politik selbst – die mitverantwortlich für das Elend ist – hat gar keine allzu großen Probleme mit diesen Bildern. Sie sollen einerseits die Flüchtlinge abschrecken, andererseits sollen sie vor der vermeintlichen „Flüchtlingsflut“ warnen, die man rigoros eindämmen müsse.

Allein das ständige Gerede von einer „Flut“ suggeriert, dass Europa unter Menschenmassen versinke. Trotz aller Horrorszenarien, mit denen „besorgte Bürger“ und die rechte Mitte der Gesellschaft derzeit Stimmung machen (Angesichts des Zustroms an Flüchtlingen agiert die rechte Szene immer aggressiver): Europa kann (und muss!) die geflüchteten Menschen allesamt aufnehmen – nicht nur aus verfassungsrechtlichen Gründen, nicht nur aus humanitären Gründen und nicht nur aus dem Gebot der Nächstenliebe, sondern auch rein logistisch. Allein, es fehlt der poltische Wille, uneingeschränkt Hilfe zu leisten.

Das Horrorszenario besteht nicht in der „Flüchtlingsflut“. Vielmehr steht zu befürchten, dass eine neue Welle aus rechtem und faschistischem Gedankengut über Europa rollt. Schon längst haben sich in Skandinavien, Frankreich, Italien und Griechenland rechtsextreme Parteien stark positioniert und den Weg in die Parlamente gefunden. Zuletzt hat der Wahlsieg der FPÖ in Österreich abermals gezeigt, dass sich mit Stimmungsmache gegen „Ausländer“ Wahlen gewinnen lassen.

Die Flüchtlingsthematik wird auch in den nächsten Jahren nicht vom Tisch sein. Der gesellschaftliche Rechtsruck provoziert einen parlamentarischen Rechtsruck innerhalb der „Nationalstaaten“. Fast jede Woche Tag brennen in Deutschland Flüchtlingsunterkünfte. Langsam aber sicher kriecht der Faschismus aus seinen Verstecken und zeigt unverhohlen seine Fratze.

Falsch kanalisierte Wut – und die Ursachen von Flucht

Die Wut der sogenannten „besorgten Bürger“ sollte sich nicht an geflüchteten Menschen entladen, sondern an den wahren Verursachern. Spätestens seit den 1920ern und 1930ern Jahren ist natürlich fast jedem denkenden Menschen klar, dass marginalisierte und drangsalierte Menschengruppen leider ein guter und bequemer Blitzableiter sind, um von den wirklichen Gründen für Krieg, Hunger und Armut abzulenken.

Früher haben die europäischen Kolonialherren die Menschen des Globalen Südens überfallen, ausgeraubt, ermordet, zwangschristianisiert, versklavt und in die Schuldknechtschaft getrieben. Heute überschwemmt die EU den afrikanischen Markt mit Billigfleisch und anderen Agrarprodukten, während die dortigen Märkte den Bach runtergehen und die Menschen weiter verarmen. Dabei handelt es sich nicht nur um die medial häufig zitierten, tiefgekühlten Hähnchenreste, sondern beispielsweise auch um die großen Milch-Überschüsse der EU: Die überschüssige Milch wird in Europa in ihre Bestandteile zerlegt und wandert als sogenanntes „fat filled milk powder“ nach Afrika. Das Fett der zuvor entzogenen Butter wird durch billiges Palmfett ersetzt und dann mit dem Magermilchpulver vermengt. Gleichzeitig kaufen Nestlé, Campina, Danone und andere Lebensmittelkonzerne dutzendfach afrikanische Molkereien auf, so dass die afrikanischen Staaten auf die ausländischen Milch-Importe angewiesen sind.

Afrika wird nach Strich und Faden ausgeplündert – egal, wie irrsinnig die Methoden sind, solange sie Profit versprechen, ist den Konzernen alles recht. Und selbst internationale Gesetze und Vereinbarungen entpuppen sich als wirkungslos: Im ersten Artikel des UN-Sozialpakts von 1966 heißt es: „In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.“

Konzerne und Industriestaaten kaufen hektarweise Anbauflächen (Land Grabbing) sowie Wasserquellen (Water Grabbing) und entreißen den Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern damit die Lebensgrundlage. Jede Nacht dringen zig europäische Fischtrawler illegal in die Hoheitsgewässer des Senegal und anderer afrikanischer Staaten ein und rauben den Menschen ihre wichtigste Nahrungsquelle. Ein einziger Trawler holt binnen 24 Stunden über 200 Tonnen Fisch aus dem Meer – dafür muss ein senegalesischer Fischer über 50 Jahre auf Beutefang gehen.

Die EU-Grenzpolizei Frontex sollte die illegalen Fangflotten der europäischen Großkonzerne überwachen – und nicht Flüchtlinge „abwehren“, die nämlich deshalb fliehen müssen, weil Europa ihnen die Lebensgrundlage raubt.

Unsere sogenannten Handelsüberschüsse, gepriesen von Politik und Medien, sind deren Handelsdefizite, schließlich ist der Kapitalismus ein System, das auf Ungleichheit und Konkurrenz setzt. Die europäischen Konzerne bereichern sich am Desaster des Globalen Südens. Die Wohlstandinsel EU ist nur möglich, weil um sie herum ein Meer aus Elend ist – ein Wohlstand freilich, der auch innerhalb der EU-Staaten und deren Gesellschaften höchst ungleich verteilt ist.

Die Ungleichheit und Unfreiheit sind gewollt, und oft genug sind Rassismus und Menschenfeindlichkeit für die Machteliten ein willkommenes Ablenkungsmanöver von den wahren Gründen für das globale Desaster. Die Waren sollen frei zirkulieren, nicht aber die davon betroffenen Menschen. Armen Avanessian schreibt treffend: „Das neoliberale Schwadronieren vom freien Personen- und Warenverkehr ist blanker Zynismus. […] Das hegemoniale Zentrum lebt von seiner Kontrolle über den Transit von Menschen und Gütern.“

NATO und Co bombardieren mit europäischer Unterstützung Länder des Nahen Ostens und Afrikas; im Hintergrund werden Diktatoren und War Lords mit Waffen und Geldern unterstützt, während die CIA Putschversuche initiiert. Die NATO-Mächte sind ganz klar Kriegsgewinnler. Nicht umsonst steht Deutschland auf Platz 3 der Waffenexportnationen. Nicht umsonst ist das deutsche Unternehmen Junghans Microtec Weltmarktführer bei Zündern und Zündsystemen, der deutsche Panzerhersteller Krauss-Maffei Wegmann führend in Europa und Heckler & Koch unter den weltweit fünf größten Pistolen- und Gewehrproduzenten. Nicht umsonst ist der gerade angeschlagene VW-Konzern einer der drei größten Automobilhersteller der Welt. Nicht umsonst steht Bayer CropScience mit 17,1 Prozent Marktanteil weltweit auf Platz 2 der Pestizidbranche, dicht gefolgt von der BASF mit 12,3 Prozent. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen …

„Actions speak louder than words“

„Das feste Land ist mit einer unübersehbaren Mauer umgeben, ein Zuchthaus für die, die drinnen sind, ein Totenschiff oder eine Fremdenlegion für die, die draußen sind“, schrieb B. Traven 1926 in seinem Roman „Das Totenschiff“.

Man kann den Einsatz der vielen namenlosen Helferinnen und Helfer gar nicht groß genug hochschätzen: Tagtäglich versorgen sie geflüchtete Menschen und arbeiten an den Grenzen der Belastbarkeit. „Actions speak louder than words“ – Taten sind in der Tat lauter als Worte.

Es kann aber nicht sein, dass all diese Helfer Flickwerk betreiben müssen, wo die Politik sehenden Auges versagt. Es ist eine riesengroße Schande, wie Politik, Machteliten und die ganzen Faschisten in diesem Land und in der EU mit Flüchtlingen und Geflüchteten umgehen. Die abgefeierte und immer wieder hochgehaltene Menschenwürde im Grundgesetz entpuppt sich derzeit immer öfter als hohle Phrase einer Wohlstandsinsel inmitten eines Meers aus Elend und Totenschiffen. Das Zuchthaus Europa muss endlich zu seinen selbsterklärten Werten des Humanismus stehen – und die unübersehbare Mauer der Menschenfeindlichkeit einreißen.

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