18. Juli 2015 · Kommentare deaktiviert für Sizilien, Pozzallo: Gastfreundschaft – Reportage NZZ · Kategorien: Italien, Libyen · Tags: ,

Quelle: nzz

„Bootsflüchtlinge statt Touristen

An der Südspitze Siziliens werden Migranten noch immer mit ungewöhnlicher Solidarität aufgenommen – doch die lokale Wirtschaft leidet.

Pozzallo zählt 20 000 Einwohner. Im letzten Jahr sind in der Stadt an der Südspitze Siziliens 28 000 Bootsflüchtlinge angekommen. Dennoch regt sich kaum Widerstand gegen deren Aufnahme.

Andrea Spalinger, Pozzallo

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Gestörte Ferienidylle

Das Einzige, was nicht so recht ins Bild des unbeschwerten Badevergnügens passen will, sind die jungen Afrikanerinnen und Afrikaner, die in Gruppen der Strandpromenade entlangschlendern. In ihren synthetischen Trainingsanzügen und dicken Wollpullovern wirken sie wie Ausserirdische. Sie grüssen Passanten freundlich und bemühen sich, Unbekümmertheit auszustrahlen. Der Horror, den sie in den letzten Monaten erlebt haben, steht ihnen aber noch immer ins Gesicht geschrieben.

Seit ein paar Jahren gehören Bootsflüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten zum Strassenbild des Städtchens. Vor wenigen Tagen wurde erneut ein Flüchtlingsboot von der italienischen Küstenwache in den Hafen von Pozzallo gebracht. An Bord befanden sich hundert Männer, Frauen und Kinder aus verschiedenen schwarzafrikanischen Staaten. Der 32-jährige Ghanese Robert war unter ihnen. Er sagt, er wolle niemandem zur Last fallen. Er sei es gewohnt, hart zuarbeiten, und wolle so schnell wie möglich Arbeit finden.

Flüchtlinge, die aus Kriegsgebieten stammen und gute Chancen haben, Asyl zu bekommen, tauchen nach ihrer Ankunft in Italien oft unter und versuchen, Richtung Nordeuropa weiterzureisen. Doch Robert und seine Mitreisenden wurden allesamt registriert. Sie tragen ein Plasticband mit einer Nummer am Handgelenk und sehen damit ein bisschen aus wie Häftlinge. Doch können sie sich frei im Ort bewegen, und Robert hat sich mit ein paar anderen Ghanesen aufgemacht, um eine Sim-Karte zu kaufen.

Dankbar, aber traumatisiert

Eigentlich sollten die Migranten in den Auffangzentren etwas Taschengeld und eine Telefonkarte erhalten, damit sie ihren Angehörigen mitteilen können, dass sie in Sicherheit sind. Doch in Pozzallo scheint nichts mehr nach Plan zu laufen. In dem Zentrum ist Platz für 180 Personen. Doch regelmässig müssen zwischen 500 und 1000 Flüchtlinge hier untergebracht werden. Eigentlich sollten Neuankömmlinge auch nur maximal drei Tage in Notunterkünften bleiben und dann auf Asylbewerberzentren in ganz Italien verteilt werden. Doch angesichts des jüngsten Ansturms fehlt es an Plätzen, und im Norden des Landes wächst der Widerstand gegen die von Rom auferlegten Verteilungsquoten. Weil sich viele Gemeinden weigern, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, bleiben diese in Pozzallo stecken.

Die jungen Ghanesen erzählen, sie hätten ausser Kleidung und Essen rein gar nichts erhalten. Es scheint sie auch niemand darüber informiert zu haben, wie es weitergeht – und die Unsicherheit nagt an ihnen. «Müssen wir in Italien bleiben? Oder können wir anderswo Asyl beantragen?», fragt uns Robert und fügt schnell hinzu: «Wir wollen uns nicht über die Italiener beklagen. Wir sind ihnen sehr dankbar, dass sie uns gerettet haben. Libyen war die Hölle!»

Api und Samantha haben während der Flucht Schreckliches erlebt. Die zwei Nigerianerinnen sagen, sie seien 19 Jahre alt, sehen aber aus wie Kinder. Sie haben Angst, etwas Falsches zu sagen und ausgewiesen zu werden. Mehr als zusammenhangslose Bruchstücke ist aus ihnen nicht herauszubekommen. Insbesondere die hübsche Samantha scheint schwer traumatisiert. Sie lächelt zwar unentwegt, doch ihr Blick ist leer und traurig. Unter ihrem beigen Pullover zeichnet sich ein Bauch ab. Schwangerschaften seien hier leider nichts Ungewöhnliches, erklärt uns Chiara Montaldo von Médecins sans Frontières später. Etwa 90 Prozent der Frauen, die ins Zentrum kämen, seien während der Flucht vergewaltigt worden.

Wegen der Verschlechterung der Menschenrechtslage in Libyen bedürften immer mehr Flüchtlinge medizinischer und vor allem auch psychologischer Hilfe, sagt die Koordinatorin der Hilfsorganisation in Sizilien. «Viele waren über längere Zeit eingesperrt und haben Krätze oder andere Hautkrankheiten, die sich zu schweren Infektionen entwickeln. Andere mussten brutalste Gewalt und Folter über sich ergehen lassen. Manche haben während der Überfahrt dann auch noch mit ansehen müssen, wie Mitreisende ertranken, und selbst Todesängste ausgestanden.» Psychologische Betreuung sei deshalb dringend nötig, sagt Montaldo. Weil es solche aber kaum gebe, habe Médecins sans Frontières im Auffangzentrum und in den Asylbewerberheimen der Region ein Psychologenteam im Einsatz.

Toleranz und Mitgefühl

Montaldo ist seit eineinhalb Jahren in Pozzallo. Noch nie sei die Lage so dramatisch gewesen, betont sie. Obwohl man längst nicht mehr von einem Ausnahmezustand reden könne, gehe Italien das Problem weiterhin mit kurzfristigen Notmassnahmen an. Im Auffangzentrum fehle es nicht nur an Psychologen, sondern auch an Übersetzern, an kulturellem Verständnis und an alltäglichen Dingen wie Telefonkarten.

Obwohl Pozzallo nach Beginn der Marineoperation «Mare Nostrum» im Oktober 2013 von Bootsflüchtlingen regelrecht überschwemmt wurde, bringt man diesen hier noch immer mehr Sympathien entgegen als wohl überall sonst in Italien. Laut einer Umfrage des «Corriere della Sera» waren Ende Juni nur noch 16 Prozent der Italiener der Meinung, dass ihr Land Kriegsflüchtlingen gegenüber eine Verpflichtung habe und diese aufnehmen müsse. 67 Prozent der Befragten sahen die Migranten als Bedrohung für die Sicherheit des Landes.

In Pozzallo hingegen findet man kaum jemanden, der ein schlechtes Wort über die Flüchtlinge verliert. «Vielleicht gerade deshalb, weil wir diesen in Fleisch und Blut begegnen», sagt der Bürgermeister, Luigi Ammatuna. «Diese Menschen riskieren ihr Leben. Das tut keiner, wenn er nicht in echter Not ist. Wer am Hafen steht, wenn sie in elendiglichem Zustand ankommen, bringt es schlicht nicht übers Herz, sie zurückzuweisen.»

«Das sind arme Teufel! Wir können nicht einfach wegschauen», sagt der junge Hotelbesitzer Giancarlo de Pirla. Auch der Chef des lokalen Gewerbeverbandes, Gianluca Manenti, stellt die Aufnahme von Migranten nicht infrage. «Sizilien war schon immer ein Schmelztiegel verschiedenster Rassen und Kulturen. Unsere DNA ist derart gemischt, dass wir gar nicht rassistisch sein können und uns Gastfreundschaft angeboren ist», erklärt er. «Viele hier haben Vorfahren, die zugewandert sind, andere solche, die sich in der Not gezwungen sahen, auszuwandern. Das hat uns gelehrt, Fremde zu respektieren.»

Die Solidarität ist umso bemerkenswerter, als die lokale Wirtschaft, insbesondere der Tourismus, schwer leidet. Früher lebte Pozzallo von Seefahrt und Fischerei. Doch mit der Globalisierung verloren diese Branchen an Bedeutung, und um neue Verdienstmöglichkeiten zu schaffen, setzte das Städtchen in den letzten 15 Jahren ganz auf den Tourismus. Der Start war vielversprechend, denn Pozzallo hat nicht nur Meer und Strand zu bieten, sondern im Hinterland auch beeindruckende spätbarocke Städte, die zum Unesco-Weltkulturerbe zählen. «Zwischen 2002 und 2008 erlebte die Tourismusindustrie einen wahren Boom», erzählt Manenti. «Es entstanden sieben Hotels und Dutzende von kleinen Pensionen, die zwischen April und Oktober meist voll ausgebucht waren. Davon profitierten auch Zulieferer und andere Dienstleister.»

Die Lügen der Medien

Doch dann kamen immer mehr Migranten. 2014 gingen in dem Städtchen mit knapp 20 000 Einwohnern über 28 000 Bootsflüchtlinge an Land, und im laufenden Jahr dürften es noch mehr werden. Die Zahl der Touristen ging derweil markant zurück. «Die Lage ist dramatisch», klagt Manenti, der selbst ein Restaurant und eine Pension besitzt. «Es ist bereits Juni und die Stadt noch immer fast menschenleer.»

Schuld an der Misere sei die irreführende Berichterstattung der Medien, schimpft der Gewerbeverbandspräsident. «Die Migranten halten sich mehrheitlich in dem Zentrum auf dem Hafengelände am Stadtrand auf. Und auch wenn sie in der Stadt auftauchen, stören sie niemanden.» Doch um Scoops zu landen, hätten Journalisten die absurdesten Lügen verbreitet. «Einmal war von einem Ebola-Ausbruch die Rede, ein anderes Mal von Infiltration durch den Islamischen Staat.» Auch der Bürgermeister ärgert sich darüber, dass die Lage von den Medien dramatisiert wird. «Man könnte meinen, Touristen seien hier nicht mehr sicher», klagt er. «Auf einer Nachrichten-Website schrieb ein Idiot sogar, man könne nicht mehr nach Pozzallo in die Ferien, weil dort Leichen im Meer schwämmen.»

Der Einbruch der Besucherzahlen hat den Ort umso härter getroffen, als er mit einer schweren Wirtschaftskrise einherging. Die Arbeitslosigkeit ist in Pozzallo deshalb noch höher als anderswo in Süditalien. Vor allem die Jungen finden keine Jobs und haben null Perspektiven. «Wir zahlen einen hohen Preis für unsere Gastfreundschaft», stellt der Bürgermeister fest, der 38 Jahre lang als Beamter tätig war und eigentlich längst in Pension wäre. Die Situation bereite ihm ernsthafte Sorgen. Die Stimmung könnte irgendwann umschlagen, mahnt Ammatuna. Denn allmählich fragten sich die Leute in Pozzallo schon, wieso der Staat all diese Fremden aufnehme und für seine Bürger gar nichts tue.

Das Auffangzentrum stelle für die Stadt auch eine grosse finanzielle Belastung dar, fügt er hinzu. Die Kooperative, die es führe, werde zwar vom Innenministerium in Rom bezahlt. Viele andere Kosten fielen aber auf die Gemeinde zurück. Der Bürgermeister arbeitet rund um die Uhr, um die Lage einigermassen zu beherrschen. «Ich bin von den Bürgern gewählt worden, um mich um ihre Belange zu kümmern. Doch 60 Prozent meiner Zeit gehen für die Migranten drauf.»

Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen im Norden lehnt Ammatuna die Aufnahme weiterer Flüchtlinge nicht ab. Er fordert aber mehr Entschädigungen und Förderprogramme für die am schwersten betroffenen Gemeinden im Süden. Weil er und seine Stadt bisher keinen Aufstand gemacht hätten, hätten sie wenig Gehör bekommen. Doch Rom und Brüssel müssten Pozzallo endlich mehr unter die Arme greifen, fordert er eindringlich.“

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