15. Juli 2015 · Kommentare deaktiviert für Tunesien, Gafsa: Sozialprotest und Antiterrorismus · Kategorien: Tunesien · Tags: , ,

Quelle: nzz

„Die Ausgeschlossenen von Gafsa. Die Krise in der tunesischen Phosphat-Industrie wird durch den Ausnahmezustand verschärft

Tunesiens Regierung hat den Ausnahmezustand verhängt. Das bedeutet vor allem weitreichende Befugnisse für das Militär im Kampf gegen Terroristen. Doch auch Streikende und Demonstranten dürfen die Sicherheitskräfte nun härter anfassen.

Annette Steinich, Gafsa

Tunesiens Staatspräsident Essebsi hatte eine Woche nach dem Terroranschlag auf ein Strandhotel in al-Kantaoui, bei dem am 26. Juni 38 ausländische Feriengäste ermordet wurden, den Ausnahmezustand verhängt. Erst im März vergangenen Jahres war dieser knapp vier Jahre nach der Revolution aufgehoben worden. Im «Krieg gegen den Terrorismus» kann nun das Militär zum Schutz der Zivilbevölkerung eingesetzt werden. Zu den erweiterten Befugnissen während des zunächst für dreissig Tage geltenden Ausnahmezustands gehört allerdings auch das Recht, Demonstrationen aufzulösen. Bereits am 5. Juli hat das Militär von diesem Recht Gebrauch gemacht und ein Sit-in von Arbeitslosen auf den Transportwegen zu einer Phosphat-Fabrik im südtunesischen Gafsa gewaltsam aufgelöst.

Tunesiens Reichtum

Gafsa hat Tunesien reich gemacht. Der symbolträchtige Ort war mehr als einmal ein Schauplatz sozialer Bewegungen mit landesweiter Wirkung. Doch unerbittlich ist heute der Verfall überall im Regierungsbezirk im Südwesten Tunesiens spürbar. Die Region hat eines der weltweit grössten Phosphatvorkommen. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Zehntausende aus ganz Nordafrika hierher, um in den Phosphatminen und Fabriken der Franzosen zu arbeiten. Heute sind die Strassen von Moulares, welches einst ein stolzes Bergbaustädtchen war, voller Schlaglöcher und Müll. Für die 40 000 Einwohner gibt es weder Parks noch Sportplätze. Die Ruine der ehemals französischen Kirche steht neben unverputzten Bauruinen, vor sich hinrostenden Maschinen und halbleeren Geschäften. Die Polizei hat sich zurückgezogen und hinter meterhohen Mauern vor dem Ortseingang verschanzt. Im Januar hatten hier aufgebrachte Jugendliche eine Polizeiwache in Brand gesetzt.

«Der Staat hat kein Interesse an uns als Bürgern. Er will nur unser Phosphat», sagt Wanis Benyunes. Sein Vater hat 37 Jahre in den Minen von Moulares gearbeitet, die meiste Zeit davon unter Tage. «Jeden Morgen hatte er Angst, dass er am Abend nicht wieder lebend aus dem Berg kommt», erinnert sich Benyunes. Der Geschichtslehrer steht auf der Seite der arbeitslosen Demonstranten, die hier wie in den Nachbarorten seit Wochen alle Zugänge zu den Phosphatminen blockieren. «Wir bekommen von der Entwicklung Tunesiens nichts mit», beschwert sich der 37-Jährige. Ob Diktatur oder Demokratie, die Missachtung der Menschen und ihrer Bedürfnisse im «bassin minier» sei immer gleich geblieben.

Er führt uns zu der Fabrik, die das Phosphat weiterverarbeitet. Sie ist seit Anfang Jahr geschlossen, weil kein Nachschub aus den Bergen kommt. «Wir haben noch einen Vorrat von mehr als einer Million Tonnen Phosphat», sagt er und zeigt auf die meterhohen Berge des wertvollen Rohstoffs. «Aber wir geben sie so lange nicht frei, bis die Regierung endlich mit einer Strategie, einem echten Programm für die Region zu uns kommt.»

«Wir verdienen nichts»

In Tunesiens Phosphatsektor herrscht schon seit Monaten der Ausnahmezustand. Bis zur Revolution 2010/11 hat die staatliche Phosphatgesellschaft Compagnie des phosphates de Gafsa (CPG) zusammen mit der weiterverarbeitenden Groupe Chimique Tunisien (GCT) etwa ein Fünftel des nationalen Haushalts, bis zu 4 Prozent des BIP und 10 Prozent der Deviseneingänge erwirtschaftet. Doch inzwischen ist Tunesien von Platz 5 auf Platz 16 der internationalen Rangliste der Phosphatproduzenten abgerutscht. Bis Mai hat die CPG nur 610 000 Tonnen Phosphat produziert. 2010 waren es noch 8 Millionen Tonnen, aus denen die Groupe Chimique täglich bis zu 5000 Tonnen Phosphorsäure hergestellt hat. Dieser Grundstoff für Dünger, Waschmittel oder Konservierungsstoffe in Lebensmitteln ging für stolze 750 Dollar pro Tonne vor allem nach Europa und Indien.

Doch jetzt ist Schluss mit der hohen Wertschöpfung. «Unter normalen Bedingungen haben wir bis zu 10 Millionen Dollar pro Tag eingenommen. Heute verdienen wir nichts», erklärt Mohammed Hamdi, Abteilungsleiter in der Groupe Chimique. Er ist Berater der Geschäftsführung, die weit weg von Moulares, in der Hauptstadt Tunis sitzt. Alle Gewinne fliessen in die Staatskasse, bisher ohne Rechenschaft über ihre Verwendung. Jetzt hat die Regierung versprochen, ein Zehntel davon in Entwicklungsprojekte in Gafsa zu stecken. Aber wenn die Blockaden weitergehen sollten und die CPG deshalb die Löhne an ihre fast 8000 Mitarbeiter nicht mehr zahlen könnte, befürchtet Hamdi bürgerkriegsähnliche Zustände in Gafsa.

Seit Anfang Juni läuft die Produktion in einigen Standorten schleppend wieder an, nachdem die Regierung den Demonstranten 1500 Stellen versprochen hat. Das ist das alte, seit fast einem Jahrzehnt erfolglose Muster: Auf die verzweifelte Forderung nach spürbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen antwortet der Staat mit der Schaffung von ökonomisch sinnlosen Arbeitsplätzen. Wirtschaftlichen Aufschwung bringt das ebenso wenig wie dauerhaften sozialen Frieden.

Regionale Misere

[…] Jeder Vierte ist arbeitslos im Regierungsbezirk Gafsa. Die meisten sind unter 35 Jahre alt und haben ein Diplom in der Tasche. Die Trinkwasserversorgung und die Spitäler sind schlecht. Gemeinderäte gibt es nicht. Die Umweltverschmutzung ist katastrophal. Streiks, Blockaden und Demonstrationen gehören seit Jahren zum Alltag. Schon 2008 war es zu Unruhen in der Region gekommen, die der Diktator Zine al-Abidine Ben Ali mit harter Hand niederschlagen hatte. Um sozialen Frieden zu schaffen, gründete der Staat zum Schein eine Umweltfirma mit mehr als 7000 Stellen, deren Gehälter jedoch nur eine Art Arbeitslosengeld sind. In Gafsa nahm seinen Anfang, was im Herbst 2010 zu einer landesweiten Bewegung der von Arbeit und Wohlstand Ausgeschlossenen wurde.

Eine Frage der Gerechtigkeit

Nun ist die erste demokratisch gewählte Regierung Tunesiens zwar seit fünf Monaten im Amt. Doch Premierminister Habib Essid ist es noch nicht gelungen, das Vertrauen der Bürger von Gafsa zurückzugewinnen. Der von ihm neu eingesetzte Gouverneur hat aus Angst vor dem Volkszorn noch keinen Fuss in die Bergbauorte gesetzt. «Wir wollen jetzt endlich Gerechtigkeit», fordert Lotfi Amor, Sprecher der Bürgerbewegung «Réseau Doustourna». Die Leute möchten wissen, was mit den von ihnen erwirtschafteten Reichtümern passiert und warum sie ihnen nicht zugute kommen. Die Situation in Gafsa sei ein nationales Problem, das mit Trostpflastern und leeren Versprechungen nicht mehr gelöst werden könne.

Die bisher mächtige Zentralgewerkschaft Union Générale Tunisienne de Travail (UGTT) wirkt hilflos angesichts der vielen sogenannten wilden Streiks, die ohne Zustimmung der gut organisierten Gewerkschafter zum letzten Druckmittel der Arbeitslosen geworden sind. Das Regionalbüro in Gafsa lehnt die Blockade der Phosphatminen ab, findet aber kein Gehör bei denen, die nichts mehr zu verlieren haben. Einen eigenen «Minen-Regierungsbezirk» zu fordern, so, wie es der radikale Rand der Minenbesetzer tut, hält der Gewerkschafter Abdallah für gefährlich: «Das spaltet nicht nur unsere Region, sondern das ganze Land.»

Kein Vertrauen mehr

Dabei gibt es auf dem Papier durchaus ein Massnahmenpaket: Es sieht neue Arbeitsplätze, den Ausbau von Strassen und eines grossen Spitals in Gafsa vor. Eine Kommission unter der Leitung von Kamel Jendoubi, Minister für die Beziehungen zur Bürgergesellschaft, soll die bisher undurchsichtigen Einstellungsverfahren überwachen, die Umweltfirma prüfen und eine langfristige Strategie für Gafsa entwickeln. Jendoubi, Menschenrechtler und Vorsitzender der ersten Wahlkommission 2011, will die aufgeheizte Stimmung besänftigen. […]“

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