13. Juli 2015 · Kommentare deaktiviert für Lampedusa: „Eine typische Nacht“ · Kategorien: Italien · Tags: ,

Quelle: Zeit Online

Lampedusa ist inzwischen ein Symbol für alles, was falsch läuft in der Welt. Es ist aber auch eine kleine Insel, auf der unser Reporter nach kurzer Zeit fast jeden kennt.

von Moritz von Uslar

Es war schon am zweiten Tag auf der Insel gegen acht Uhr abends, als uns eine unheimliche Langeweile überkam: Die goldene Abendsonne legte sich über den Hafen von Lampedusa. Wir hatten unsere Vespas geparkt, lehnten auf den Lenkern, ließen den Motor laufen, zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten lang, wir rauchten, guckten und gaben acht, dass uns auch die kleinste Bewegung im Hafen nicht entging. Auf einem Fischerboot faltete ein alter Mann seine Netze. Giuseppe von der Tauchschule Marina Diving trat aus seinem Haus heraus, er guckte und trat wieder in sein Haus zurück. Angela erschien auf der Terrasse ihres Lokals, auf der die Statue der heiligen Madonna die Ankömmlinge im Hafen begrüßt. Sie führte ein Telefonat am Handy, sie winkte, dann trat sie wieder in ihr Lokal zurück. Am Pier ankerten die rot-weißen Schnellboote der Guardia Costiera, der italienischen Küstenwache. Durch das Hafenbecken pflügte nun ein Kriegsschiff der Guardia di Finanza, der Finanzpolizei. Neben uns hatten die anderen Hafenbeobachter der Insel, Jungs mit Kappen und kurzen Hosen, ihre Vespas geparkt: Sie rauchten, guckten. Sollten wir noch einen Espresso trinken gehen? Ja, noch ein Espresso könnte eine sehr gute Idee sein. Wir fühlten uns schon wie echte Lampedusaner.

Am ersten Tag auf der Insel hatten wir, der Reporter und sein italienischer Fotografenkollege, uns ein Netzwerk von Informanten aufgebaut, die uns einen Wink geben sollten, wenn im Hafen von Lampedusa nachts ein Flüchtlingsboot erwartet würde: der Tauchlehrer Giuseppe; die Windsurflehrerin Adriana; die Restaurantbesitzerin Angela, eine Art First Lady Lampedusas. Sie kannte jeden auf der Insel und hatte Freunde bei der Küstenwache und der Polizei. Mimo, der Koch, der jeden Tag zur Mittagszeit im Caffè del Porto, dem Treffpunkt der Fischer, saß und auf den Hafen guckte. Mauro, der Sekretär der Bürgermeisterin der Insel, Signora Giusi Nicolini. Giacomo Sferlazzo, ein Singer-Songwriter, der bekannteste Popstar der Insel und ein Mitglied der linken Aktivistengruppe Askavusa. Er hat am Hafen ein Flüchtlingsmuseum eingerichtet. Valeria Gerace, Anwältin der Hilfsorganisation Save the Children. Sie sollte am morgigen Tag auf der Insel landen und dann für zwei Wochen im großen, im Osten der Insel gelegenen Auffanglager der Flüchtlinge arbeiten. Sie alle hatten uns freundlich und mit einem leicht genervten Ton erklärt, dass niemand sicher sagen konnte, wann ein Boot mit Flüchtlingen auf der Insel anlegte. Es konnte fünf, sechs oder zehn Stunden vorher angekündigt werden; und es konnte ohne Ankündigung eintreffen. Natürlich, wir waren nicht die ersten Journalisten, die auf der Insel Lampedusa über das Schicksal der afrikanischen Flüchtlinge berichteten. Die Offiziere der Guardia Costiera hatten uns klar gesagt, dass wir von ihnen mit keinerlei Unterstützung zu rechnen hätten: „Entschuldigung, die Herren. Aber wir sprechen nicht mit Journalisten. Wir haben Menschenleben zu retten.“

Lampedusa, die Stein- und Wüsteninsel im Mittelmeer, die äußerste Grenze, der südlichste Punkt der Europäischen Union: Sie liegt nur 140 Kilometer vom afrikanischen Festland, von Tunesien und Libyen entfernt, nach Sizilien sind es 250 Kilometer. Die Insel ist nicht mehr als ein Fleck im Mittelmeer: elf Kilometer lang in ihrer west-östlichen Ausdehnung, vier Kilometer von Süden nach Norden. Im Drama um die Tausende von Flüchtlingen, die sich von der Nordküste Afrikas auf Booten aufmachen, um die Grenzen Europas zu erreichen, ist das kleine Lampedusa zu einem Symbol geworden: die Grenzinsel, der Leuchtturm, das Tor nach Europa, das Tor zum Paradies. Und Lampedusa ist, vor allem in den letzten Jahren, zum Symbol für eine humanitäre Katastrophe und die gescheiterte Flüchtlingspolitik Europas geworden: Am 3. Oktober 2013, dem Schicksalstag der Insel, kenterten, nur 800 Meter vom Hafen von Lampedusa entfernt, zwei Flüchtlingsboote und rissen 368 Menschen in den Tod, unter ihnen 41 Kinder. Die Toten von Lampedusa wurden in einer Halle im Hafen aufgebahrt, Europa war geeinigt im Entsetzen über die Bilder, die um die Welt gingen, Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi stattete der Insel einen Kondolenzbesuch ab. Im Sommer 2013 hatte Papst Franziskus, gleich zu Beginn seines Pontifikats, Lampedusa besucht: Der Papst warf von einem Boot einen Blumenkranz ins Meer und prangerte in seiner Predigt die Mitleidlosigkeit der reichen Länder und die Skrupellosigkeit der Schleuser an. Im Oktober 2013 das nächste Unglück: 200 Flüchtlinge sterben beim Untergang eines Schiffes. Im April dieses Jahres die vorläufig letzte Katastrophe: Über 900 Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer.

Was sind das für Menschen, die Urlaub auf einer Flüchtlingsinsel buchen?

Die Toten vom Oktober 2013 hatten zur Einrichtung des Flüchtlings-Rettungsprogramms Mare Nostrum geführt – eines Programms, das mittlerweile aus Kostengründen eingestellt ist. Die EU-Grenzorganisation Frontex hat nun, mit deutlich limitierteren Mitteln, die Mission Triton ins Leben gerufen: Anders als Mare Nostrum hat Triton keinen humanitären Auftrag und die vorrangige Aufgabe, die EU-Außengrenzen zu schützen. Und die Flüchtlingszahlen steigen: Gut eine Million Menschen sollen an der Küste Libyens auf ihre Überfahrt an die Außengrenzen Europas warten. Neueste Zahlen der Hilfsorganisation Save the Children: 42.629 Flüchtlinge kamen zwischen Januar und Mai 2015 über den Seeweg nach Italien, darunter 4653 Frauen und 3747 Kinder, davon 2727 Kinder ohne Begleitung. Die großen Auffanglager auf Sizilien, in Catania und Siracusa, in Messina, Pozzallo und Augusta, sind überfüllt. Jetzt, zur Sommerzeit, wenn das Meer ruhiger ist als im Herbst und Winter, schaffen es die Boote bis an die Küsten Kalabriens. Während auch in Griechenland, zum Beispiel auf der Ferieninsel Kos, die Flüchtlingszahlen explodieren, bleibt Lampedusa das erste Ziel der Flüchtlinge, die tief aus dem afrikanischen Kontinent, aus Somalia, dem Sudan, aus Ghana und Eritrea kommen, der Sehnsuchtsort, der Rettungsanker.

An jenem Samstag im Juni setzt eine Boeing 747, gefüllt mit Touristen, auf der kurzen Landepiste Lampedusas auf. Man fragt sich schon, was das für Menschen sind, die in diesen Monaten einen Urlaub auf der Flüchtlingsinsel buchen. Natürlich, Lampedusa, das bis vor dreißig Jahren nur vom Fischfang lebte, ist ein Urlaubsparadies: schroffe Felsen am türkisen Wasser, karge Vegetation, traumhafte Sandstrände. Im Juni legen die Schildkröten, die ersten Touristikbotschafter der Insel, am Strand ihre Eier. Ein Reisemagazin wählte den Spiaggia dei Conigli zum schönsten Strand Italiens und zum zweitschönsten Strand Europas. Renato vom Hotel El Mosaico del Sol, der uns am Flughafen abholt, hatte uns schon am Telefon erklärt, dass wir unter Lampedusas Einwohnern mit einer gewissen Gereiztheit zur Flüchtlingsthematik zu rechnen hätten. Schon in der siebten Saison erlebe der Tourismus einen dramatischen, für die Insel existenzbedrohenden Rücklauf. Als 2011 in Tunesien der Arabische Frühling ausbrach, überschwemmten rund 5000 Immigranten die nicht ganz 6000 Einwohner zählende Insel. Es kam zu endzeitlich anmutenden Szenen: Die Bilder von afrikanischen Immigranten, die die Insel in ein großes Flüchtlingscamp verwandelten, prägen bis heute das Image der Insel. „Willkommen auf der schönsten Insel der Welt“, sagt Renato. Und Giuseppe von der Tauchschule Marina Diving erklärt: „Wenn ihr Immigranten sehen wollt, seid ihr hier falsch. Dann müsst ihr an den Hauptbahnhof von Mailand gehen.“

2011 wurde auf Lampedusa das von EU-Geldern und vom italienischen Innenministerium finanzierte Auffanglager errichtet. Ein Netz, das aus den im Mittelmeer kreuzenden Kriegsschiffen, der italienischen Küstenwache, der Guardia di Finanza, der Polizei, den Fischern von Lampedusa und aus Hilfsorganisationen, dem UN-Flüchtlingswerk, Save the Children, Amnesty International und dem Roten Kreuz, besteht, schuf eine Erste-Hilfe-Struktur, die aus dem täglichen Eintreffen der Flüchtlingsboote eine generalstabsmäßige, routiniert durchgeführte Operation macht. Täglich um zehn Uhr morgens legt der Siremar, eine Fähre der Reederei mit Sitz in Palermo, vom Hafen in Lampedusa ab und bringt die Flüchtlinge nach Porto Empedocle, in das nächste Flüchtlingslager an der Südküste Siziliens. Offiziell ist kein Flüchtling länger als 24 Stunden auf der Insel.

Und tatsächlich, bei der ersten Tour über die Insel begegnet uns nicht ein Immigrant. Die Lokale auf der Touristenmeile Via Roma heißen Caffè Cristal, Gleandin Pub und Trattoria La Cambusa, die Boutiquen Ali Bazaar und Lucky Turtle. Gedränge am Handyhüllen- und Selfiestick-Stand. In der Bar Isola delle Rose, dem Touristen-Hotspot, läuft astreiner Italopop. Einige heruntergekommene Gestalten treiben sich in der Wettstube Golden Bet herum. Hoch über dem Hafen liegt das stattliche Haus der Guardia Costiera. Der für die Insel typische offene Kübelwagen, in dem Touristen durch die Gegend sausen, heißt Mehari. Es ist eine blitzblank saubere Insel. Keine Zigarettenkippe liegt auf der Straße. Auffällig: Auf der Via Roma ist, anders als an anderen Touristenorten Südeuropas, kein Schwarzer zu sehen, der gefälschte Louis-Vuitton-Taschen verkauft.

Immer wieder verfangen sich Leichenteile in den Fischernetzen

Besuch bei Giacomo Sferlazzo und dem Museum, das er zum Gedenken an die Flüchtlinge und die Toten von Lampedusa eingerichtet hat. Auf der Terrasse vor dem Museum herrscht das für einen Ort der alternativen Szene typische kreative Durcheinander: Werkzeug, Bierflaschen. An der Hauswand ein Graffito: Suca Forte. Und ein wenig politisch konkreter: Proteggere le persone non i confini („Beschützt die Menschen, nicht die Grenzen“). Das Holztor des Museums ist aus den bunt gestrichenen, vom Meer verwaschenen Planken gestrandeter Flüchtlingsboote zusammengesetzt: Man möchte unweigerlich darüberstreichen. Giacomo, ein kleiner Mann mit wildem Rauschebart, überreicht seine letzte CD, er sieht sich als Aktivist der internationalen antiimperialistischen Linken: Als Sänger ist er auch schon auf dem Flüchtlingscamp am Berliner Oranienplatz aufgetreten. Seine Songtitel heißen Lampedusa 24.01.2009, benannt nach dem Tag, an dem Immigranten und Bewohner der Insel gemeinsam auf den Straßen demonstrierten, und Io non ho paura („Ich habe keine Angst“). Im Inneren des Museums, einem Höhlengewölbe, sammeln Giacomo und seine Mitstreiterin Francesca Treibgut, das mit den Flüchtlingsbooten an Land kam oder vom Meer angespült wurde – Gegenstände von so banaler wie erschütternder Alltäglichkeit: ein Taschenkoran, Segeltuchschuhe, arabisch beschriftete Musikkassetten, eine zerbrochene Sonnenbrille, Moskitospray, Fotografien, eine Packung Spaghetti aus Libyen. Gefragt nach dem Zustand der Insel, zeichnet Giacomo ein düsteres Bild, es klingt auch ein wenig nach einem Standardtext eines linken Aktivisten: Lampedusa sei längst ein Gefängnis, die Präsenz des Militärs nehme täglich zu, etwa ein Drittel der Insel sei militärisches Sperrgebiet. Sorgen machen Giacomo die Radarstationen, die das Militär überall auf der Insel errichtet habe, wegen der radioaktiven Strahlung litten immer mehr Einwohner an Krebs. Mit den Behörden liefere er sich einen zähen Kampf, da er die Bewegungen der Guardia Costiera filme. Die Beherbergung der Flüchtlinge nennt der Aktivist ein Geschäft: „Die Regierung auf Lampedusa greift das Geld aus Europa ab und steckt es in die eigene Tasche.“

Stopp bei den Fischern am Caffè del Porto: Hier bildet sich nach kurzer Zeit ein Knäuel heftig debattierender, gestikulierender und Kraftausdrücke spuckender Männer mit kurzen Hosen und Bärten. Wortführer sind Mimo, der als Koch der Guardia Costiera arbeitet, und der junge Fischer Lucio: Er war am Abend des 3. Oktober 2013 auf seinem Fischerboot und leistete Erste Hilfe, als die Flüchtlingsboote unweit des Hafens in Flammen gerieten. Und tatsächlich, die Fischer haben Ungeheuerliches zu berichten: Immer wieder verfangen sich Leichenteile in den Netzen. Die Batterien und Tanks versenkter Flüchtlingsboote verschmutzen die hafennahen Gewässer, immer wieder bleiben die Netze an den Booten hängen. Die Fischer führen ein großes Lamento: Die Regierung mache ein Riesengeschäft mit den Flüchtlingen, und die einfachen Menschen auf Lampedusa müssten bezahlen. Es sind die sprichwörtlichen Ängste der kleinen Leute: Man habe Sorge, dass die Flüchtlinge Krankheiten auf die Insel bringen. Mimo: „Ich bin nicht rechts, nicht links. Ich habe drei Kinder zu ernähren.“

Stopp an acht ausrangierten Flüchtlingsbooten, die, gleich einem Mahnmal, neben einem Sportplatz in der Mittagssonne aufgebahrt liegen: einfache Holzkähne, gerade einmal zehn Meter lang. Und weiter zum ersten neuralgischen Punkt der Flüchtlingsinsel Lampedusa, dem Auffanglager. Hier braucht es Nerven. Man sitzt nicht jeden Tag auf einer Vespa, unterwegs zu einem Flüchtlingslager.

Das rührende Ding, dass man sich zusammen hinsetzt und Musik macht

Trotz rechtzeitiger Anfrage hat das italienische Innenministerium uns Journalisten den Zutritt zum Auffanglager verwehrt. Die Bearbeitung von Presseanfragen dauert derzeit etwa zwei Monate. Die Straße endet an einem Metallzaun: Soldaten. Die Fahnen Italiens und der EU. Ein Schild gibt Auskunft, dass die Errichtung des Zentrums 2,6 Millionen Euro gekostet hat. Um das Auffanglager hat sich, immer am Zaun entlang, ein Trampelpfad gebildet: Die Soldaten lassen uns gewähren. Wir schleichen über rostige Stacheldrahtrollen, über Kakteen und Sand. Es hat, natürlich, auch etwas übel Voyeuristisches, von einem Trampelpfad aus in ein Flüchtlingslager zu spähen, aber das Gucken gehört nun mal zu unseren Aufgaben. Der Zaun ist ein einfacher Maschendrahtzaun, an vielen Stellen ausgeleiert und durchbrochen. Hinter dem Zaun liegen Plastikflaschen, Müll, menschliche Exkremente. Wir sehen: weiße, dreistöckige Containerbauten. Die Fassaden sind teilweise mit blauen Plastikplanen abgehängt. Zwischen den Bauten sind Hunderte schwarzer Menschen. Man sieht eine deutliche Überfüllung. Da sind zu viele Menschen in dem Lager. Sie stehen, sitzen auf Metallbänken und an Plastiktischen. Sie hocken. Sie liegen auf Schaumgummimatratzen. Sie tragen merkwürdige dicke Kleidung, Wollmützen, Kappen. Die Frauen sind in afrikanische Gewänder gehüllt. Zwischen den Flüchtlingen Soldaten, sie tragen Mundschutz und Plastikhandschuhe. Genauere Blicke auf die Korridore des Flüchtlingslagers: Da stehen Plastikflaschen-Batterien. Es gibt Telefonzellen. Wäsche hängt zum Trocknen auf den Metallzäunen. Die Kleidung, die vom Lager an die Insassen ausgegeben wird, besteht aus einem Trainingsanzug und rot-weiß-grün gestreiften Latschen. Allein dass alle Flüchtlinge im Lager schwarz und ihre Bewacher weiß sind, ist schon so komplett absurd. Über dem Lager liegt ein Stimmengeflirr. Es gibt wenig Unruhe zwischen den vielen Menschen. Es ist ein beinahe regloses, ein erschöpftes Hängen, Ruhen, Liegen, Lagern, Ausharren.

Am Maschendraht hängend, führe ich dann mein erstes Interview mit einem Flüchtling auf Lampedusa. Er lehnt in einem Fenster, neben der Plastikplane.

Müde?

„Ja.“

Hungrig?

„Nein.“

Wo kommen Sie her?

„Eritrea.“

Wo wollen Sie hin?

„Deutschland.“

Er reckt einen Daumen hoch, lächelt erschöpft. Interessant, die Flüchtlinge auf Lampedusa sprechen besser Englisch als die meisten Inselbewohner. Ein Soldat im Lager gibt uns Anweisungen: „Stay away.“ Die Besichtigung des Lagers ist beendet.

Treffen mit Giusi Nicolini, der Bürgermeisterin von Lampedusa, in ihrer holzgetäfelten Amtsstube am Hafen. Eine Frau in ihren Fünfzigern, mit Armani-Jeans, den für Süditalien obligatorischen blond gefärbten Haaren und einem prägnanten Gesicht. In Deutschland ist Frau Nicolini durch ein emotionales Interview auf ZEIT Online bekannt geworden, in dem sie Lampedusa als Krisengebiet bezeichnete und die europäische Flüchtlingspolitik für gescheitert erklärte. Man hat einfache Fragen an diese höchste Amtsträgerin der Insel: Hat Lampedusa ein Problem mit Flüchtlingen? Schnelle Antwort: „Lampedusa hat ein Problem mit der Immigrationspolitik im Mittelmeerraum, nicht mit Immigranten.“ Versteht sie, dass die Einwohner von Lampedusa erschöpft sind von der Flüchtlingsthematik? Das verstehe sie gut. „Die Menschen auf Lampedusa fragen schon lange: Warum holt man die Menschen dort drüben am afrikanischen Festland nicht mit Booten ab oder lässt sie mit Flugzeugen einfliegen? Denn sie erleben ständig die Ankunft vieler neuer Flüchtlinge und die Schiffsunglücke mit vielen Toten. Es ist eine absurde Situation.“ Im Juni 2015 – welches ist das größte Problem der Insel? Das größte Problem, so die Bürgermeisterin, sei die Wasserversorgung der Insel. Bisher sei das Wasser über Versorgungsschiffe gekommen. Durch den Bau einer mehrstufigen Entsalzungsanlage, die zu jeder Jahreszeit Trinkwasser liefere, sei das Problem gelöst. Eine vorrangige Aufgabe sehe sie in der zeitlichen Begrenzung der Unterbringung der Flüchtlinge im Auffanglager auf höchstens drei Tage. Das Lager biete Platz für 350 Insassen, derzeit seien es über 800: „Die Zustände im Zentrum sind menschenunwürdig.“ In einem Satz, wie lautet die Botschaft der Bürgermeisterin von Lampedusa an die deutsche Bundeskanzlerin? Angestrengtes Lächeln: „Ich bin viel weniger ärgerlich auf Deutschland als auf viele andere Länder, die ihre Pflichten nicht erfüllen.“ Die Aufnahme von Flüchtlingen sei nicht nur eine ethische, sondern eine politische Pflicht. Die Bürgermeisterin muss nun zu einem Termin, der den Sommerfahrplan der Luftkissenboote regelt, die zwischen Lampedusa und der Nachbarinsel Linosa verkehren. Ist sie manchmal müde, die höchste Politikerin der Flüchtlingsinsel zu sein? „Ich bedaure, dass ich es nicht früher geworden bin. Sonst gäbe es viele Probleme nicht, die wir heute haben, zum Beispiel die vielen Schwarzbauten.“

Vespa-Touren über die Insel. Am Abend sind wir vor Giacomos Museum zu einer Party eingeladen. Fünf afrikanische Flüchtlinge, die vor einem Jahr auf Lampedusa gelandet sind und mittlerweile in Messina leben, gedenken ihrer glücklichen Ankunft. Es gibt Bier aus Eiskübeln und Pizza. Die Gäste aus Messina sitzen mit den Aktivisten von Askavusa auf langen Holzbänken, sie trommeln, singen afrikanische Lieder. Das rührende Ding, dass man sich zusammen hinsetzt, gemeinsam Musik macht und singt. Pascal, ein zwanzigjähriger Junge aus Nigeria, mit einem England-Trikot bekleidet, führt einen ziemlich gut aussehenden Breakdance auf. Wildes Trommeln, wilde Gesänge, die Party kriegt einen irren Speed. Lampedusa ist eine Flüchtlingsinsel, die nur 140 Kilometer vor dem afrikanischen Festland liegt – da kann der arme Reporter aus Deutschland nicht mithalten.

Noch später am Abend geraten wir auf eine Taufgesellschaft in Angelas Restaurant. Hier trifft sich die wohlhabende, die vornehme Gesellschaft Lampedusas. Ein reich gedeckter Tisch mit wundervollen sizilianischen Nachspeisen, Dreijährige mit schwarzen Krawatten, Fünfjährige in rosa Tüllkleidern. Als die Gesellschaft erfährt, dass sich Journalisten auf der Terrasse befinden, werden einzelne Stimmen laut: „Wir wollen nicht mehr über Flüchtlinge reden.“ Wir Journalisten sollten berichten, dass Lampedusa eine Ferieninsel, keine Flüchtlingsinsel sei. Eine besonders aggressiv auftretende Dame, Lehrerin auf Lampedusa, erklärt: „Ich habe kein Problem mit Flüchtlingen, die Flüchtlinge haben ein Problem.“ Es machen Skandalgeschichten die Runde: Die reichen Flüchtlinge kämen aus Syrien, die kriminellen aus Libyen. Für besondere Empörung sorgt die Geschichte von Flüchtlingen, die Kleider der Caritas verweigert und stattdessen in den Boutiquen der Insel eingekauft hätten.

Und nachts soll, wie in jeder Nacht unseres dreitägigen Aufenthalts auf der Insel, wieder ein Kriegsschiff mit Flüchtlingen aus Libyen eingetroffen sein. Ankunft um halb zehn morgens am Hafen: In den Bauch der Siremar-Fähre rollen Lastwagen. Ein Bus des Hilfswerks Misereor: Hinter den Absperrgittern stehen rund 200 Flüchtlinge aus Ghana und Bangladesch beim Betreten der Fähre an. Es ist ein Auflauf der Teenager, die Männer sind kaum über zwanzig, vielleicht 17, 18, 19 Jahre alt. Fast alle tragen einen blauen Trainingsanzug, eine blaue Tasche und die rot-weiß-grünen Latschen. Glückliche Gesichter, die Männer hinter dem Zaun recken die Daumen hoch. Ein Flüchtling fragt, wohin die Reise geht: „Nach Rom? Nach Palermo?“ Abstruse Gespräche am Zaun: Abdul, 18 Jahre alt, stammt aus Ghana, in Tripolis hat er zwei Jahre als Automechaniker gearbeitet, für die Bootsfahrt von Libyen hat er 1200 Dinar bezahlt. Grauenhafte Zustände, als die englische Marine sie aus dem Meer fischte: „Es sind Menschen ertrunken.“ Abdul erzählt, dass er einen Bekannten in Köln habe: „Köln soll so eine schöne Stadt sein.“ E-Mail-Adressen-Austausch. Abschied.

Ein langer Tag auf der Insel. Warten. Starren auf die Bewegungen am Hafen. Giuseppe von der Tauchschule Marina Diving ruft an und meldet, zwei Deutsche seien auf der Insel gelandet. Es handelt sich um Harald Höppner von der privaten Hilfsorganisation Sea Watch und einen Kameramann. Höppner, bekannt von einem Auftritt in der Talkshow von Günther Jauch, möchte mit einem als Rettungsboot umgebauten ehemaligen Fischkutter zwischen Libyen und Lampedusa kreuzen und Erste Hilfe leisten mit Trinkwasser, Schwimmwesten und Rettungsinseln. Die MS Sea Watch befinde sich gerade bei Gibraltar, in zwei Wochen solle sie auf Lampedusa eintreffen. Valeria Gerace von Save the Children, die sich mit den Deutschen in der Bar Isola delle Rose trifft, warnt vor der gefährlichen Seite der privat finanzierten Mission: Flüchtlinge, denen sich ein Rettungsboot nähert, geraten in freudige Ekstase, die Menschen springen über Bord und können nicht schwimmen. Ein Rettungsteam, dem die Erfahrung fehle, könne mit der Situation auf hoher See überfordert sein. Höppner entgegnet: „Unser Ziel ist es, die EU-Außengrenzen nach Berlin zu bringen. Wir können nicht damit leben, dass an der EU-Außengrenze, die auch eine deutsche Grenze ist, jedes Jahr Tausende Menschen sterben.“ Deutscher Idealismus auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa.

Nicht auszudenken, was passiert, wenn an Bord eine Massenpanik ausbricht

Um acht Uhr dann der Anruf von Valeria: Gegen halb zehn abends solle ein Schiff der Finanzpolizei mit gut 300 Flüchtlingen an Bord am Hafen anlegen. Es ist ein Anblick wie aus einer RTL-Reportage: Die Scheinwerfer des Kriegsschiffs der Guardia di Finanza erhellen den Hafen. Rettungswagen, die Beamten der Carabinieri, Küstenwache, Rotes Kreuz, Männer mit gelben Sanitäterwesten. An Bord des Kriegsschiffs kauern an die hundert Menschen, Männer und Frauen getrennt, der Großteil der Flüchtlinge sitzt im Bauch des Schiffes. Die Beamten der Finanzpolizei tragen weiße Schutzanzüge. Einige Flüchtlinge sind in Wärmefolien gewickelt, einige liegen ausgestreckt an Deck und bewegen sich nicht. Kinder sind nicht zu sehen. Nicht einer der Flüchtlinge hat auch nur ein Stück Gepäck dabei. Einige Fakten dringen durch: Die englische Marine soll zwei Flüchtlingsboote gut 40 Kilometer vor Tripolis geborgen und der Finanzpolizei übergeben haben. Die Evakuierung der Flüchtlinge wird sich bis zwei Uhr morgens hinziehen, es ist ein beeindruckend ruhiger, fast gespenstisch stiller und kontrollierter Vorgang. An Land werden die Flüchtlinge einem medizinischen Schnellcheck unterzogen: Kontrolle der Hände, Bäuche, der Schamgegend. Dann werden sie in den wartenden Bus von Misereor geleitet. Der Gedanke, was passieren würde, wenn an Bord eine Massenpanik ausbräche und die Flüchtlinge an Land drängten: Die fünf Beamten der Carabinieri könnten sie unmöglich aufhalten. Bange Fragen am Hafenbecken: Wie schaut man einen Flüchtling an, der gut fünf Meter vor einem auf einem Boot sitzt? Soll man da lächeln? Eine Zigarette anbieten? Eine typische Nacht in Lampedusa: Ja, hier spielt sich, Nacht für Nacht, eine humanitäre Katastrophe ab. Wahrscheinlich ist, dass Europa noch ganz am Anfang einer humanitären Katastrophe steht.

Um acht Uhr morgens geht unser Rückflug. Für sechs Uhr morgens ist das nächste Schiff mit rund 200 Flüchtlingen aus Tripolis angekündigt.

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