16. Juni 2015 · Kommentare deaktiviert für „Kampf um Schengen: Wann fällt Dublin?“ · Kategorien: Frankreich, Italien · Tags:

Quelle: Telepolis

Kampf um Schengen. Wann fällt Dublin?

Matthias Monroy

Bayern und Sachsen nutzen Grenzkontrollen anlässlich des G7-Gipfels zum Frontalangriff auf das Schengener Abkommen. Die Regierung in Rom droht deshalb mit einem „Plan B“

Zwar dürfen die Binnengrenzen unter den EU-Mitgliedstaaten nicht mehr kontrolliert werden. Auch die sogenannte Schleierfahndung in Grenznähe ist strikt reglementiert. Trotzdem haben deutsche Polizisten ihre Grenzkontrollen bereits nach Ungarn, Italien und Serbien vorverlagert. Auch mit Österreich laufen Verhandlungen zu gemeinsamen Streifen. Rechtskonservative fordern nun die Wiedereinführung von permanenten Kontrollen deutscher Grenzen. Ziel ist, aus Italien kommende Geflüchtete zur Umkehr zu zwingen. Mit einem Festakt beging die EU-Kommission am Samstag in Luxemburg den 30. Jahrestag des Schengener Abkommens. Außer dem Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker war auch der Kommissar für Inneres und Migration, Dimitris Avramopoulos, ‏angereist.

Seine Presseabteilung gab eine eigene Broschüre heraus und twitterte mehrfach zu den Errungenschaften des in dem Winzerdörfchen an der Mosel unterzeichneten Schengener Abkommens.

Den Vertrag zum schrittweisen Abbau der Grenzkontrollen hatten zunächst nur Luxemburg, Frankreich, Deutschland, Belgien und die Niederlande unterzeichnet. Inzwischen gehören 26 Länder zum Schengen-Raum, davon 22 EU-Mitgliedstaaten sowie Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz. Alle Vertragspartner verpflichten sich, an ihren Binnengrenzen keine Personenkontrollen mehr durchzuführen und die Grenzanlagen bis zur Unsichtbarkeit zurückzubauen.

Nicht nur Bewohner der Schengen-Staaten, sondern auch alle Drittstaatsangehörigen haben seitdem das Recht auf einen unkontrollierten Grenzübertritt. Selbst bei Flügen dürfen nur Mindestkontrollen zur Überprüfung der Identität vorgenommen werden. Wer dennoch glaubt unrechtmäßig kontrolliert worden zu sein, kann sich mit einem Beschwerdeformular an die EU-Kommission wenden.

Bundespolizei kontrolliert schon jetzt zu oft

Das Schengener Abkommen enthält auch sogenannte Notfallregelungen. Dadurch erhalten Regierungen die Möglichkeit, im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit einzuführen. Allerdings nur maximal vier Wochen und auch nur mit vorheriger Information aller übrigen Schengen-Staaten.

Vor allem Deutschland und Frankreich machten hiervon bei grenzüberschreitenden Gipfeltreffen und Fußballspielen so oft Gebrauch, dass sich die beiden Länder eine Rüge der EU-Kommission einhandelten (Die verbriefte Reisefreiheit innerhalb der EU ist Geschichte).

Denn die Wiedereinführung der Kontrollen an Binnengrenzen bei Polit- und Sport-Events ist keinesfalls ein Muss, sondern erfordert das Vorliegen entscheidender Sicherheitsrisiken.So hatte sich Belgien vergangenes Jahr entschieden, entgegen der zuvor erfolgten Benachrichtigung zum G7-Treffen im Juni 2014 letztlich doch keine Kontrollen durchzuführen.

Ganz anders die deutsche Bundespolizei, die sich anlässlich des G7-Gipfels in Bayern – obwohl die internationale Beteiligung an den Protesten von vornherein mau aussah – trotzdem zur teilweisen Aussetzung des Schengener Abkommens entschloss. Die Kontrollen wurden bereits am 26. Mai begonnen und umfassten nicht nur bayerische Grenzübergänge. Auch in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und an großen Flughäfen wurde wieder systematisch kontrolliert.

Gipfelgegner wurden dabei kaum aufgespürt und zurückgeschickt, wohl aber Migranten. Insgesamt zählte die Bundespolizei 10.555 Verletzungen des Aufenthaltsrechts, mehr als 3.500 Personen wurden vorläufig festgenommen (G7-Polizeibilanz: 360.000 Überprüfungen bei Grenzkontrollen). Auch seien Urkundendelikte, Rauschgiftdelikte und Vergehen nach dem Waffengesetz aufgedeckt worden .

Rechtswidrige Schleierfahndung

Die Bundesländer haben die für Notfälle vorgesehen Grenzkontrollen also ohne Vorliegen einer Gefahrenprognose zweckfremd genutzt. Anstatt dies zuzugeben, geht Bayern sogar in die Offensive und fordert permanente Kontrollen gegen irregulär eingereiste Migranten. Diese zunächst vom Innenminister Joachim Herrmann (CSU) vorgetragene Forderung wird mittlerweile vom Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) und seiner Fraktion unterstützt.

Zwar werde es keine „Schnellschüsse“ geben, doch kündigte Herrmann an, die Fahndung an den bayerischen Grenzen zu intensivieren.

Die als Schleierfahndung bezeichneten Streifen in Grenznähe sind im Schengener Grenzkodex definiert. Sie dürfen keinesfalls wie eine „Grenzübertrittskontrolle“ und schon gar nicht systematisch erfolgen. Reisende dürfen nicht aufgrund ihres Äußeren kontrolliert werden.

Schon jetzt geht Deutschland mit derartigen Kontrollen im Grenzgebiet zu weit, bei der EU-Kommission ist deswegen ein entsprechender Vorgang anhängig. Nach einem Aufforderungsschreiben wegen der mutmaßlichen Nichteinhaltung des entsprechenden Artikels des Schengener Grenzkodexes durch die Bundespolizei befindet sich die Kommission derzeit in einem „Meinungsaustausch“ mit der Bundesregierung.

Vermutlich hat Bayern aber die Anwendung des neuen Notfallmechanismus im Sinn, den Deutschland und Frankreich vor zwei Jahren als Antwort auf den Arabischen Frühling durchgesetzt hatten. Ein damals hineinverhandelter „Kompromiss zum Schengen-Governance-Paket“ sieht vor, dass Binnengrenzen bei zuviel unerwünschter Migration ebenfalls wieder kontrolliert werden dürfen.

Während der Notfallmechanismus bei internationalen Gipfelprotesten und Fußballspielen eine maximale Dauer von vier Wochen vorsah, dürfen die Grenzübergänge zur Migrationskontrolle für bis zu zwei Jahre wieder besetzt werden. Die neue Regelung trat nach einer Übergangsphase im Herbst vergangenen Jahres in Kraft.

Sofort hatten der CSU-Generalsekretär und der bayerische Innenminister angekündigt, sich bei der Bundesregierung für die Anwendung der Klausel an der Grenze zu Österreich stark zu machen (Lampedusa nun doch ein Vorort von Kiefersfelden).

Rechtskonservative fordern das Ende der europäischen Freizügigkeit

Bayern will das Thema nun bei der nächste Woche in Mainz tagenden Innenministerkonferenz auf die Tagesordnung setzen. Auch Sachsen hat sich dem Vorhaben angeschlossen. Schützenhilfe erhalten die beiden Bundesländer von der AfD, die in einer Petition die komplette „Wiedereinführung der Grenzkontrollen an den deutschen Landesgrenzen“ fordert.

Das wäre das Ende der europäischen Freizügigkeit, die einst als größte Errungenschaft der Europäischen Union gefeiert wurde. Letztlich richten sich die Maßnahmen vor allem gegen die italienische Regierung, der Herrmann schon letztes Jahr den Bruch europäischer Verträge vorwarf.

Bayern kritisiert die Nichteinhaltung des Dublin-Abkommens. Es schreibt vor, welche Pflichten bei einem Antrag auf Asyl einzuhalten sind. So ist jener Staat für die Durchführung des Verfahrens verantwortlich, in dem die Geflüchteten ankommen. Vor allem aber müssen die Behörden den Gestrandeten die Fingerabdrücke abnehmen, damit diese bei einem zweiten Asylantrag in einem anderen EU-Mitgliedstaat identifiziert werden können.

Laut dem jüngsten Halbjahresbericht der Kommission zum „Funktionieren des Schengen-Raums“ meldete Italien in 2014 erneut die bei Weitem höchste Zahl von aufgenommenen Geflüchteten, gefolgt von Griechenland und Ungarn. Wie im Vorjahr wurden vor allem syrische oder eritreische Staatsangehörige bei der Einreise aufgegriffen. Ein erheblicher Anstieg sei demzufolge auch aus dem Kosovo zu verzeichnen.

Die temporäre Wiedereinführung der Grenzkontrollen in Süddeutschland ist in Italien deutlich spürbar. Viele Geflüchtete stranden an Bahnhöfen in Mailand und Rom, die Bahnhofsverwaltung hat dort immerhin Notunterkünfte eingerichtet. Nachdem auch Frankreich am Grenzübergang Ventimiglia wieder kontrolliert, hatten Geflüchtete dort stundenlang für Bewegungsfreiheit demonstriert.

Einige traten in Hungerstreik, dessen ungeachtet setzte die Polizei Knüppel ein. Laut dem Präfekt des französischen Departements Alpes-Maritimes seien während des G7-Gipfels 1.439 Personen an der französisch-italienischen Grenze aufgehalten worden. Ein Großteil sei nach Italien zurückgebracht worden.

Allerdings hat Deutschland seine Grenzkontrollen längst bis weit nach Südeuropa vorverlagert. Auf Drängen der Bundesregierung stimmte Italien im November der Einführung von „trilateralen Polizeistreifen“ zu. Deutsche und österreichische Polizisten kontrollieren nun auf italienischem Hoheitsgebiet in Eisenbahnzügen auf der Brennerroute. Aus Deutschland sind die Bundespolizeidirektion München sowie das Polizeipräsidium Oberbayern Süd beteiligt.

Offiziell sollen „international agierende Schleuserorganisationen“ aufgespürt werden, in der Realität werden aber vor allem Flüchtlingsfamilien aus den Zügen herausgeholt und nach Italien zurückgebracht. Die Kontrollen hätten laut Bayerns Innenminister „vor allem abschreckende Wirkung“.

Das Bundesinnenministerium geht einen Schritt weiter und lobt die Zusammenarbeit als „erfolgreich“. Im März wurde die Operation deshalb auf die Fährhäfen in Ancona, Bari, Brindisi, Triest und Venedig ausgeweitet.

Deutsche Grenze wird auch in Serbien kontrolliert

Seit Februar führt die Bundespolizei tägliche „trilaterale Streifen“ auch in Ungarn durch. Kontrolliert werden über Österreich nach Deutschland verkehrende Züge. Ebenfalls seit Februar hat das Bundesinnenministerium 20 Beamte der Bundespolizei zur Unterstützung der serbischen Grenzbehörde entsandt. Sie bringen ihre eigenen Fahrzeuge und Wärmebildkameras mit und tragen die „übliche Mannausstattung“ mit Pistole, Knüppel und Pfefferspray.

Offiziell läuft der Einsatz in Serbien unter der Leitung der EU-Grenzagentur Frontex. Ebenfalls unter Mithilfe der Bundespolizei hat Serbien kürzlich ein „trilaterales Polizeizentrum“ mit Mazedonien und Montenegro eingerichtet.

Auch an der serbisch-ungarischen Grenze wurden Kontrollen verstärkt, Ungarn erwägt sogar den Bau einer neuen Sperranlage.

Unter der Leitung von Ungarn und Österreich nimmt die Bundespolizei an EU-Operationen zum Aufspüren unerlaubter Migration teil. Sie richten sich vor allem gegen Geflüchtete aus dem Kosovo, eine der Operationen trägt den Namen „Jagdrevier“. Nun wird auch die Etappe bis nach Deutschland dichter überwacht: Die Bundesregierung verhandelt eine „Kooperationsabsprache“ mit Österreich über die Durchführung gemeinsamer Streifen auch auf deutschem oder österreichischem Hoheitsgebiet.

Schon die „trilateralen Streifen“ deutscher Polizisten in Ungarn und Italien höhlen das Schengener Abkommen aus. Die deutschen Kontrollen anlässlich des G7-Gipfels für einen gänzlich anderen Zweck, nämlich das Aufspüren von irregulären Migranten zu nutzen, dürften ebenfalls einen Verstoß gegen das Abkommen darstellen. Denn Bayern will letztlich nur Zahlen präsentieren, um die EU-Kommission zu einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Italien zu zwingen.

Mehr Solidarität oder mehr Kontrolle? Der Plan B aus Rom

Für den Fall, dass die italienische Regierung tatsächlich zur Aufnahme von noch mehr Migranten gezwungen würde, verlangt der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi das Ende oder zumindest eine Änderung des Dublin-Abkommens. Zu Recht droht er den übrigen EU-Mitgliedstaaten mit einem Plan B, sollten die Verhandlungen über eine gerechte Verteilung der in Italien sich in aufhaltenden Geflüchteten scheitern.

Vermutlich wird Renzi fordern, erstmals von einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2001 Gebrauch zu machen. Sie zwingt die EU-Mitgliedstaaten im Falle eines „Massenzustroms von Vertriebenen“ zu einer „ausgewogenen Verteilung der Belastungen“.

Die Regelung gilt insbesondere für Personen, die „aus Gebieten geflohen sind, in denen ein bewaffneter Konflikt oder dauernde Gewalt herrscht“. Für Syrien trifft das ohne Zweifel zu. Aber auch Geflüchtete aus Eritrea könnten von der ebenfalls enthaltenen Klausel „ernsthaft von systematischen oder weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen bedroht“ betroffen sein.

Nach dem 30jährigen Schengen-Jubiläum werden auch die EU-Innenminister morgen in Luxemburg zusammenkommen. Dann wird nicht nur über die Abkommen von Schengen und Dublin entschieden, sondern auch darüber ob die europäische Flüchtlingsfrage mit mehr Solidarität oder mehr Kontrolle beantwortet wird.

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