09. Juni 2015 · Kommentare deaktiviert für Libyen: Fluchthilfe und Milizenpropaganda – nzz · Kategorien: Italien, Libyen · Tags: , ,

Quelle: Pressreader

„Ein Fischkutter ohne Fischgeruch

Um das Schlepperwesen vor der Küste Libyens zu bekämpfen, fordert Tripolis dringend Unterstützung aus Europa

[…] Beat Stauffer, Misrata

Das schwer gesicherte Hauptquartier der Küstenwache von Misrata liegt nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Am Pier dümpeln zwei Polizeiboote, am Ufer liegt eines der an Land geschleppten Schlauchboote. Hier befindet sich das Reich von Oberst Reda A. Essa. Der elegant gekleidete Kommandant der Küstenwache ist Ingenieur und hat etwas Weltläufiges. Vor kurzem noch nahm er in Spanien an einem Kongress von Migrations- und Sicherheitsexperten teil. Nun stellt er sich, mit heiserer Stimme, den Fragen einer Handvoll europäischer Journalisten.

Essa sagt gleich zu Anfang, dass die Küstenwache in seinem Sektor funktioniere, es aber an Ausrüstung und Material fehle. Europa habe mehrfach versprochen, die libysche Küstenwache zu unterstützen; geschehen sei nichts. Die vier älteren Schiffe, die zur Überholung in eine italienische Werft gebracht worden seien, habe Italien wegen des Konflikts in Libyen nicht retourniert. Auch der in Aussicht gestellte Informationsaustausch funktioniere aus denselben Gründen bis heute nicht.

Doch verschliesst seine Regierung bezüglich des Schlepperwesens nicht grösstenteils die Augen? «Wir machen, was wir können», sagt Essa mit Nachdruck. Die Küstenwache nehme in libyschen Küstengewässern regelmässig Migranten fest, und die Sicherheitskräfte der Tripolis-Regierung verhafteten immer wieder Schlepper. […]

Garabuli, Tajoura, Sabratha und Zuwara sollen demnach die vier wichtigsten Umschlagplätze für Migranten und Flüchtlinge sein. Um nicht den Verdacht der lokalen Behörden zu wecken, mieden Schlepper zunehmend die Häfen und benutzten stattdessen kleine Schlauch- oder Holzboote, um die Flüchtlinge von einsamen Stränden aus zu den Fischkuttern oder grossen Schlauchbooten hinauszufahren. Anschliessend übergeben die Schlepper den Flüchtlingen in den meisten Fällen ein GPS sowie ein Satellitentelefon mit der Nummer der italienischen Küstenwache. «Rund 30 Meilen von der libyschen Küste entfernt senden diese dann einen Notruf aus und melden, das Boot sinke», sagt Essa. Auf solche Weise sei die Rettung durch die italienische Küstenwache fast garantiert. Militäreinsätze gegen Schlepperboote lehnt Essa ab; sie wären, so sagt er mit Entschiedenheit, kontraproduktiv. Tatsächlich seien die meisten Schlepper schon unter Ghadhafi aktiv gewesen, sagt Essa. In den Revolutionswirren seien sie freigelassen worden und hätten seither leider weitgehend freie Hand.

Auch würden sie politisch instrumentalisiert: In Tajoura östlich von Tripolis soll bis Mitte April ein Schleuser namens Abdallah Sassi tätig gewesen sein, der von der Regierung in Tobruk unterstützt worden sei, um die Tripolis-Regierung gegenüber Europa in Misskredit zu bringen. Mitte April sei der angebliche Schleuser und Agent bei einem «Gefecht» getötet worden.

Raffinierte Geschäftsmodelle
Aus europäischer Sicht besonders brisant sei, so Essa, dass die am Geschäft mit der illegalen Emigration beteiligten Schlepper höchstwahrscheinlich auch von Sizilien und Süditalien aus operierten; in Libyen sei man gegenwärtig daran, die Indizien dafür zu sichten. Sollte dies zutreffen, stünde Italien ebenso sehr im Fokus wie die libysche Seite. Der zweite Vorwurf betrifft die Verwicklung italienischer Fischer ins Schleppergeschäft. Essa schildert einen konkreten Fall: So habe die libysche Küstenwache auf hoher See jüngst zwei grosse italienische Fischkutter kontrolliert. Der eine habe eine grosse Ladung Fisch an Bord gehabt, der andere sei ohne Fracht gewesen und habe bloss fünf Mann Besatzung mit sich geführt. Bei einem Fischkutter dieser Grösse brauche es aber mindestens 60 Leute. Höchst auffällig sei zudem gewesen, dass das Schiff keinerlei Fischgeruch aufgewiesen habe.

«Auf einem solchen Fischkutter könnten ebenso gut Waffen oder Menschen geschmuggelt werden», sagt Essa. […] Essa berichtet zudem von ägyptischen Fischern, die auf dem Hinweg entlang der Küste Flüchtlinge aufnähmen, diese in der Nähe von Lampedusa auf Schlauchbooten aussetzten und sich dann auf dem Rückweg nach Ägypten dem Fischfang widmeten – ein raffiniertes und rentables Geschäftsmodell.

Italienische Komplizenschaft?
Schliesslich stellen sich aus libyscher Sicht auch Fragen zum Verhalten der italienischen Küstenwache. Besteht möglicherweise eine Komplizenschaft zwischen den Schleppern und der italienischen Küstenwache? «Ich kann diese Frage nicht beantworten», sagt Essa. Das Thema sei heikel und könnte diplomatische Spannungen auslösen. Für ihn sei aber klar, dass auf beiden Seiten des Mittelmeers «Geldsummen unter dem Tisch verschoben werden». Sobald es handfeste Belege gebe, würden die Behörden darüber informieren.

Zum Schluss bringt Oberst Essa die Sache auf einen einfachen Nenner: Es sei unmöglich, das Schlepperwesen nur von einer Seite aus zu bekämpfen. Libyen suche deshalb die Zusammenarbeit mit Europa und brauche dringend Unterstützung: Drohnen, Nachtsichtgeräte, Schnellboote, Helikopter. […] Auf rund 1,5 Millionen Menschen schätzt er die Zahl der afrikanischen Migranten in Libyen. Und fügt hinzu: «Ich glaube, dass in nächster Zeit 500 000 von ihnen versuchen werden, nach Europa zu ziehen.»“

Kommentare geschlossen.