03. Mai 2015 · Kommentare deaktiviert für “ Flucht aus Syrien“ – Spiegel Online · Kategorien: Syrien · Tags: ,

Spiegel Online

71 Tage, 3000 Euro und sieben Paar Schuhe

Von Raniah Salloum

Der 26-jährige Ahmad U. aus Syrien erklärt, wie man einen Schlepper findet und was die Reise kostet. Seine Flucht hat er mit dem Handy dokumentiert. Den Schleusern ist er dankbar.

Ahmad U. war nicht aufzuhalten. Der hagere 26-Jährige wollte weg aus Syrien, seit im Herbst 2012 eine Rakete ins Haus der Nachbarn einschlug. Er musste mit seinen Eltern in eine sicherere, aber teurere Gegend von Damaskus flüchten. Dort teilten sie sich mit Verwandten eine Unterkunft: neun Personen in einem Zimmer. „Es gibt für mich keine Zukunft in Syrien“, entschied er.

Die Kurzversion seiner bisherigen Odyssee geht so: Im Februar 2013 flog Ahmad U. nach Malaysia, das einzige Land, für das er noch ein Touristenvisum bekam. Er blieb, obwohl er nicht durfte. Als illegaler Einwanderer kam er ins Gefängnis, wo es täglich nur eine Schale Reis gab. Manchmal wurde er geschlagen – und im September 2014 schließlich nach Syrien abgeschoben. Eine Woche später machte er sich auf nach Europa.

Viel wird derzeit diskutiert über Schlepper und über Flüchtlinge. Zu Wort kommen aber ausgerechnet die Menschen, die fliehen, selten. Ahmad U. will aus seiner Perspektive erzählen. Für ihn sind Schlepper Helden: „Klar, manche sind Soziopathen, denen geht es nur ums Geld. Aber viele interessieren sich fürs Wohlergehen ihrer Passagiere.“

Den Schleusern ist er dankbar.

Ahmad U. war nicht aufzuhalten. Der hagere 26-Jährige wollte weg aus Syrien, seit im Herbst 2012 eine Rakete ins Haus der Nachbarn einschlug. Er musste mit seinen Eltern in eine sicherere, aber teurere Gegend von Damaskus flüchten. Dort teilten sie sich mit Verwandten eine Unterkunft: neun Personen in einem Zimmer. „Es gibt für mich keine Zukunft in Syrien“, entschied er.

Die Kurzversion seiner bisherigen Odyssee geht so: Im Februar 2013 flog Ahmad U. nach Malaysia, das einzige Land, für das er noch ein Touristenvisum bekam. Er blieb, obwohl er nicht durfte. Als illegaler Einwanderer kam er ins Gefängnis, wo es täglich nur eine Schale Reis gab. Manchmal wurde er geschlagen – und im September 2014 schließlich nach Syrien abgeschoben. Eine Woche später machte er sich auf nach Europa.

Viel wird derzeit diskutiert über Schlepper und über Flüchtlinge. Zu Wort kommen aber ausgerechnet die Menschen, die fliehen, selten. Ahmad U. will aus seiner Perspektive erzählen. Für ihn sind Schlepper Helden: „Klar, manche sind Soziopathen, denen geht es nur ums Geld. Aber viele interessieren sich fürs Wohlergehen ihrer Passagiere.“

Ohne Schlepper hätte Ahmad U. es nicht geschafft. Einen legalen Fluchtweg gab es für ihn nicht. Kein Land der Welt wollte ihn 2014, im vierten Jahr der Gewalt in Syrien, einreisen lassen – nicht einmal Ägypten oder Syriens Nachbarländer. Je schlimmer die Gewalt in Syrien, desto strenger wurden die Einreisebedingungen für Syrer, vor allem für palästinensischstämmige wie ihn.

„Sichere und bequeme Reise alle 15 Tage“

Über eine halbe Million Menschen in Syrien stecken in derselben Situation. Er ist zwar im Land geboren und aufgewachsen wie auch seine Eltern; von der Universität in Damaskus hat er einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften. Doch seine Großeltern waren 1948 vor dem Krieg aus dem damaligen Palästina nach Syrien geflüchtet. Danach durften sie nie wieder in das nun israelische Staatsgebiet zurückkehren. Syrien hat die palästinensischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen nie eingebürgert. Sie sind staatenlos.

In Europa würde Ahmad U. sofort Asyl bekommen. Doch dorthin gibt es keinen legalen Weg für ihn.

Die Schlepper wissen das – und bieten drei Angebote an:

15.000 – 20.000 Euro: So viel kosten ein gefälschtes Touristenvisum für die europäische Schengenzone und ein Flugticket von Beirut nach Europa. Eine sichere Variante, ohne Lebensgefahr, nur können sich das nur die Reichsten leisten. „Ein falsches Visum zu bekommen, war für mich so unwahrscheinlich wie ein echtes“, sagt Ahmad U.

920 – 2300 Euro: 2300 Euro kostet derzeit die Überfahrt von Libyen nach Italien. Vor einem halben Jahr, als Ahmad U. loszog, lag der Preis noch bei 920 Euro. Aktuelle Angebote werden in einer Facebook-Gruppe veröffentlicht. Der Preis ist nicht verhandelbar, es gibt wenig Anbieter. Pro Schiff fahren Hunderte Menschen mit. Syrer müssen zudem weitere 1400 Euro einkalkulieren – für die heimliche Einreise nach Libyen von Algerien oder dem Sudan aus. In diese beiden Länder können sie noch visafrei einreisen. Ahmad U. hätte als Staatenloser zudem 2000 Euro für einen falschen syrischen Pass bezahlen müssen. Doch ihm war die Fahrt von Nordafrika aus zu riskant.

1200 – 2200 Euro: So viel kostet die heimliche Überfahrt von der türkischen Küste zu den nahe gelegenen griechischen Inseln. Diese Route ist ein wenig sicherer, denn die Mittelmeerfahrzeit ist kürzer. Es gibt viele Anbieter. In den Grenzstädten und auf mehreren Facebook-Seiten konkurrieren sie um Kunden („sichere und bequeme Reise alle 15 Tage von Izmir auf die griechischen Inseln“). Ahmad U. entschied sich für diese Option. Als Staatenloser musste er zudem 270 Euro bezahlen, um sich in die Türkei schleusen zu lassen. Von Griechenland aus kann man sich ab 800 Euro weiterschmuggeln lassen über Albanien, Montenegro, Serbien und Ungarn bis nach Österreich, dann nach Deutschland, Schweden oder England – je weiter, desto teurer.

Syriens Bürgerkrieg sorgt für einen Schmuggelboom

Die Gewalt in Syrien lässt den Menschenschmuggel nach Europa florieren. Nicht nur die Nachfrage ist gestiegen, sondern auch die Summen, die im Spiel sind: Syrien war vor Beginn des Konfliktes kein armes Land, sondern gehörte in die Kategorie der Länder mit mittlerem Einkommen.

Dies habe enorme Auswirkungen, schreibt „The Global Iniative against transnational organized crime“ (GITOC), ein Netzwerk von Flüchtlingsexperten: Der Schmuggel verwandele sich vom improvisierten Kleinkriminellentum zu einer zunehmend professionalisierten, großangelegten Operation.

Insgesamt brauchte Ahmad U. von Damaskus nach Wien 71 Tage, knapp 3000 Euro, die ihm seine Eltern von Etappe zu Etappe überwiesen, und sieben Paar Schuhe. Die zwei schlimmsten Wegstrecken waren die Durchquerung Syriens und die Mittelmeerüberfahrt.

„An einem Checkpoint des Regimes wurden wir windelweich geschlagen, bis einer aus unserer Gruppe verriet, wer von uns der Schlepper ist. Dem haben sie 50.000 syrische Pfund (etwa 250 Euro) abgeknöpft und uns dann weiterziehen lassen. An anderen Checkpoints wurde uns allen ein wenig Geld abgeknöpft“, erzählt Ahmad U.

Auf der Fahrt von der Türkei nach Griechenland stand die kleine Gruppe Todesängste aus.

„Wir waren auf einer Art Schlauchboot – mit 36 Leuten! Kurz nachdem wir losgefahren waren, sagte der Schlepper , wir sollten immer weiter in diese Richtung fahren. Er sprang ins Wasser und schwamm davon.“ Die Gruppe im Boot versuchte verzweifelt, den Weg zu finden, glaubte sich schon verloren. „Der Wind und die Wellen haben uns beinahe zum Kentern gebracht“, erinnert sich Ahmad.

Nach fünf Stunden erreichten sie eine griechische Insel. Von dort brachten die Behörden sie ans Festland.

Von Griechenland aus hat Ahmad U. sich über den Balkan weiterschmuggeln lassen. Mit seinem Handy hat er ein Video aufgenommen. Es zeigt das Innere eines Lastwagens, der ihn und andere Menschen aus Syrien durch Albanien an die Grenze Montenegros brachte.

„Mir geht es gut in Österreich“, sagt Ahmad U. „Ich muss mich nicht verstellen, weil ich nicht religiös bin.“ Nur bei Behördengängen fühle er sich manchmal mies, weil er noch nicht viel Deutsch könne: „Manche Beamten verweigern einfach komplett, mit uns Englisch zu sprechen.“

Die gefährliche Reise würde der 26-Jährige jederzeit weiterempfehlen. „Es ist einfach so: Es sterben mehr Menschen, die sich dazu entschieden haben, in Syrien zu bleiben, als Menschen, die versuchen von Syrien nach Europa zu kommen“, sagt er. Seit Beginn des Konfliktes in Syrien 2011 sind über 210.000 Menschen getötet worden.

Die Hälfte von waren ihnen Zivilisten. So wie Ahmad U.

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