27. Februar 2013 · Kommentare deaktiviert für Algerien: Rätsel um In Amenas · Kategorien: Algerien, Frankreich · Tags: ,

Rätsel um In Amenas

Jörg Tiedjen*, Februar 2013

http://www.algeria-watch.de/de/artikel/2013/raetsel_in_amenas.htm

Gerade erst hatte am 11. Januar in Mali die französische „Operation Serval“ begonnen, mit dem erklärten Ziel, den abtrünnigen Norden zurückzuerobern und die dortigen Jihadisten zu bekämpfen. Da überfiel am 16. Januar, eine knappe Woche später, ein Kommando Schwerbewaffneter die Gasförderanlage von Tigenturin bei In Amenas im Osten Algeriens, weit über tausend Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt. Die Nachrichten, die nach außen drangen, waren genauso widersprüchlich, wie bis heute offizielle Erklärungen und Rekonstruktionen des Tathergangs entscheidende Fragen offen lassen: Woher kam das Kommando? Wer waren die Angreifer, und wer war ihr Anführer? Hatten sie Helfer vor Ort? Und worauf genau zielte der Überfall?

In den meisten Berichten heißt es, dreißig bis vierzig schwer bewaffnete Angreifer verschiedener Nationalität hätten in Geländewagen die nicht weit von In Amenas entfernte algerisch-libysche Grenze passiert, um im Morgengrauen einen oder auch zwei Busse zu überfallen, mit denen ausländische Arbeiter, die sich auf dem Rückweg in ihre Heimat befanden, vom Werksgelände zum Flughafen von In Amenas überführt wurden. (1)
Nach dem Scheitern dieses Versuchs hätten die Terroristen kurzerhand die gesamte Fabrik besetzt, um nun dort Geiseln zu nehmen, mit denen sie am kommenden Tag hätten entkommen wollen, obwohl das Gelände mittlerweile von mehreren algerischen Spezialeinheiten, Kampfhubschraubern und einem Panzerbataillon abgeriegelt war. Zugleich sollen sie versucht haben, mit Hilfe besonders präparierter Raketen die Förderanlagen zu zerstören.

Die Pläne der Terroristen seien jedoch durch das entschlossene Vorgehen des algerischen Militärs vereitelt worden, so die offizielle Darstellung. Als Stratege der Kommandoaktion wird – zumal nach einem angeblichen Bekennervideo, das mauretanischen Medien zugespielt worden war (2) – immer wieder Mokhtar Belmokhtar genannt, von dem es heißt, dass er schon in seiner Jugend nach Afghanistan gepilgert sei, sich dann unter den „Bewaffneten Islamischen Gruppen“ (GIA) im algerischen Bürgerkrieg hervorgetan habe und anschließend zu den Mitbegründern der „Salafitischen Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC) zählte. Vor Kurzem erst habe er sich aber von der GIA- und GSPC-Nachfolgerin „Al Qaida im islamischen Maghreb“ (AQMI) abgesetzt und eine eigene Salafi-Truppe namens „Die mit Blut unterzeichnen“ gegründet. Ziel des Angriffs auf In Amenas sei gewesen, Gefangene freizupressen, darunter den in den USA inhaftierten „blinden Scheikh“ Omar Abdel Rahman, und ein Ende der Militärintervention in Mali zu erzwingen. Insbesondere hätten die Kidnapper die Gewährung von Überflugrechten über algerisches Territorium an Frankreich als ein entscheidendes Motiv für den Überfall genannt.

Inszenierter Terror?

Aber kann sich das Geiseldrama von In Amenas wirklich auf diese Weise ereignet haben? Wer sich seit längerer Zeit mit den Geschehnissen in der Sahara und im Sahel beschäftigt, den dürften spätestens bei der Nennung Belmokhtars Zweifel befallen. So hat der Sahara-Experte Jeremy Keenan in seinem Buch „Dark Sahara“ nachzuzeichnen versucht, unter welch dubiosen Umständen sich in den letzten zehn Jahren in der Sahara und im Sahel die immer wieder apostrophierte „terroristische Bedrohung“ ausbreitete. (3) Ausgangspunkt ist dabei die Geiselnahme von über dreißig Sahara-Touristen im Süden Algeriens 2003, die auch in Deutschland monatelang in den Schlagzeilen stand, da sich unter den Entführten überwiegend deutschsprachige Urlauber befanden. Schon damals aber soll Belmokhtar einer der Drahtzieher gewesen sein.

Keenans Misstrauen nährte einmal der eigentümliche Widerspruch, dass Belmokhtar zuvor vor allem mit dem Zigarettenschmuggel durch die Sahara in Verbindung gebracht wurde, weswegen einer seiner Spitznamen auch „Monsieur Marlboro“ lautet. Zigarettenschmuggel ist aber ein äußerst lukratives Geschäft, dessen Gewinne im Jahr auf Milliarden Euro geschätzt werden. Das können Entführungen zur Erpressung von ein paar Millionen Lösegeld nicht nur kaum wettmachen – mehr noch entziehen sie dem Schmuggel obendrein den Boden, da sie zwangsläufig eine verstärkte Präsenz von Sicherheitskräften nach sich ziehen.

Es waren aber nicht zuletzt Aussagen der Geiseln und von anderen Augenzeugen sowie augenfällige Widersprüche in der offiziellen Darstellung des Tathergangs, die Keenan in dem Verdacht bestärkten, dass die Entführer mit dem algerischen Geheimdienst DRS in Verbindung gestanden haben müssen. So gelangte er zu dem Schluss, dass es sich bei der Entführung wahrscheinlich um eine gemeinsame Operation Algeriens und der USA handelte, mit dem Ziel, die Militarisierung der Sahara im Zeichen des weltweiten „Antiterrorkampfs“ überhaupt erst zu legitimieren, getreu dem Motto: Wo noch keine Terroristen sind, da werden sie eben selbst inszeniert. Wenn aber Keenans Analysen stimmen, dann steht nicht nur Belmokhtar in Verbindung zum DRS. Auch andere namhafte Jihadisten-Führer stünden, gelinde gesagt, mit dem DRS auf vertrautem Fuß – wie zum Beispiel Iyad Ag Ghali, Chef der malischen „Ansar ed-Dine“.

Fortsetzung des „schmutzigen Krieges“?

Es geht also keineswegs nur um die Frage, ob die Geiselnehmer von In Amenas über Helfer vor Ort und entsprechend genaue Informationen zum Beispiel über die Unterbringung der ausländischen Arbeiter auf dem Werksgelände verfügten, gar dort vorab Waffen versteckt hatten, wie später berichtet wurde. (4) Es geht um nichts Geringeres als um den Verdacht, dass Geheimdienste wie der DRS den Überfall inszeniert haben oder doch gewissermaßen auf einen „fahrenden Zug“ aufgesprungen sein könnten, zum Beispiel um zu beweisen, was aus algerischer Sicht zu beweisen war, nämlich die Omnipräsenz der „terroristischen Gefahr“. Auch belegt der Überfall exakt, wovor Algerien, das Frankreich gerne aus dem Konflikt in Mali heraushalten wollte, immer warnte: dass eine Militärintervention der früheren Kolonialmacht in dem südlichen Nachbarland die gesamte Region zu destabilisieren drohe, einschließlich Algeriens selbst. (5)
Dass Algerien Terror selbst inszeniert, ist dabei alles andere als abwegig und war schon während des in den Jahren vor der Geiselnahme 2003 beendeten Bürgerkriegs immer wieder nicht nur vermutet, sondern durch eine ganze Reihe von Zeugen, darunter zum Teil hochrangigen Deserteuren der algerischen Armee, bestätigt worden. Aufsehen erregte vor allem der frühere algerische Offizier Habib Souaïdia 2001 mit seinem Buch „La sale Guerre – Der schmutzige Krieg“, in dem er beschrieb, wie das eigene Militär Hand in Hand mit den von ihm unterwanderten Jihadisten der GIA Massaker an der Zivilbevölkerung verübte – bevorzugt dort, wo diese bei den Wahlen Anfang der Neunziger Jahre die fundamentalistische „Islamische Heilsfront“ (FIS) unterstützt hatte. (6) Der Grund war ein mehrfacher: Einmal sollten die dem Militär nicht genehmen Fundamentalisten von der FIS diskreditiert und blutig mitsamt ihren Sympathisanten dezimiert werden; zweitens rechtfertigte man mit den angeblich von Seiten der Fundamentalisten selbst begangenen Massaker die Repression und Verweigerung von Demokratie; und drittens sicherte man sich auf diese Weise die Waffenbruderschaft der USA im globalen „Antiterrorkampf“, der ja schon lange vor dem „11. September“ ausgerufen worden war.

In einem Artikel für „Algeria Watch“ stellt Souaïdia, der seit seiner Veröffentlichung im Exil lebt, nun auch die offizielle Darstellung des Überfalls auf In Amenas in Frage. (7) Er beruft sich auf anonyme Quellen anscheinend aus dem algerischen Militär. Wie andere Kritiker ist er der Überzeugung, dass die Terroristen ohne Zusammenarbeit mit dem DRS niemals die Gasfabrik hätten erreichen können – weder von Libyen aus, dessen Grenze unter anderem durch französische Aufklärungsflüge bewacht wird, noch gar auf dem Weg durch das Landesinnere. Frankreich ist aber nicht allein in Libyen militärisch präsent, sondern kooperiert bereits seit Langem mit dem algerischen Militär, wie Souaïdia mit Recht hervorhebt. Es ist auch nicht das einzige westliche Land, das über zahlreiche Militärbasen in der Region verfügt: Spätestens seit der Entführung 2003 ist US-Militär sogar in Algerien selbst stationiert. Dass Belmokhtar sich angesichts der Mali-Intervention gegen die Gewährung von Überflugrechten gewandt haben soll, könne entsprechend nur glauben, wer sich mit den Verhältnissen vor Ort nicht auskenne.

Souaïdia bezweifelt, dass die Jihadisten wirklich die Fabrik sprengen wollten, und weist die Aussagen der algerischen Militärs über die Kampfstärke der Geiselnehmer als weit übertrieben zurück. Seinen Informationen zufolge seien die von ihnen mitgebrachten Raketen und Sprengstoffe für einen Anschlag auf die Fabrikanlagen kaum geeignet gewesen, wenn sie überhaupt funktionierten. Das lasse darauf schließen, dass es ihnen vor allem um die Geiselnahme gegangen sei.

Vor allem aber weist Souaïdia auf das skrupellose Vorgehen des algerischen Militärs in dem Geiseldrama hin: So soll der Einsatzstab, in dem ein beispielloses Durcheinander und Kompetenzgerangel geherrscht habe, ohne jede Rücksicht auf Verluste unter den Geiseln Befehl gegeben haben, die Maschinengewehrstellungen der Terroristen mit Lenkraketen zu beschießen, um so den Sturm der besetzten Fabrik durch die Spezialkräfte vorzubereiten. Gleichwohl habe es auch unter diesen zahlreiche Opfer durch eigenen Beschuss gegeben, was vom Führungsstab bewusst hingenommen worden sei.

Was passierte also wirklich in In Amenas? Wir wissen es nicht und werden es vielleicht nie wissen – und möglicherweise könnte genau dies beabsichtigt gewesen sein, dass sich nämlich über die Konfliktregion in der Sahara und im Sahel ein dichter Mantel des Schweigens legt, unter dem der Krieg der Geheimdienste und Spezialkräfte unbeobachtet weitergeht, ein Krieg um die Ressourcen jener Gegend und ein Krieg gegen deren Bewohner, darunter die Tuareg, deren Existenznöte allerdings nur umgekehrt durch eine größtmögliche Öffentlichkeit auf regionaler Ebene beendet werden könnten.

Fußnoten

(1) Vgl. zur offiziellen Variante:
http://www.dna-algerie.com/reportage/dna-a-reconstitue-le-fil-des-evenements-dans-les-coulisses-de-l-attaque-terroriste-d-in-amenas-2
http://www.guardian.co.uk/world/2013/jan/25/in-amenas-timeline-siege-algeria
http://www.guardian.co.uk/world/middle-east-live/2013/jan/17/algerian-islamists-hostages-standoff-live#block-50f87b2695cb5d055131b6b6
http://www.ani.mr/?menuLink=9bf31c7ff062936a96d3c8bd1f8f2ff3&idNews=20580

(2) Zum Bekennervideo und der mauretanischen Berichterstattung allgemein:
http://www.dailymotion.com/video/xwyggd_jihadist-leader-belmokhtar-claims-algeria-attack_news#.USuGICJtxWU
http://www.ani.mr/?menuLink=9bf31c7ff062936a96d3c8bd1f8f2ff3&idNews=20563
http://www.ani.mr/?menuLink=9bf31c7ff062936a96d3c8bd1f8f2ff3&idNews=20573

(3) Jeremy Keenan, The Dark Sahara. America’s War on Terror in Africa (2009) London – New York, Pluto Press; vgl. auch:
http://www.monde-diplomatique.fr/2005/02/MELLAH/11905
http://pambazuka.org/en/category/books/61617
http://www.washingtonpost.com/world/national-security/us-missteps-defined-anti-terror-effort-in-n-africa/2013/02/04/b98640ba-6cab-11e2-a396-ef12a93b4200_story.html

(4) Zu den Frage nach Helfern vor Ort:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/geiselnahme-in-algerien-terroristen-von-ain-amenas-hatten-komplizen-a-878785.html
http://www.spiegel.de/politik/ausland/algerien-islamisten-sollen-helfer-in-ain-amenas-gehabt-haben-a-879463.html
http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/africaandindianocean/algeria/9828736/Algeria-hostage-crisis-BP-and-partners-used-transport-company-owned-by-terrorists-brother.html

(5) Darauf weist José Garçon hin:
http://lobservateurdumaroc.info/2013/02/11/mystere-detat/

(6) Habib Souaïdia, Schmutziger Krieg in Algerien (2001) Zürich, Chronos

(7) Die Analyse von Souaïdia:
http://www.algeria-watch.org/fr/aw/souaidia_in_amenas.htm

Jörg Tiedjen ist Redakteur der Zeitschrift „inamo“

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