Losego, Sarah Vanessa: Fern von Afrika. Die Geschichte der
nordafrikanischen "Gastarbeiter" im französischen Industrierevier von
Longwy (1945-1990) (= Industrielle Welt 76). Köln: Böhlau Verlag Wien
2009. ISBN 978-3-412-20432-7; 559 S.; EUR 72,90.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Marcel Berlinghoff, Zentrum für Europäische Geschichts- und
Kulturwissenschaften, Universität Heidelberg
E-Mail: <Marcel.Berlinghoff@zegk.uni-heidelberg.de>
Die Geschichte der algerischen Migration nach Frankreich gehört zu den
rechtlich wechselhaftesten, politisch umstrittensten und durch das lange
Tabu des Algerienkrieges emotionalsten Kapiteln der europäischen
Einwanderungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg.
Sarah Vanessa Losego hat eine mosaikartig angelegte mikrohistorische Studie zur Inklusion vor
allem algerischer Migrant/innen im nordfranzösischen Industrierevier von
Longwy vorgelegt, in der sie sozial- und ideengeschichtliche Ansätze
verbindet. Die Arbeit ist als Dissertation im Forschungskontext des SFB
600 "Fremdheit und Armut" an der Universität Trier entstanden, der sich
dem "Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur
Gegenwart" widmet. Analog beschränkt sich Losego auch nicht auf die
Darstellung und Analyse vergangener Inklusionspraktiken und
Exklusionsprozesse, sondern bezieht auch gegenwärtige Diskurse über
Migration und 'Integration' konzeptionell in ihre Überlegungen mit ein.
Dies nicht zuletzt, um, wie sie in ihrem Schlussteil schreibt, mit einer
"(selbst-)kritischen und selbstbewussten Migrationsforschung" dazu
beizutragen, "dass sich in den nationalen und internationalen Debatten
ein (historisch) informierter, unpolemischer und redlicherer Blick auf
Migranten und Migrationsphänomene durchsetzen wird." (S. 504).
"Fern von Afrika" - der Titel ist aus dem Inhalt nicht ganz
nachzuvollziehen und weckt andere Erwartungen - gliedert sich in drei
nebeneinander stehende und nur lose verbundene Hauptteile. Im ersten
wird die Einbürgerungspraxis im Untersuchungsgebiet zwischen 1945 und
1990 erforscht, im zweiten die auf nordafrikanische Arbeitsmigranten
gerichtete Integrationspolitik der lokalen Ebene für die unmittelbare
Nachkriegszeit bis zum Ende des Algerienkriegs analysiert und
schließlich im dritten Teil auf Basis von Audio-Mitschnitten eines
illegalen Lokalradios die Erinnerungskultur in der Region untersucht.
Dem vorgelagert ist ein einführendes Kapitel, in dem Losego die
"Möglichkeiten und Grenzen einer mikrohistorischen Studie" erörtert und
ihre methodischen und konzeptionellen Voraussetzungen darlegt. Dazu
gehören erstens ein differenziertes Verständnis von 'Integration'
jenseits holistischer Konzepte, die Losego zufolge zu dichotomen und
ethisch-normativ aufgeladenen Vorstellungen sozialer Wirklichkeit
führten; zweitens die Verwendung des mikrohistorischen Konzepts der
'Strategie', welches "die Bedeutung spezifischer Handlungsoptionen und
-muster von Akteuren in konkreten historischen Kontexten
herausarbeit[e]" (S. 30); und drittens "eine für die
'Gender-Problematik' sensibilisierte" (S. 31) und transnationale Praxen
integrierende Perspektive. Damit bewegt sich Losego
forschungstheoretisch auf der Höhe der Zeit internationaler sozial- und
kulturwissenschaftlicher Migrationsforschung.
Im ersten Hauptkapitel widmet sich Losego dem als dialektischem
Zusammenspiel zwischen Administration und Einbürgerungskandidat/innen
verstandenen Einbürgerungsverfahren. Dabei folgt sie der Aufforderung
Alexis Spires, "in den Kellern der französischen
Einwanderungspolitik"[1] zu stöbern und ist äußerst fündig geworden.
Anhand der umfangreichen Dossiers, die im Rahmen dieses Verfahrens über
die Antragsteller von den Behörden erstellt wurden, analysiert sie das
jeweilige historisch vorherrschende Verständnis von 'Anpassung' und
'Würdigkeit' und zieht aus diesen Akten Schlüsse über die Beweggründe
von Ausländern, die französische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Neben
den umfangreichen Datensätzen der Einwanderungsbehörden des Beckens von
Longwy stützt sich Losego auf die aus Paris kommenden
Verwaltungserlasse, um dem sich wandelnden Verständnis bzw. der
strategisch wechselnden Politik der Naturalisation nachzugehen. Dabei
bezieht sie die jeweiligen politischen und sozio-ökonomischen Umstände
auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene ausführlich in die
Darstellung mit ein. Im Untersuchungszeitraum von 1945-1990
unterscheidet sie fünf Phasen, in der sich jeweils politische,
demographische und ökonomische Aspekte in ihrer Bedeutung für das
Einbürgerungsregime abwechselten. Zugleich macht Losego eine deutliche
Zweiteilung aus: Im Zuge der Erosion der traditionellen
Inklusionsstrukturen des Industriearbeitermilieus habe sich ab Mitte der
1970er-Jahre ein Wandel der Einbürgerungspraxis abgezeichnet, der sich
unter anderem durch eine Verrechtlichung des Verfahrens auszeichnete.
Gleichzeitig sei insbesondere für die nordafrikanischen Migrant/innen
die Einbürgerung ein notwendiger Schritt gewesen, um der Exklusion durch
europäische Binnenmarktstrukturen auf dem Arbeitsmarkt (Freizügigkeit)
zu entgehen. Diese konnte in einer Region, in der ein Großteil der
Arbeitsplätze jenseits der Grenze lag, existenziell werden.
Die Spezifika der französischen Integrationspolitik gegenüber
algerischen Migrant/innen im Becken von Longwy vor, während und nach dem
algerischen Unabhängigkeitskrieg stehen im Mittelpunkt des zweiten
Kapitels. Dabei diskutiert Losego ausführlich die seitens der
französischen Eliten vorherrschenden Vorstellungen der Differenz der
nordafrikanischen bzw. bis zur algerischen Unabhängigkeit 1962 offiziell
französischen "muslimischen" Staatsbürger/innen Algeriens ("Français
musulmans d'Algérie") und arbeitet fünf Motive heraus, die den Diskurs
über das vermeintliche "nordafrikanische Problem in Lothringen" (S. 251)
ausmachten: Das Motiv der "gefährlichen Klasse", das des "zweifach
proletarisierten Proletariats", das der "Integration ohne Assimilation",
das der "Psychologisierung des Sozialen" sowie das der "nationalen
Pflicht zur Solidarität". Diese Motive zeichnet sie anschließend in den
Verlautbarungen und Korrespondenzen von drei privat bzw. halbstaatlich
organisierten sowie vorwiegend öffentlich finanzierten Vereinen nach,
die sich der Betreuung, Unterbringung und Förderung 'bedürftiger' oder
'benachteiligter' nordafrikanischer Migrant/innen verschrieben hatten.
Deutlich werden dabei sowohl die Kontrolleffekte der Unterbringung in
staatlich subventionierten Wohnheimen, als auch die Vereinnahmung dieser
Orte durch rivalisierende algerische Unabhängigkeitsgruppen. Hinzu
treten die Versuche und Erfahrungen einzelner Migrant/innen, ihr Leben
zwischen den konkurrierenden Institutionen Staat, Gewerkschaft, private
Vereine und algerische Organisationen einzurichten.
Auf Basis von Audio-Mitschnitten des illegalen Gewerkschaftsradios
"Lorraine Coeur d'Acier" (LCA), das im Zuge der Proteste gegen die
Werksschließungen im Becken von Longwy 1979/80 auf Sendung war, widmet
sich Losego im dritten Teil der lokalen Erinnerungskultur. Radio LCA
wurde von der kommunistischen Gewerkschaft CGT betrieben, bot jedoch
einer breiten Öffentlichkeit die Chance, auch kontroverse Meinungen zu
diskutieren und diente als Gegenöffentlichkeit gegenüber den staatlichen
und arbeitgebernahen Medien. Anhand der lebensgeschichtlichen Interviews
in der Geschichts-Sendung "Le passé présent" arbeitet die Autorin ein
"integratives Migrationsgedächtnis" (S. 432) heraus, das die Region als
"Schmelztiegel" verschiedener Migrationen charakterisierte und dabei vor
allem von den Kindern der italienischen (und polnischen) Migranten der
Zwischenkriegszeit geprägt wurde. Referenzpunkte der Inklusion seien
insbesondere der Zweite Weltkrieg und die Résistance einerseits sowie
die Gewerkschafts- und Industriearbeit andererseits gewesen. Die
nordafrikanische Migration komme jedoch in diesem Gedächtnis nicht oder
höchstens partiell am Rande vor, weshalb Losego zusätzlich Mitschnitte
der LCA-Sendung "La parole aux immigrés" analysiert. Hier spielten
jedoch vor allem aktuelle Probleme der Migrant/innen eine Rolle;
individuelle Migrationserfahrungen aus der Vergangenheit seien nicht
thematisiert worden. Losego macht dafür zum einen die Konkurrenz von
gewerkschaftlichen und offiziellen (französischen wie algerischen)
staatlichen Erinnerungen an den Algerienkrieg, zum anderen die Tatsache
verantwortlich, dass es sich bei der nordafrikanischen um eine relativ
'junge' Migration handelte. Dies habe zu einem Rückzug algerischer
Migrant/innen aus dem öffentlichen Gedächtnisdiskurs geführt. Hinzu
trete die Erosion der gewerkschaftlichen und schwerindustriellen
Lebenswirklichkeit für die jüngere Generation, die seit den späten
1970er-Jahren auf den Arbeitsmarkt kam.
Sarah Vanessa Losego bietet mit ihrer quellengesättigten Arbeit eine
sehr gut lesbare und weitgehend überzeugend argumentierende
mikrohistorische Studie zur Inklusion von Migrant/innen und ihren
Familien in einem nordfranzösischen Industrierevier. Entgegen dem Titel
untersucht sie dabei nicht nur die algerische bzw. nordafrikanische
Gruppe der 'Gastarbeiter' sondern bezieht insbesondere 'italienische
Migranten' der 'zweiten Generation' in ihre Studie mit ein. Auch wenn
die drei Teile eher solitär nebeneinander stehen - und auch gut als
Einzelstudien gelesen werden können - so ergeben sie in der Kombination
doch ein breites Bild des Wandels von Inklusionsprozessen in dieser
Region. Eine zusätzliche Ebene an Zwischenüberschriften oder deutlichere
Überleitungen innerhalb der Unterkapitel hätten die Orientierung im Text
zwar verbessern können und doch schmälert dies nicht die grundsätzliche
Empfehlung für Leser/innen, die sich für die französische
Migrationsgeschichte oder historische und aktuelle Inklusions- und
Exklusionsprozesse interessieren.
Anmerkung:
[1] Alexis Spire, In den Kellern der französischen Einwanderungspolitik
(1945-1975), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary
History, Online-Ausgabe, 2 (2005), H. 3,
<http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Spire-3-2005>
(11.07.2012).
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Matthias Middell <middell@uni-leipzig.de>
URL zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-3-065>