23. Februar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Regierung beschließt das noch vor einem Jahr Undenkbare“ · Kategorien: Deutschland · Tags: ,

Welt | 22.02.2017

Fußfesseln, Handydurchsuchung, konsequente Abschiebung: Nach dem Terror in Berlin macht die Regierung Druck. Altmaier vergleicht mittlerweile Unsicherheit in Afghanistan mit der in Frankreich.

Von Marcel Leubecher, Mareike Kürschner

Eine kleine Spitze kann sich Thomas de Maizière (CDU) nicht verkneifen, als er die Einigung des Bundeskabinetts auf das „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ vor der Presse verkündet. Er habe ja wesentliche Elemente schon im vergangenen August und Oktober vorgeschlagen. Damals sei aber „noch nicht alles auf fruchtbaren Boden gefallen“, sagt der Bundesinnenminister. In der Zwischenzeit habe sich das durch den Fall Amri und andere Ereignisse geändert.

Bis zum Mittwoch hatten noch einige in der Union befürchtet, das Justizministerium von Heiko Maas (SPD) könnte in der Ressortabstimmung dem – von de Maizières Haus erarbeiteten – Gesetzentwurf den Zahn ziehen. Und damit das Ziel, wesentlich mehr ausreisepflichtige Ausländer in ihre Heimat zurückzubringen, in weitere Ferne rücken.

Vor allem will der Staat härter gegen kriminelle und gefährliche Migranten vorgehen. Wenn der Beschluss wie erwartet zügig und ohne große Änderungen durch den Bundestag kommt, kann künftig Abschiebehaft gegen einen ausreisepflichtigen Ausländer, „von dem eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben oder bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, künftig auch dann verhängt werden, wenn die Abschiebung nicht innerhalb des Dreimonatszeitraums möglich sein wird“. Bisher wird in solchen Fällen die allgemeine Gefährdung durch den mittelfristig nicht Abschiebbaren in Kauf genommen.

Zudem sollen künftig vollziehbar ausreisepflichtige – also nicht geduldete – Ausländer, elektronisch überwacht werden dürfen, falls die Gefahr des Untertauchens vor der Abschiebung besteht. Das heißt, sie müssen eine elektronische Fußfessel tragen.

Wer seine Duldung, also die befristete Aussetzung der Abschiebung, „durch vorsätzlich falsche Angaben oder durch eigene Täuschung über Identität oder Staatsangehörigkeit“ selbst herbeigeführt hat, kann künftig zu einer Art Residenzpflicht verdonnert werden. Er muss dann in seinem Landkreis bleiben. So sollen Täuschungsmanöver weniger attraktiv werden. Ebenso muss solchen Ausreisepflichtigen ein Widerruf der Duldung, also die Abschiebung, einen Monat vorher angekündigt werden, auch wenn sie bereits ein Jahr lang geduldet in Deutschland sind.

Zudem soll das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Möglichkeit erhalten, Handys und andere Datenträger von Asylbewerbern auszulesen, um deren Identität und Herkunftsstaat zu klären. „Wenn einer behauptet, aus Eritrea zu kommen, 90 Prozent seiner Anrufe gehen aber nach Äthiopien, dann wäre das verdächtig“, sagte de Maizière.

Im Januar hatte das Amt auf Nachfrage der „Welt“ mitgeteilt: „Es findet keine Durchsuchung der Mobiltelefone von Asylsuchenden durch die Entscheider bei der Anhörung statt. Das Vorzeigen von zum Beispiel Fotos oder Videos, um die eigene Fluchtgeschichte zu untermauern, basiert auf Freiwilligkeit der Asylsuchenden.“

Am 9. Februar beschloss eine Sonder-Ministerpräsidentenkonferenz bei Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Berlin, dieses Problem anzugehen. In dem gemeinsam verabschiedeten 15-Punkte-Plan zur „schnelleren Abschiebung“ wurde die „Schaffung einer Rechtsgrundlage“ angekündigt, damit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge „zur Sicherung, Feststellung und Überprüfung der Identität einschließlich der Staatsangehörigkeit von Asylsuchenden Daten aus mobilen Endgeräten und auf SIM-Karten heraus verlangen und auswerten kann. Diese angekündigte Rechtsgrundlage ist nun in dem vom Kabinett beschlossenen Gesetz enthalten. Allerdings bleibt die Nutzung der Handydaten begrenzt. Der Bundesinnenminister sagte, die Reisewege der Ankommenden würden auch künftig nicht mithilfe von Handydaten ermittelt.

Das jedoch wäre sehr hilfreich, falls die Bundesregierung irgendwann zu dem Standpunkt käme, die Dublin-Regeln wieder konsequent anzuwenden. Nach den Regeln dieses Vertrags dürfte Deutschland eigentlich alle über die Landgrenzen eingereisten Schutzsuchenden in das Land zurückbringen, in dem sie erstmals europäischen Boden berührten. Das geschieht aber nur in einem Bruchteil der Fälle.

Auch wird gesetzlich klargestellt, dass das BAMF besonders geschützte Daten nach einer Einzelfallabwägung aus medizinischen Attesten auch zur Abwehr von Gefahren für Leib oder Leben weitergeben darf.

Dem Problem, das laut BAMF „ein relevanter Anteil“ der mehr als 60.000 unbegleiteten minderjährigen Ausländer „auf einen Asylantrag verzichtet und sie – beziehungsweise ihre gesetzlichen Vertreter – einen anderen aufenthaltsrechtlichen Weg suchen“ begegnet das Gesetz ebenfalls. „Durch Änderungen des Achten Buches Sozialgesetzbuch wird eine Regelung zur unverzüglichen Asylantragstellung für ein Kind oder Jugendlichen geschaffen, das vom Jugendamt in Obhut genommenen worden ist.“

In dem Bund-Länder-Beschluss vom 9. Februar war dies noch weicher formuliert, dort war von der „Verpflichtung der Jugendämter, in geeigneten Fällen für von ihnen in Obhut genommene unbegleitete minderjährige Ausländer, die möglicherweise internationalen Schutz benötigen, umgehend von Amts wegen einen Asylantrag zu stellen“.
Pro Asyl warnt vor „Brutalisierung“ von Abschiebungen

Viele Verbände und Hilfsorganisationen lehnen die Regierungspläne ab: Die Organisation Pro Asyl kritisierte, mit dem Gesetz drohe eine „Brutalisierung der Abschiebepraxis“ und der „gläserne Flüchtling“. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) bezeichnete den neu geschaffenen Haftgrund für Gefährder als „unlogisch und unnötig“. Schon jetzt könne die Haft in Ausnahmefällen auf insgesamt 18 Monate verlängert werden.

Auch bei der Linken stoßen die Pläne auf große Vorbehalte. „Handys und Computer gehören zu dem besonders schützenswerten Bereich der Privatsphäre“, sagte Parteichefin Katja Kipping.

Ungeachtet zahlreicher Proteste sollten noch am Mittwochabend etwa 50 Afghanen vom Münchner Flughafen aus in ihr Heimatland abgeschoben werden. Es ist die dritte Sammelabschiebung von abgelehnten Asylbewerbern seit Ende vergangenen Jahres.

Aus Sicht der Kritiker ist Afghanistan aber kein sicheres Land. Mehrere Bundesländer lehnen daher eine Beteiligung an der Aktion ab. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig (SPD) geht am weitesten – er hat als bisher einziger Ministerpräsident einen vollständigen Abschiebestopp verhängt.

Nicht nur in Deutschland werden abgelehnte Asylbewerber aus Afghanistan in ihre Heimat zurückgeschickt. So hat Norwegen in den vergangenen drei Jahren 850 Afghanen abgeschoben. Wie Deutschland chartert die norwegische Regierung selbst Flugzeuge, um die Menschen nach Kabul zu bringen, andere Länder nutzen nur Linienflüge.

„Deutschland und Norwegen scheinen eine härtere Haltung bei Abschiebungen nach Afghanistan als andere Staaten zu haben, doch viele Länder schieben dorthin ab“, sagt Timor Sharan, Afghanistan-Experte der International Crisis Group. „Nur die Größenordnung variiert, weil die Zahlen der Afghanen in den Ländern sehr verschieden sind.“

In Deutschland beantragten 2016 mehr als 120.000 Afghanen Asyl – hingegen nur rund 2500 in Großbritannien, das im vergangenen Jahr 25 Abschiebungen nach Afghanistan durchführte. 2017 strebe die Bundesregierung eine Zahl von 10.000 an, sagt Sharan. Das sei jedoch wenig realistisch.

In Schweden geriet das Abschiebungsverfahren in Verruf, nachdem es zu Beginn dieses Jahres eine Reihe von Suizidversuchen unter jungen Afghanen in Asylheimen gab. Sie sollen Angst vor der Abschiebung gehabt haben. Die schwedische Einwanderungsbehörde verteidigt die Praxis mit der Begründung, dass es in Afghanistan Regionen gebe, in die man zurückkehren könne. So rechtfertigt auch die Bundesregierung ihr Vorgehen. Zuletzt wurde in Europa rund die Hälfte der Asylanträge von Afghanen abgelehnt.

Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) sagte im Deutschlandfunk, es gebe „Millionen von Menschen in Afghanistan, die ganz normal zur Schule gehen, die ganz normal zur Arbeit gehen“. Es habe auch „mehrere Hundert Tote bei Terroranschlägen in Frankreich gegeben, und trotzdem würde kein Mensch auf die Idee kommen und sagen, man kann nirgendwo nach Frankreich zurückführen“.

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