15. Juni 2018 · Kommentare deaktiviert für Die EU-Türkei Vereinbarung und die griechischen Hotspots – Ein gescheitertes Pilotprojekt der europäischen Flüchtlingspolitik · Kategorien: Europa, Griechenland, Türkei · Tags: ,

Herausgegeben von: Eva Joly, Ska Keller, Jean Lambert, Barbara Lochbihler, Michel Reimon, Judith Sargentini and Bodil Valero
Autorinnen: Yiota Masouridou and Evi Kyprioti
Original: „The EU-Turkey Statement and the Greek Hotspots – A failed European Pilot Project in Refugee Policy“

Deutsche Kurzfassung, Juni 2018

Angesichts der gestiegenen Zahl der Schutzsuchenden in den letzten Jahren haben die EU Staaten nur unzureichend Solidarität sowohl untereinander als auch mit Flüchtlingen gezeigt. Die europäischen Regierungschefs haben es versäumt, ein dringend notwendiges System geordneter und sicherer Zugangswege für Menschen einzurichten, die in Europa Schutz suchen. Stattdessen haben sie sich für den Versuch entschieden, die Zahl der irregulären Einreisen durch informelle Ad-hoc-Kooperationen mit Drittstaaten zu reduzieren. Die EU-Türkei Vereinbarung ist das erste informelle Abkommen dieser Art; es wurde lediglich in der Form einer Pressemitteilung des Europäischen Rats am 18. März 2016 veröffentlicht. Als solche ist sie nicht rechtsverbindlich und unterliegt keiner Form von öffentlicher Kontrolle oder parlamentarischer Aufsicht, ungeachtet der Tatsache, dass dieses Abkommen erheblichen Einfluss auf die gegenwärtige Praxis der Asylverfahren in den fünf Hotspots auf den griechischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros hat. Zudem stoßen die von der EU-Kommission im Jahr 2016 vorgeschlagenen Reformvorschläge für das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) auf ernste Vorbehalte, da sie die Möglichkeit beinhalten, das Modell der EU-Türkei Vereinbarung in der nahen Zukunft auf andere Länder zu übertragen.

Ausgehend von der Analyse einer Auswahl von 40 Fallakten syrischer Flüchtlinge, die in griechischen Hotspots unter den Bedingungen der EU-Türkei Vereinbarung erstellt und untersucht wurden, beleuchtet die Studie den Mangel an Verfahrensgarantien und menschenwürdiger Behandlung der Asylsuchenden in den Hotspots.

Kapitel 2 der Studie konzentriert sich auf das Scheitern des im September 2015 von den EU-Mitgliedstaaten beschlossenen Umverteilungsprogramms. Gemäß diesem Programm, und im Einklang mit dem EU- Solidaritätsprinzip, sollten über einen Zeitraum von zwei Jahren insgesamt 160.000 Asylsuchende von Griechenland und Italien in andere EU-Länder umverteilt werden. Zwei Jahre später wurde die EU-Türkei Vereinbarung geschlossen. Zu diesem Zeitpunkt war das Umverteilungsziel nicht nur bei Weitem nicht erreicht, der Umverteilungsbeschluss wurde nun dahin gehend geändert, dass syrische Flüchtlinge, die nach dem 20. März 2016 in die EU gekommen waren, von der Umverteilung ausgeschlossen wurden. Als ein Ergebnis davon wird in den griechischen Hotspots eine Politik des Festsetzens betrieben, mit der syrische und andere Asylsuchende auf den griechischen Inseln unter erbärmlichen Umständen und für erhebliche Zeit faktisch ihrer Freiheit beraubt werden.

Das Verfahren, das syrische Asylbewerber in den Hotspots durchlaufen, besteht aus Rückführungsentscheidungen, die bei der Ankunft automatisch erlassenen werden, und einem nachfolgenden Asylverfahren. Diese Asylverfahren zeichnen sich aus durch mangelhafte Begründungen der Entscheidungen und ungenügende Prüfung der faktischen, individuellen und rechtlichen Umstände.

Die Entscheidungen, Asylbewerber in die Türkei als „sicheren Drittstaat“ zuzurückführen, sind demnach Teil eines Verfahrens, das insgesamt nicht den Standards der Verfahrensfairness entspricht.

In Kapitel 3 wird eine auf den 40 Fallstudien basierende Analyse des Hotspot-Konzepts vorgelegt, und es werden die verschiedenen Elemente des Asylverfahrens und deren Umsetzung in den Hotspots dargestellt. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Methoden zur Identifizierung und Feststellung der Staatsangehörigkeit, der Rückführung, dem Freiheitsentzug, der Registrierung und Prüfung von Asylgesuchen und den Anhörungen, die vom Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) durchgeführt werden. Der Bericht beleuchtet Verfahrensweisen, die in Bezug auf ihre Rechtsstaatlichkeit und auf die Einhaltung von grundlegenden Menschenrechten Besorgnis erregend sind. Von den 40 untersuchten Fällen wurden 30 mit endgültiger Wirkung lediglich aus Gründen der Unzulässigkeit abgewiesen, da die Türkei als „sicherer Drittstaat“ für die jeweiligen Antragsteller angesehen wurde. Diesen Entscheidungen ging weder eine faire und tatsächliche Beurteilung der individuellen Umstände und Schutzbedürfnisse voraus, noch zogen sie die rechtliche und tatsächliche Situation der Antragsteller in der Türkei in Betracht.

Keiner der 30 betroffenen syrischen Asylbewerber wurde zu irgendeinem Zeitpunkt darüber informiert, dass er Gegenstand eines Rückführungsverfahrens im Rahmen der EU-Türkei Vereinbarung ist und nicht ein Schutzsuchender in einem Asylverfahren.

In diesem Kapitel finden sich auch Daten und Zahlen zur Umsetzung der EU-Türkei Vereinbarung. Nach den Angaben der griechischen Polizei wurden bis 26. April 2018 insgesamt nur 275 Syrer*innen auf der Grundlage der EU-Türkei Vereinbarung in die Türkei zurückgeführt. Dies zeigt, dass eines der Hauptziele der EU-Türkei Vereinbarung, nämlich effiziente und schnelle Rückführungen in die Türkei, nicht erreicht wurde. Das Konzept des ultraschnellen Hotspot-Verfahrens – ausgelegt auf die Abwicklung in nur wenigen Tagen – verletzt das Recht der Antragssteller auf ein ordentliches Verfahren und hat sich in der Praxis als nicht effektiv erwiesen.

Kapitel 4 konzentriert sich auf die Identifizierung von besonders schutzbedürftigen Personen in den Hotspots. Sowohl europäische als auch griechische Rechtsvorschriften sehen Verfahrensgarantien für besonders schutzbedürftige Personen vor, damit ihre individuellen Erfordernisse angemessen berücksichtigt werden. Die Bericht zeigt, wie der Erwerb des Status‘ besonderer Schutzbedürftigkeit durch mangelhafte und ineffektive Abläufe wesentlich behindert wird, insbesondere wenn es um die Beurteilung individueller Verwundbarkeit geht, wie etwa bei Opfern von Folter oder Vergewaltigung. Das führt im Ergebnis dazu, dass in den Hotspots kaum ein Asylbewerber als besonders schutzbedürftige Personen anerkannt wird. Für den spezifischen Fall der syrischen Asylsuchenden in den griechischen Hotspots heißt das auch, dass ihre Asylanträge als unzulässig abgewiesen werden, weil aufgrund des Fehlens einer Prüfung besonderer Schutzbedürftigkeit die Türkei als „sicherer Drittstaat“ angesehen wird. Die Analyse der Fallbeispiele zeigt deutlich, dass die Identifikation besonderer Schutzbedürftigkeit in Schnellverfahren, wie sie im Hotspot Konzept für in großer Zahl einreisende Menschen vorgesehen sind, nicht gelingen kann. Im Kontext der griechischen Hotspots führte das zu einem mangelhaften, von Willkür und Intransparenz gekennzeichneten Verfahren.

Kapitel 5 untersucht die Umsetzung des Rechts auf Berufung im Hotspot-Konzept. Die Studie hebt hervor, dass im Berufungsverfahren die Mindeststandards der Rechtsstaatlichkeit nicht eingehalten werden. Zum Beispiel wurde keinem der Bewerber in den 40 Fallstudien eine Anhörung gewährt, obwohl die Voraussetzungen dafür sowohl nach europäischem als auch nach griechischem Recht deutlich erfüllt waren. Darüber hinaus ist der Zugang zu kostenlosem Rechtsbeistand, der gesetzlich für das Berufungsverfahren vorgesehen ist, nur teilweise realisiert. Außerdem macht die Studie deutlich, mit welchen praktischen und rechtlichen Hindernisse Asylsuchende beim Zugang zu den Verwaltungsgerichten konfrontiert sind.

Kapitel 6 zeigt – auf der Grundlage der 40 Fallbeispiele – wie in den Hotspot-Verfahren die Schlussfolgerung gezogen wird, die Türkei sei für die Antragstellenden ein „sicherer Drittstaat“, ohne die Prüfung individueller Umstände, die eine solche Annahme rechtfertigen würden. Außerdem wird das Konzept des „sicheren Drittstaates“ als grundsätzliche Rechtfertigung für die Abweisung von Asylanträgen aus Unzulässigkeitsgründen verwendet, ohne eine inhaltliche Prüfung des Asylantrags. In diesen Entscheidungen verweisen die beteiligten Akteure immer wieder ausdrücklich auf die EU-Türkei Vereinbarung. Die Analyse der 40 Fallbeispiele zeigt, dass der rechtliche Status von Syrer*innen in der Türkei von den meisten EASO Mitarbeitenden und der griechischen Asylbehörde überschätzt und missverstanden wird. Die Beamten scheinen zum Beispiel den vorübergehenden Schutz, der Syrer*innen in der Türkei gewährt wird, systematisch mit dem Internationalen Schutzstatus zu verwechseln. Erschreckenderweise liegt den Verfahren folgende Prämisse zugrunde: Da die EU die Rückführung von Syrer*innen in die Türkei finanziert, sind die griechischen Behörden nachdrücklich aufgefordert, die Asylverfahren einem festgelegten Endergebnis entsprechend durchzuführen, auf der Grundlage politischer anstatt rechtlicher Erwägungen.

Kurz gesagt: Die Analyse zeigt deutlich, dass die beschleunigten Hotspot-Verfahren das doppelte Ziel der EU-Türkei Vereinbarung verfehlen: die Durchführung effizienter und schneller Rückführungen in die Türkei und in deren Folge die Abschreckung vor neuen Einreisen. Die als Teil der EU-Türkei Vereinbarung durchgeführten Maßnahmen weisen erhebliche demokratische, rechtliche und verfahrenstechnische Mängel auf. Die Verfahren, die in den Hotspots durchgeführt werden, verletzen systematisch die Grundrechte der Flüchtlinge und Migrant*innen und gefährden die grundlegenden Prinzipien und Verfahrensweisen des Völkerrechts auf bedenkliche Art. Rechtsnormen werden ersetzt durch politikgesteuerte, diskriminierende, undurchsichtige und unzusammenhängende Asylverfahren, die von den griechischen Behörden in Zusammenarbeit mit EU-Einrichtungen, einschließlich der Agenturen EASO und Frontex durchgeführt werden, meist ohne einen formellen, rechtlich bindenden Regulierungsrahmen sowie klarer und transparenter Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen beteiligten Stellen.

Die Studie zieht die Schlussfolgerung, dass die Übernahme des Hotspot-Konzepts als Blaupause für künftige Novellierungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) einen deutlichen Rückschritt für die Europäische Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und für die internationale wie die EU-interne Solidarität bedeuten würde.

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