28. Mai 2018 · Kommentare deaktiviert für „Neue Balkanroute“ schreckt Österreich · Kategorien: Balkanroute, Österreich · Tags: ,

ntv | 28.05.2018

Die Grenzen können jederzeit geschlossen werden, versichert Österreichs Regierung. Der Grund: Meldungen über eine neue Flüchtlingsroute Richtung Österreich und Deutschland.

Von Christian Bartlau, Wien

Nie wieder 2015. Das ist die Formel, die Sebastian Kurz in Österreich zum Kanzler und die rechtspopulistische FPÖ zu seinem Koalitionspartner gemacht hat. In diesen Tagen ist diese Formel wieder häufiger zu lesen und zu hören: Die Regierung warnt vor einer „neuen Balkanroute“, über die Zehntausende Flüchtlinge Richtung Österreich und Deutschland gelangen könnten. „Wir bereiten uns auf den Extremfall vor“, sagte Bundeskanzler Kurz heute am Rande einer Regierungsklausur in der Nähe von Wien.

Es gebe zwar keinen Grund, alarmistisch zu sein, „aber Zustände wie 2015 und 2016 dürfen sich nicht wiederholen“. Seit dem Flüchtlingssommer 2015 haben 150.000 Menschen in Österreich um Asyl angesucht, pro Kopf gerechnet eine der höchsten Quoten in der Europäischen Union. Auch wenn die Zahl der Anträge zuletzt deutlich gesunken ist: Kein anderes Thema beschäftigt die Menschen in Österreich so sehr wie die Einwanderung. Und wenig kann die Öffentlichkeit so aufschrecken wie die Aussicht auf ein neuerliches 2015.

Wenn Bundeskanzler Kurz also von einer „neuen Balkanroute“ redet, ist ihm die Aufmerksamkeit der Medien sicher. Die Regierung sei wegen der Entwicklung besorgt, sagte der ÖVP-Chef. Tatsächlich kommen offensichtlich wieder vermehrt Menschen in Griechenland an, in diesem Jahr schon 18.000. Angeblich versuchen viele über Albanien, Montenegro, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien in Richtung Westeuropa zu reisen, auf der sogenannten Südroute. Österreichische Zeitungen berichten derzeit vermehrt aus Sarajevo, wo Hunderte Gestrandete in Parks übernachten. Das Wiener Büro des UN-Flüchtlingskommissariats bezeichnet die Lage derzeit allerdings als „nicht außergewöhnlich“. Die Zahlen seien noch auf „sehr, sehr moderatem Niveau“, sagte der Büroleiter Christoph Pinter im Radiosender Ö1.

Kurz will Frontex nach Libyen schicken

Außenministerin Karin Kneissl von der FPÖ erhöhte die Zahl am Wochenende kurzerhand, sie sprach von „40.000 Flüchtlingen, die am Balkan warten“. Auch wenn es derzeit keine Anzeichen für vermehrte Grenzübertritte nach Österreich gibt, versicherte FPÖ-Innenminister Herbert Kickl, er werde „im Fall der Fälle“ alle Grenzen dichtmachen. Bis Juni soll eine neue, 500 Mann starke Grenzsicherungseinheit bereit stehen. Noch heute will Kickl alle Amtskollegen entlang der Südroute anrufen, „von Griechenland bis Slowenien“, um ihnen seine Botschaft zu überbringen: „Wir wollen das von Beginn an stoppen.“

Die Haltung der österreichischen Regierung zur Bekämpfung der Flüchtlingsbewegung dürfte schon bald ganz Europa beschäftigen – das Land übernimmt ab 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Im Interview mit der „Welt am Sonntag“ erläuterte Sebastian Kurz seine Position: Die europäische Quotenregelung sei gescheitert, der Fokus solle auf der Grenzsicherung liegen. Der Ausbau von Frontex laufe viel zu langsam, außerdem brauche es ein neues politisches Mandat. Sein Vizekanzler Heinz-Christian Strache drückte sich vergangene Woche bei einem Besuch in Brüssel um einiges undiplomatischer aus: die Grenzschutzagentur sei „fast eine Schlepperorganisation“, die damit beschäftigt sei, Menschen vor der Küste Nordafrikas abzufangen und nach Europa zu bringen, so der FPÖ-Chef.

Kurz will das ändern: Er will die Menschen schon auf nordafrikanischem Boden abfangen. Ein neues Mandat solle Frontex erlauben, auch auf dem Territorium von Drittstaaten zu agieren, sprich: mit eigenen Einheiten auf libyschem Boden vorzugehen. Eine Idee, die in Deutschland schon Applaus gefunden hat – bei AfD-Fraktionschefin Alice Weidel. Sie lobte den Vorstoß der österreichischen Regierung als „Schritt in die richtige Richtung“.

Weniger Mindestsicherung für Großfamilien

Bei seinen Kritikern gerät der Bundeskanzler derweil mal wieder unter Showpolitik-Verdacht. Der linksliberale „Standard“, Kurz alles andere als wohlgesonnen, titelte zur Meldung über die „Grenzen dicht“-Ansage der Regierung bissig: „Endlich wieder eine Balkanroute schließen!“ Eine Anspielung auf die Gewohnheit des Kanzlers, bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass er die Westbalkanroute geschlossen habe. Und jetzt, so der implizite Vorwurf, genehmigt sich Kurz einen Nachschlag von seinem Leib-und-Magen-Thema, zufälligerweise in einer Zeit, in der die Regierung zwei heikle Reformprojekte anpackt: die Zusammenlegung der Sozialversicherungen und die Reform der Mindestsicherung, der österreichischen Variante von Hartz IV. Die Opposition, vor allem Sozialdemokraten und Gewerkschaften, sehen in den Vorhaben einen Angriff auf den Sozialstaat.

Die ÖVP-FPÖ-Koalition spricht lieber von „neuer Gerechtigkeit“, was nach ihrer Darstellung vor allem eins bedeutet: Zuwanderer bekommen weniger oder am besten gleich gar keine Mindestsicherung. EU-Ausländer sollen erst nach einer Wartefrist von fünf Jahren Anspruch auf die Zahlung haben, Flüchtlinge erhalten nur den Maximalbeitrag von 863 Euro, wenn sie Deutschkenntnisse auf B1-Niveau nachweisen können. Andernfalls behält das Amt 300 Euro „Arbeitsqualifizierungsbonus“ ein, den jeder Österreicher mit Pflichtschulabschluss quasi automatisch bezieht. „Deutsch ist künftig der Schlüssel zur vollen Mindestsicherung“, brachte Kurz die Regelung auf den Punkt.

Für Familien wollte die Regierung ursprünglich die Kosten deckeln, doch weil der Verfassungsgerichtshof eine solche Regelung in Niederösterreich kassiert hatte, wurde daraus eine Senkung der Kinderzuschläge. Schon für das dritte Kind gibt es nur noch fünf Prozent der vollen Leistung. Das trifft auch österreichische Familien, Strache rechnete es aber lieber an einem anderen Beispiel vor: Eine tschetschenische Familie mit fünf Kindern erhält statt 2460 nur noch 1684 Euro, so der Vizekanzler. „Damit senken wir auch die Anreize, in unsere Sozialsysteme einzuwandern.“ Die Botschaft an die Wähler war klar: Nie wieder 2015.

 

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