12. April 2018 · Kommentare deaktiviert für „Flucht aus Deutschland: Syrer gehen in die Türkei“ · Kategorien: Deutschland, Griechenland, Türkei · Tags: ,

ARD Panorama | 12.02.2018

Sendetermin: 12.04.2018, 21:45 Uhr | Sendung verpasst

von Robert Bongen, Alena Jabarine & Nino Seidel

Syrische Flüchtlinge, die mit einem gültigen Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, verlassen offenbar zunehmend die Bundesrepublik. Viele reisen illegal in die Türkei. Das haben gemeinsame Recherchen von Panorama und von STRG_F, dem investigativen Reporterformat von funk, ergeben. Als Grund nennen viele Syrer die erschwerte Familienzusammenführung. Da die Flüchtlinge kein Visum für die Ausreise in die Türkei erhalten, reisen sie auf zum Teil riskanten Routen dorthin, oftmals mit Hilfe von Schleusern.

Vernetzung über Facebook

In sozialen Netzwerken wie Facebook gibt es inzwischen Gruppen, in denen sich tausende Syrer über die „umgekehrte Flucht“ austauschen. Auch Informationen über Schleuser und Preise werden darin gepostet. So kostet eine Überfahrt über den Grenzfluss Evros, der Griechenland von der Türkei trennt, etwa 200 Euro.

Die Reporter haben im griechisch-türkischen Grenzgebiet recherchiert und mehrere Syrer auf ihrem Weg in die Türkei begleitet. Sie interviewten auch Schleuser, die diesen Trend bestätigen. Einer erklärte, er bringe täglich bis zu 50 Menschen zurück aus Europa in die Türkei, hauptsächlich syrische Flüchtlinge, die in Deutschland einen Aufenthaltsstatus haben. Ein anderer Schleuser sagte, inzwischen hole er mehr Flüchtlinge aus Europa zurück, als umgekehrt.

Flüchtlinge fühlen sich im Stich gelassen

Der Repräsentant des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) in Deutschland, Dominik Bartsch, sagt im Panorama-Interview, man habe bereits von solchen Fällen gehört, ohne diese quantifizieren zu können: „Die Tatsache, dass Flüchtlinge auf derselben Route, auf der sie ursprünglich nach Deutschland gekommen sind, wieder zurückgehen, ist paradox.“

Dass der einzelne so ein Risiko eingeht, das zeige auch den hohen Schutzwert der Familie. Dem werde Deutschland nicht gerecht. „Viele der Flüchtlinge aus Syrien, mit denen wir gesprochen haben, die subsidiären Schutzstatus haben, wurden damals informiert, dass der Familiennachzug ab dem Stichtag März 2018 stattfinden kann. Diese Flüchtlinge fühlen sich natürlich im Stich gelassen. Denn diese Nachricht haben sie sogar schriftlich bekommen.“

Wie verläuft die Flucht zurück?

Nach den Recherchen von Panorama und STRG_F läuft die Flucht zurück in etwa so: Als anerkannte Flüchtlinge können die Syrer aus Deutschland legal, zum Beispiel per Flugzeug, nach Griechenland reisen. Schleuser bringen die Menschen dann mit Booten über den Grenzfluss Evros in die Türkei. Bei der riskanten Überfahrt hier kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Zwischenfällen und sogar Toten.

Während die „umgekehrte Flucht“ in der griechisch-türkischen Grenzregion mittlerweile ein offenes Geheimnis ist, wissen Behörden und Politik in Deutschland darüber bisher so gut wie nichts. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sind im vergangenen Jahr rund 4.000 Syrer unbekannt verzogen. Darunter könnten auch solche sein, die in die Türkei gegangen sind. Die Dunkelziffer dürfte allerdings weit höher liegen. Da Ausländer, denen ein Schutzstatus zuerkannt wurde oder die einen gültigen Aufenthaltstitel haben, ins europäische Ausland reisen dürfen, wird ein solcher Grenzübertritt nicht erfasst. Wenn die Syrer also zuerst nach Griechenland reisen und von dort aus über die grüne Grenze in die Türkei gelangen, fällt den Behörden in Deutschland die Ausreise nicht ohne weiteres auf. So erklären auch sämtliche Bundesländer auf Panorama-Anfrage, keine eigenen Erkenntnisse über Flüchtlinge zu haben, die in die Türkei zurückkehren.

Seehofer: „Sollen wir jetzt die Ausreise kontrollieren?“

Auch im Bundesinnenministerium liegen dazu bisher keine Erkenntnisse vor. Horst Seehofer (CSU) erklärt auf Panorama-Nachfrage, man stoße hier an die Grenzen politischer Regelungsfähigkeit: „Wir haben ein Ausländerzentralregister, bei dem man auch die Frage der Aussagefähigkeit stellen kann. Denn wenn jemand das Land verlässt, aber es keiner Behörde sagt, dann steht der weiterhin im Register. Wie wollen Sie das verhindern?“

Auf die Frage, ob Deutschland sich dafür engagieren solle, den syrischen Menschen einen legalen Weg in die Türkei zu eröffnen, erwidert er: „Wenn sich Menschen anders entscheiden? Wir sind ein freies Land. Gottseidank ist Europa eine Region der Freiheit. Sollen wir jetzt an der Grenze die Ausreise kontrollieren?“

Grüne sprechen von politischem Armutszeugnis

Die flüchtlingspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Luise Amtsberg, spricht von einem politischen Versagen: „Ich habe Verständnis dafür, wenn Menschen sich erneut auf den Weg machen, um mit ihrer Familie zusammen zu leben, weil das alleinige sichere Überleben auf Dauer zu wenig ist. Dass wir es nicht geschafft haben, diesen Menschen hier eine echte Perspektive zu geben, das ist für die Menschen frustrierend und für uns Politiker ein politisches Armutszeugnis.“

Mit dem in der letzten Woche bekannt gewordenen Gesetzentwurf zum Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte aus dem Bundesinnenministerium dürfte sich die Zahl derjenigen, die „zurück flüchten“ weiter erhöhen. „Es ist scheinheilig, wenn der Gesetzentwurf davon spricht, dass subsidiär Schutzberechtigte einerseits lediglich eine temporäre Aufenthaltsperspektive haben, andererseits aber für den Familiennachzug verlangt, dass sich die Geflüchteten auf Deutschland einlassen und sich hier gut integrieren. Nur wer weiß, dass Ehepartner, Eltern und Geschwister in Sicherheit leben, wird sich schnell in Deutschland integrieren können. Es ist unsere Verantwortung, den Schutzsuchenden nicht nur Schutz zu geben, sondern ihnen auch ein würdiges Leben mit ihren Familien zu ermöglichen.“ Diese Entwicklung der „Rückflucht“ sei auch in Hinblick auf den Türkei-Deal heikel: „Wir haben eine Vereinbarung mit der Türkei, die sagt, dass wir geflüchtete Menschen aufnehmen, um die Türkei zu entlasten, und auf der anderen Seite gehen subsidiär schutzberechtigte Menschen aus Deutschland zurück in die Türkei, um zu ihren Familien zu kommen. Das ist absurd.“

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ARD Panorama | 12.04.2018

Gefangen in Europa

von Alena Jabarine

Noch 600 Meter bis zur Grenze, dann haben sie es geschafft. Drei Syrer auf der Flucht. Auf der Flucht raus aus Europa, raus aus Deutschland.

Wir filmen mit der Nachtsichtkamera, wie sie in der Dunkelheit auf einem schmalen Waldweg marschieren. Auf ihren Smartphones die Route bis zum Fluss Evros, der in dieser Region die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei bildet. Ein schmaler Fluss, der friedlich scheint, dessen Strömung aber schon vielen Menschen das Leben gekostet hat. Am Ufer wird ein Schleuser mit weiteren Flüchtlingen auf sie warten, sie in kleinen Gruppen in ein Schlauchboot setzen und zurück in die Türkei bringen. Dorthin, wo sie vor drei Jahren schon einmal waren, als Deutschland noch das Land ihrer Träume war. Nur wenige Minuten wird die Überfahrt dauern, das hat man ihnen gesagt. Dass ihr Boot das türkische Ufer nie erreichen wird, das wissen sie jetzt noch nicht.

„Wie kann ich leben?“

Einer der drei Männer ist Hassan. Gestern Nachmittag noch haben wir ihn interviewt, im Hotel Hermes, nahe der Grenze. Wollten wissen, warum ein Syrer, der es bis nach Deutschland geschafft hat, freiwillig wieder zurück in die Türkei geht. In der Sonne hatte Hassan auf den Stufen seines Hotels gesessen und uns seine Geschichte erzählt. Von dem Glück, dass er verspürt hatte, als er in Greifswald endlich eine eigene Wohnung bezog. Von dem Stolz, den er empfunden hatte, als er seinen Arbeitsvertrag in einem Friseursalon unterschrieb. „Deutschland gefällt mir“, hatte Hassan erzählt. „Und in der Türkei gibt es keine Hilfe für uns, weißt du das? Keine Wohnung, keine Krankenversicherung.“ Hassan will eigentlich nicht weg. „Aber wie kann ich leben, ohne meine Frau? Das geht nicht. Verstehst du das?“ Ich hatte genickt.

Drei Jahre lang hat Hassan in Deutschland alles richtig gemacht. Die Familienzusammenführung funktionierte trotzdem nicht. Seine Frau flüchtete von Syrien in die Türkei, bekam in der deutschen Botschaft noch nicht mal einen Termin. Nach zahlreichen Versuchen, Anträgen, Beglaubigungen, stand Hassans Entscheidung fest: „Nun ich muss gehen, zurück nach Türkei.“ Doch zurückgehen in die Türkei geht für Syrer wie Hassan nur auf dem Fluchtweg. Obwohl er als Flüchtling in Deutschland anerkannt ist und ein europäisches Reisedokument hat, gibt die Türkei ihm kein Visum. Also muss Hassan, drei Jahre nachdem er über die Balkanroute nach Deutschland kam, wieder flüchten. Nur dieses Mal in die andere Richtung.

Der Weg zurück beginnt auf Facebook

Wie das geht, erfuhr er über eine der vielen Facebook-Gruppen, in denen Syrer, die Deutschland wieder verlassen wollen, Informationen teilen. Täglich posten sie hier, tauschen Schleuser-Nummern aus, verabreden sich, um den Weg zurück nicht alleine zu gehen. Um die Frage, warum jemand das vermeintliche Paradies Deutschland hinter sich lässt, geht es in diesen Gruppen nicht. Nur um das wie. So informierte sich auch Hassan. Flog von Berlin aus nach Thessaloniki, nahm den Bus nach Didimoticho, an die Grenze. Hier im Hotel traf er auf weitere Syrer. Gemeinsam mit ihnen machte er sich heute Abend auf den Weg. Bei sich tragen sie nur kleine Rucksäcke mit Kleidung und Schokoriegeln. „Wie wir gekommen sind, so gehen wir wieder“, sagt einer von ihnen.

Zusammenzucken – Hunde, man sieht sie nicht, aber ihr Bellen hallt durch die Nacht. Wir bleiben stehen, werden umdrehen. Die restlichen Schritte durch das militärische Sperrgebiet werden die drei Männer alleine gehen. Eine letzte Umarmung und sie verschwinden in der Nacht. Wir kehren um, verfolgen Hassans Live-Standort auf dem Smartphone. Hassan ist nun ein roter Punkt auf Google Maps. Und während wir zurück durch die Nacht zu unserem Auto laufen, sehen wir den roten Punkt durchs Grün marschieren. Während wir ins Auto steigen und zurück zu unserem Hotel fahren, schleicht Hassan verängstigt durch Gebüsche. Unterwegs ist unsere Kamera auf das Smartphone gerichtet. Der rote Punkt hat das Ufer des Evros erreicht. Und dann bewegt er sich auf den Fluss. Vor Aufregung schreie ich kurz auf. Wir fahren rechts ran, wollen auffangen, wie Hassan das türkische Ufer erreicht. Doch der rote Punkt bleibt stehen. Auf einer kleinen Insel, mitten im Fluss. Eine Minute vergeht, fünf Minuten, zehn. Wir sind müde. Sicher hängt das Internet und Hassan ist längst in der Türkei, sagen wir uns und fahren ins Hotel. Morgen werden wir ausschlafen und Hassan in Istanbul widertreffen. Zumindest ist das der Plan.

Ein panischer Anruf

Doch zwei Stunden später weckt mich ein Anruf. „Wir sind gekentert“, schreit Hassan, „der Schleuser weg.“ Panik in seiner Stimme. Fast wären sie ertrunken, doch gemeinsam mit sieben anderen Männern hätte er sich auf eine kleine Insel gerettet. Im Halbschlaf fahren wir zurück Richtung Grenze, noch unschlüssig, was zu tun ist. Denn die Insel, auf der Hassan und die anderen festhängen, befindet sich mitten auf der Grenze. Auf der Grenze zweier Staaten, deren Beziehung gerade so angespannt ist, wie seit Jahren nicht mehr. Wir rufen den Pressesprecher der türkischen Provinz Edirne an, mit ihm hatten wir für heute Nachmittag ein Interview vereinbart. Daraus wird nun ein Hilferuf. Er werde die türkischen Sicherheitskräfte alarmieren, verspricht er, die würden nach den Männern suchen. Wir fahren weiter, rufen nun auch den Pressesprecher der griechischen Regierung an, der ebenfalls beteuert, die griechische Grenzpolizei alarmiert zu haben. Wir fragen uns, wer den Männern wohl schneller zur Hilfe eilen wird.

Nahe der Grenze zum militärischen Sperrgebiet parken wir unser Auto und marschieren los. Während die Sonne über wunderschöne griechische Landschaften scheint, sitzt nur wenige hundert Meter von uns entfernt Hassan aus Greifswald auf einer kleinen Flussinsel und wartet darauf, gerettet zu werden. Doch weder die Griechen, noch die Türken kommen. Wir laufen durch Felder, über matschigen Boden, durch menschenleere Natur, wollen so nah wie es geht an den Fluss, so nah wie es geht zu Hassan. Plötzlich sehen wir hinter an einer Wegkreuzung drei Männer vorbeihuschen. Sind das Schleuser? Sie kommen auf uns zu, wir atmen tief durch. Doch ihre verängstigten Blicke verraten sie, es sind Flüchtlinge. Excuse me, sagt einer von ihnen, how can we get to Turkey? Sie führen uns zu ihrer Gruppe. Auf einer kleinen Lichtung sitzen sie, entkräftet, dreizehn Syrer, die ebenso wie Hassan Deutschland für immer verlassen wollen. Kaiss kommt aus Weimar, Hany aus Koblenz, Anis aus Frankfurt. Etwas abseits sitzt mit dem Rücken zu uns eine junge Frau aus Itzehoe mit einem Baby.

Sie sind zurückgelassen worden von einem Schleuser, wissen nicht, wie sie allein über den Evros in die Türkei kommen sollen. Sie haben kein Geld, nichts zu trinken, kaum noch Akku. Doch sich den Griechen zu stellen ist für sie keine Option. Aus Angst, wieder zurück nach Deutschland geschickt zu werden. „Warum habt ihr Deutschland verlassen?“ fragen wir. „Ich habe zwei Jahre lang in einem Container gelebt“, sagt die Frau mit leiser Stimme. „Das war kein Leben.“ „Ich habe seit fünf Jahren meine Kinder nicht gesehen“, sagt ein zierlicher Mann, „ich werde versuchen, sie aus Syrien in die Türkei zu holen.“ „Ich bin das einzige Kind, das in meiner Familie noch übrig ist“, sagt ein Junge mit blauer Kapuze. „Ich möchte in der Türkei arbeiten, um meinen Eltern zu helfen.“ Die Luft bleibt stehen. Mein Handy piept. Eine Nachricht von dem türkischen Beamten. „Wir können die Männer auf der Insel nicht retten, die Insel befindet sich auf griechischem Territorium.“

„Was tun Sie hier?“

Wir wollen zurück zum Auto, unsere Handys aufladen. Auf dem Weg sehen wir aus der Ferne einen griechischen Polizeiwagen auf uns zufahren. Endlich! Was tun Sie hier? Fragt der dickliche griechische Polizist, den Arm lässig aus dem Fenster hängend. Dies ist militärisches Sperrgebiet. Wir haben Sie doch gerufen, antworten wir. Keine Reaktion. Papiere, sagt der eine. Einsteigen, sagt der andere. Die Polizei, auf die wir seit acht Stunden warten, ist nicht gekommen, um Hassan zu retten. Sie ist gekommen, um uns in Gewahrsam zu nehmen. Es geht zur Polizeistation nach Didimoticho. Dem Ort, an dem wir gestern noch Hassan interviewt hatten. In dem Büro, in dem jedes Bild an der Wand schief hängt, müssen wir unsere Aussage machen. Stunden vergehen, während wir auf zwei grauen Stühlen an der Wand sitzen in Angst, dass diese Geschichte kein gutes Ende nehmen wird. Weder für uns, noch für Hassan.

Wir telefonieren mit Türken, Griechen und Deutschen. Bis in die höchsten Instanzen sind alle alarmiert, doch auch die höchsten Instanzen versichern uns, in diesem Fall nichts tun zu können, für Hassan und die anderen Gekenterten, die in diesem Moment an Äste geklammert um ihr Leben bangen, weil sie in Deutschland nicht das fanden, was sie sich erhofft hatten. „Das ist zu nah an der türkischen Grenze“, sagt ein griechischer Beamter. „Wenn wir die Männer retten, werden die Türken auf uns schießen.“ Also lässt Griechenland sie dort einfach verrecken? „Weißt du, wie viele Flüchtlinge wir hier schon haben sterben sehen?“, sagt er und zündet sich eine Zigarette an.

Eine Nacht im Gefängnis

Spätabends wird klar, man wird uns nicht gehen lassen. Wir werden fotografiert, müssen Fingerabdrücke abgeben, uns nackt ausziehen. Kurz bevor unsere Telefone in einen Spint geschlossen werden, erhalten wir eine letzte Sprachnachricht von Hassan: „Alena, das wird das letzte Mal sein, dass du von mir hörst. Bald gehen unsere Telefone aus. Wenn uns keiner holt, werden wir einer nach dem anderen sterben. Ruft das Rote Kreuz, das Fernsehen …“ Die Sprachnachricht reißt ab, man nimmt uns unsere Handys weg und schließt uns in eine Zelle. Am nächsten Tag werden wir vor dem Gerichtssaal vom griechischen Boulevardfernsehen empfangen. Ob wir verheiratet seien, will eine Reporterin aufgeregt wissen. Im Gerichtssaal ist mir bitterkalt. Ich zittere vor Müdigkeit und Angst. Angst davor, wie dieser Prozess in einem fremden Land für uns ausgehen wird. Betreten militärischen Sperrgebiets kann in Griechenland mit mehreren Jahren Haft bestraft werden. Und Angst um Hassan und die Jungs, die in Sichtweite des griechischen Festlandes vermutlich immer noch um ihr Leben bangen. Alles scheint surreal.

Während wir warten öffnet sich die Gerichtstür und ein Polizist führt dreizehn Menschen herein. Uns stockt der Atem. Hany, Kais, Anis, die Frau mit dem Baby und die anderen. Sie sind gepackt worden, die dreizehn Hoffnungslosen aus dem griechischen Dickicht. Müssen gleich aussagen, ebenso wie wir. Waren wir gestern noch erhabene deutsche Journalisten, die an der Grenze gestrandete Flüchtlinge interviewten, so sitzen wir nun im selben Boot. Werden derselben griechischen Richterin vorgeführt. Müssen alle um unsere Zukunft bangen. Unsere Blicke treffen sich, wir schauen zu Boden. In den folgenden zwei Stunden werden wir so tun, als hätten wir uns noch nie zuvor gesehen.

„Rede nicht mit den Flüchtlingen“

Nacheinander werden sie nach vorne gerufen, von der Richterin nach ihren Namen gefragt. Sie lügen. Was sie an der Grenze gemacht hätten, werden sie gefragt. Sie seien gerade aus Syrien nach Europa gekommen, behaupten sie. Die Richterin hält sie für illegale Eindringlinge nach Europa. Dass sie in Wahrheit ihr Leben riskiert haben, um Europa wieder zu verlassen, ahnt hier niemand. Sie kommen in ein geschlossenes Camp für vier Monate. Gefangen in Europa. Als sie aus dem Gerichtssaal geführt werden, werfe ich ihnen einen letzten Blick zu. „Rede bloß nicht mit den Flüchtlingen“, gibt mir unser Dolmetscher einen wohlgemeinten Rat. „Das macht hier keinen guten Eindruck.“

Wir werden freigesprochen. Die Richterin räumt die schlechte Beschilderung des militärischen Sperrgebiets ein, glaubt uns, dass wir ohne Vorsatz die verbotene Zone betreten haben. Wir werden aus dem Gerichtssaal geführt, an den Kamerateams vorbei, zurück zur Polizeistation. Eine Ewigkeit, bis wir unsere Telefone wieder anschalten können. Fast 40 Stunden, nachdem wir uns in der Nacht von unserem Protagonisten Hassan verabschiedet haben, erfahren wir, dass er sein Ziel Türkei erreicht hat. Erst jetzt das Gefühl der Erleichterung. Doch gerettet wurde Hassan weder von den Türken, noch von den Griechen. Es war ein Schleuser, engagiert von Familienangehörigen in der Türkei, wissend, dass syrische Leben in Europa heute kaum noch etwas wert sind. Hassan, der Friseur aus Greifswald, der vor drei Jahren hoffnungsvoll nach Deutschland kam, setzt jetzt seine Hoffnungen auf die Türkei. In Istanbul wird er noch einmal ganz von vorne anfangen.

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