10. März 2018 · Kommentare deaktiviert für „Flucht nach Europa: Eisige Falle“ · Kategorien: Balkanroute, Serbien

Süddeutsche Zeitung | 09.03.2018

Politiker von Brüssel bis Budapest behaupten, die Balkanroute sei dicht. Die Realität sieht anders aus: Noch immer kommen Tausende, allein in Serbien sind nach Schätzungen bis zu 6000 Flüchtlinge gestrandet.

Von Peter Münch, Subotica

Nach 40 Minuten Fußmarsch durch kniehohen Schnee ist das abgelegene Gehöft erreicht. Es ist ein Ort des Untergangs. Erst ist hier der herrschaftliche Gutshof untergegangen, auf dem schon zu k.u.k.-Zeiten Landwirtschaft betrieben wurde. Dann folgte der Untergang Jugoslawiens und mit ihm das Ende der Agrargenossenschaft, die sich hier eingerichtet hatte. Seitdem sind die verstreut liegenden Gebäude verfallen.

Durch die Fensterhöhlen des alten Herrenhauses pfeift der Wind, in den Stallungen brechen die Dachbalken weg. In einem der alten Schuppen hockt Ahmad Ibra auf einem Holzbrett, rollt Teig aus mit einem abgebrochenen Plastikrohr und legt die Fladen sorgsam auf ein Eisenblech über dem offenen Feuer. Beißender Rauch füllt den Raum. „Seit fünf Monaten sind wir hier“, sagt er. „Fünf Mal haben wir versucht, über die Grenze zu kommen.“

Ahmad Ibra, 32, stammt aus einem Dorf in Pakistan. Zusammen mit ungefähr 40 Landsleuten hat er hier auf dem Gelände Unterschlupf gefunden. Alles Männer, zwischen 17 und 55 Jahre alt, und alle mit dem selben Ziel: Sie wollen nach Europa, ins reiche Europa. Gestrandet aber sind sie in Serbien, nahe der Stadt Subotica, nur ein paar Hundert Meter vom Zaun entfernt, mit dem Ungarn auf Geheiß von Ministerpräsident Viktor Orbán seine Grenze sichert. Nachts liegen Ahmad Ibra und die anderen bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad mit ein paar groben Wolldecken auf dem Boden. Es gibt keinen Strom, es gibt kein Wasser, und es gibt keine staatliche Hilfe. Das Einzige, was es gibt, ist ein Plan in der Endlosschleife: „Sobald der Schnee geschmolzen ist, machen wir uns wieder auf den Weg.“

Flüchtlinge wie Ahmad Ibra und seine Weggefährten aus dem Ruinen-Camp sollte es eigentlich gar nicht mehr geben. Schließlich loben sich die Politiker von Brüssel über Wien bis nach Budapest ständig selbst dafür, dass die sogenannte Balkan-Route schon im Frühjahr 2016 geschlossen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in gut einem Jahr mehr als eine Million Menschen auf diesem Pfad nach Westen gezogen. Seither ist es ruhiger geworden. „Aber geschlossen ist die Balkan-Route ganz bestimmt nicht“, sagt Radoš Djurović. „Vielleicht sind die Flüchtlinge nicht mehr so sichtbar wie früher. Aber es kommen immer noch Zehntausende auf diesem Weg.“

Von der serbischen Hauptstadt Belgrad aus koordiniert Djurović mit seiner Organisation „Asylum Protection Center“ (APC) die dringend notwendige Hilfe für die Vergessenen und Verdrängten auf der Balkan-Route. „Es herrscht eine ständige Bewegung“, sagt er. Die Flüchtlinge kommen über Bulgarien oder Mazedonien ins Land. Von Serbien aus wollen sie weiterziehen durch Ungarn oder Kroatien. „Das ist sehr anstrengend, man braucht viel Kraft und Geld“, erklärt er. „Aber mit den Schleppern klappt es immer noch oft schnell, in den Westen zu kommen.“ Eine Preisliste hat er auch zur Hand, erstellt nach den Angaben der Flüchtlinge: 3000 Euro kostet es demnach von Serbien nach Deutschland, 7000 Euro nach Frankreich, 12 000 nach Großbritannien.

In Serbien will keiner bleiben. „Das ist hier nur das Fegefeuer“, meint Djurović. Doch wer von den Grenzschützern in Ungarn oder Kroatien aufgegriffen wird, der wird sofort wieder dorthin zurückgeschickt. Serbien wird so zum Sammelbecken und oft genug zur Sackgasse für die Flüchtlinge auf der Balkan-Route. Offiziell spricht die Regierung von 4000 Gestrandeten im Land, Djurović schätzt die Zahl derzeit auf 6000. Lange Zeit wurde das Problem ignoriert. Erst als vor einem Jahr 2000 Menschen, darunter viele Familien mit Kindern, in verlassenen Lagerhallen und in einem Park rund um den Belgrader Busbahnhof campierten und die Misere nicht mehr zu übersehen war, wurde gehandelt. 30 Kilometer von Belgrad entfernt entstand ein neues Flüchtlingslager für 500 Menschen, die anderen wurden auf bestehende Lager im Land verteilt. „Manche sind freiwillig dorthin gegangen, manche unter Druck“, erklärt Djurović.

Zurück also nach Subotica, doch noch nicht in die Ruinen zu Ahmad Ibra und den andern, sondern erst einmal in das staatliche Flüchtlingslager rechts vom Bahnübergang. Graue Container stehen im weißen Schnee, statt zu trocknen hängt die Wäsche festgefroren über dem Zaun, ein paar Kinder laufen in Badeschlappen ohne Strümpfe über das Gelände. Payman Matin aus Afghanistan ist mit Frau und zwei Töchtern hier gelandet. Vor zwei Jahren sind sie vor den Taliban geflüchtet, seit anderthalb Jahren sitzen sie in Serbien fest. Um ein wenig Privatsphäre zu schaffen, haben sie den Eingang zu ihrer Kammer mit Decken verhüllt. Die beiden Mädchen, zweieinhalb und vier Jahre alt, streiten sich auf dem Stockbett. „Es ist furchtbar hier, aber wir machen das für unsere Zukunft“, sagt er. „Die Kinder müssen doch etwas lernen.“ Mit Blick auf seine Flucht zieht er ein ernüchtertes Fazit: „Die Schlepper sind alles Diebe, die erzählen nur Lügen.“ Deshalb will er es auf legalem Weg versuchen, er hat in Ungarn einen Antrag auf Einreise gestellt. Nun wartet er im Lager auf einen positiven Bescheid. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt Safet Resulbegović mit bitterer Miene. Er stammt aus Montenegro und arbeitet hier als Betreuer und Übersetzer – und er weiß, dass drüben in Ungarn auch Payman Matin mit seiner Familie kaum eine Chance hat. Um den Zustrom zu begrenzen, hatte die ungarische Regierung nach Errichtung des Grenzzauns im Frühjahr 2016 verfügt, dass an den beiden Grenzübergängen nahe Subotica jeweils nur noch 50 Asylsuchende pro Tag passieren dürfen. „Schrittweise wurde das verringert, und heute ist es nur noch einer am Tag“, berichtet Resulbegović.

Ins Land aber dürfen auch die nicht, die die Grenze passieren. Schließlich hat sich Orbán auf die Fahnen geschrieben, der muslimischen „Invasion“ Einhalt zu gebieten. Die Flüchtlinge werden also in sogenannten Transitzonen direkt an der Grenze interniert, wo möglichst im Schnellverfahren über ihren Asylantrag entschieden wird. „Da geht es zu wie in Guantanamo“, sagt Resulbegović. Manche kämen sofort zurück, ohne das Verfahren abzuwarten. Die meisten anderen würden schnell wieder zurück nach Serbien abgeschoben. „Damit wird den Flüchtlingen gezeigt, dass es auf legalem Weg fast unmöglich ist, in die EU zu kommen“, meint er.

So leben die Schlepperbanden weiterhin recht gut von Flüchtlingen wie Ahmad Ibra und den anderen Pakistanern, die im Gehöft am Grenzzaun auf ihre nächste Chance warten. Sie verstecken sich in Lastwagen oder unter Zügen, sie klettern über den Zaun nach Ungarn oder setzen mit dem Boot auf der Donau über nach Kroatien. Wer erwischt wird, dem geht es meist schlecht. „Die Ungarn schlagen viel“, sagt Ahmad Ibra, „und bei den Kroaten ist es nicht viel besser.“ Jeder hier hat solche Geschichten zu erzählen, die auch von Radoš Djurović und seinen Mitstreitern vom Asylum Protection Center bestätigt werden. Wer Glück hat, dem wird demnach nur das Handy abgenommen. Andere werden verprügelt und gedemütigt, mit Bier übergossen oder mit nur noch einem Schuh auf den Rückweg geschickt.

Wenn der Weg dann in alle Richtungen versperrt ist, bleibt Ahmad Ibra und seinen Gefährten nichts anderes zu tun, als hier in diesem Gehöft ein irgendwie normales Leben zu simulieren. Sie spielen Karten, sie erzählen sich Geschichten von Tausendundeiner Flucht, sie kochen und sie essen zusammen.

Die Brotfladen sind nun fertig und stapeln sich auf einer Decke. Einer hat noch Zwiebeln geschnitten und zum Anbraten aufs Blech gelegt. „Ihr müsst auch etwas essen“, sagt Ahmad Ibra und reicht einen heißen Fladen herüber. Es schmeckt. Es wärmt. Es ist ihre einzige Mahlzeit am Tag. Zum Abschied sagt er: „Wir sind hier, weil wir Hoffnung haben. Irgendwann wird es schon klappen an den Grenzen.“

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