25. Januar 2018 · Kommentare deaktiviert für „Der Kampf um die Migranten am Brüsseler Nordbahnhof“ · Kategorien: Schengen Migration, Social Mix, Sudan · Tags:

NZZ | 25.01.2018

In Brüssel öffnen Bürger ihre Türen für Migranten. Die belgische Regierung plant nun ein Gesetz, das der Polizei Razzien in den Wohnungen von Flüchtlingshelfern erlauben würde.

Niklaus Nuspliger, Brüssel

Beim Parc Maximilien nahe dem Brüsseler Nordbahnhof ist nach Einbruch der Dunkelheit ein seltsames Schauspiel zu beobachten. Autos fahren vor, halten kurz an, nehmen einen Wartenden an Bord und verschwinden in der Nacht. Bei den Passagieren handelt es sich um Migranten, die oft auf dem Weg nach Grossbritannien in Belgien steckengeblieben sind. Sie werden von Freiwilligen einer gut organisierten Bürgerplattform abgeholt und zu einem Schlafplatz in einer Privatwohnung gebracht. Beim Nordbahnhof, der in einem Quartier mit modernen Bürotürmen und heruntergekommenen Bordellen liegt, leben laut Flüchtlingshelfern derzeit 400 bis 500 Migranten auf der Strasse. Im vergangenen Jahr organisierte die Plattform 50 000 Übernachtungen, um den Migranten Obdach zu bieten – und sie vor der Polizei zu schützen. Die Behörden wollen die Migranten gemäss den Dublin-Regeln der EU ins Erstankunftsland Italien oder direkt in ihre Heimat zurückführen.

Razzien in Privatwohnungen?

Nun sind die Flüchtlingshelfer selber ins Zentrum einer Kontroverse geraten, die seit Weihnachten die belgische Politik aufmischt. Im Parlament steht diese und nächste Woche ein umstrittenes Gesetz zur Debatte, das der Polizei bei der Suche nach gewissen Migranten auch Razzien in Privatwohnungen erlaubt – gegen den Willen der Eigentümer. Die Flüchtlingshelfer würden zwar vom Gesetz des Migrations-Staatssekretärs Theo Francken nicht direkt anvisiert, befürchten aber eine Kriminalisierung. Die Oppositionsparteien meldeten ebenso Widerstand an wie Untersuchungsrichter, die behaupten, sie würden durch das Razzia-Gesetz zu «Handlangern der Migrationsbehörden» degradiert.

Der Staatssekretär Francken von den flämischen Nationalisten (N-VA) gibt sich als Hardliner und ist zum Feindbild der Flüchtlingshelfer avanciert, die mittlerweile alle seine Vorschläge empört zurückweisen. Umgekehrt punktet Francken bei seinen Wählern, wenn die Kritik der «Gutmenschen» an ihm abperlt. Einen Höhepunkt erlebte das Kräftemessen am Sonntagabend, als die Bürgerplattform über soziale Netzwerke innert Kürze 3000 Personen mobilisierte, die zwischen dem Nordbahnhof und dem Maximilien-Park eine Menschenkette bildeten. Eine geplante Polizeioperation gegen die Flüchtlinge, von der die Plattform durch ein Leck erfahren hatte, fiel ins Wasser.

Berichte über Folterungen

Die Bürgerplattform besteht aus linken Aktivisten, aber auch aus vielen Bürgern, die sich politisch nicht zuordnen lassen. Die Ursprünge des Netzwerks reichen ins Jahr 2015 zurück, als Belgien mit der Registrierung von Migranten und Flüchtlingen völlig überfordert war. Im Parc Maximilien, unweit des Ausländeramts, bildete sich ein Zeltlager, das die Polizei im letzten Sommer definitiv räumte. Francken sprach damals von einer «Säuberung», wofür er sich entschuldigen musste. Der Staatssekretär sagt bis heute, er dulde kein «Dschungel-Camp» wie im französischen Calais. Laut seinen Kritikern ist es aber das Verdienst jener, die den Migranten ihre Türen öffnen, dass in Brüssel kein «zweites Calais» entstanden sei.

Francken hat einen Sinn für Provokation. So liess er im Sommer eine Delegation aus Khartum einfliegen, die durch den Park zog, um papierlose Sudanesen aufzuspüren und ihre Rückführung zu ermöglichen. Die Kooperation mit Beamten aus der Regierung des vom Internationalen Strafgerichtshof gesuchten Diktators Omar al-Bashir sorgte für einen Aufschrei der Empörung. Kurz vor Weihnachten tauchten dann Berichte über angebliche Folterungen von in den Sudan ausgeschafften Migranten auf – was die belgischen Rückführungen in ein völkerrechtlich höchst zweifelhaftes Licht rückte.

Verstummte Rücktrittsforderungen

Die Regierung suspendierte daraufhin weitere Ausschaffungen und leitete eine Untersuchung ein. Franckens kommunikative Pirouetten zur Frage, wann weitere Rückführungsflüge geplant gewesen wären, trugen ihm den Vorwurf der Lüge und Rücktrittsforderungen ein. Doch seine N-VA drohte mit dem Austritt aus der Regierung – und da die Koalitionspartner kein Interesse an Neuwahlen haben, verstummten die regierungsinternen Kritiker.

Belgien steht mit seiner Zusammenarbeit mit dem Sudan nicht alleine da. Rechtlich heikle Rückführungen und Kooperationen mit Autokraten sind zu einem Pfeiler der EU-Migrationspolitik geworden. Die Regierung in Brüssel sagt, die Migranten vom Nordbahnhof wollten kein Asylgesuch stellen. Aktivisten fordern, dass Belgien den Gestrandeten offensiv Verfahren und freiwillige Rückkehrprogramme anbietet. Derweil erfreut sich Francken hoher Popularitätswerte, und seine Partei feiert ihn als Helden. Wenige Monate vor den wichtigen Lokalwahlen scheint ihr die Kontroverse um die Migranten vom Nordbahnhof ganz recht zu sein.

Kommentare geschlossen.