09. Januar 2018 · Kommentare deaktiviert für „Marokkos Kinder: Fernes Traumziel Europa“ · Kategorien: Europa, Marokko · Tags: ,

DW | 09.01.2018

In der marokkanischen Hafenstadt Nador warten hunderte Kinder auf eine Gelegenheit, unentdeckt in die EU zu kommen. Einige leben dort bereits seit Jahren. Für ihr Ziel riskieren sie schon dort ihr Leben.

Völlig erschöpft sitzt Mohammed auf dem Bürgersteig. Von dort aus schaut er den Kunden eines Restaurants zu, wie sie gerade eine warme Mahlzeit zu sich nehmen. Sein kleiner Körper zittert vor Kälte. Doch er reibt nur seine geschwollenen Augen und wartet weiter auf eine Gelegenheit, auf einen der Lastwagen Richtung Europa zu springen und auf ihm unbemerkt durch die Zollkontrollen zu kommen.

Szenen wie diese spielen sich in Nador Tag für Tag ab. Aus allen Ecken des Landes kommen Kinder in die Hafenstadt rund 400 Kilometer östlich von Tanger an der Straße von Gibraltar. Sie alle haben dasselbe Ziel: die lebensgefährliche Überfahrt nach Europa. Was treibt sie dazu, sich auf ein Abenteuer einzulassen, das mit dem Tod enden kann? Und wie kommt es, dass sie sich nicht einmal von den furchtbaren Bedingungen während der Wartezeit abschrecken lassen?

Mohammed ist gerade einmal zwölf Jahre alt. Er kommt aus der Berg-Oase Imilchil im Herzen des Atlas-Gebirges. Sein Dorf habe er auf Wunsch seiner Mutter verlassen. Sie wolle, dass er nach Europa gehe, sagt er der DW. Mohammed spricht in der lokalen Berbersprache, in die sich einige arabische Wörter mischen. „Sie meinte, ich bräuchte nur nach Nador zu kommen – dort würde ich dann schon eine Tür nach Europa finden.“

Auch Mohammed selbst nahm an, dass er das andere Ufer des Mittelmeers problemlos erreichen würde. Doch inzwischen hat er bereits vier Monate ohne ein Dach über dem Kopf auf der Straße verbracht. „In dieser Zeit habe ich mir die Augen entzündet, da ich in unmittelbarer Nähe von Müllcontainern schlafe.“

„Der Tod ist mir egal“

Doch noch haben Mohammed und andere Kinder den Hafen von Nador nicht erreicht. Um das zu tun, haben sie sich auf Bettelei an den Verkehrsampeln verlegt. Auf diese Weise hoffen sie, das Geld für den Transport zum Nachbarhafen Beni Ansar, direkt an der Grenze zur spanischen Enklave Melilla, zusammenzubekommen. Dort wollen sie ihren Traum von der Überfahrt nach Europa endlich wahr werden lassen.

Das Gebiet rund um den Hafen von Beni Ansar ist eine zentrale Anlaufstelle für Kinder, die die Überfahrt über das Mittelmeer wagen wollen. Dort passen sie die LKWs Richtung Europa ab. Wenn sie sich an sie hängen, riskieren sie ihr Leben. Manche von ihnen denken nicht daran, dass sie zwischen die Räder der Fahrzeuge geraten könnten, andere nehmen die Gefahr bewusst in Kauf.

Der Tod könne ihn nicht abschrecken, sagt der 13-jährige Hamza. Er komme aus Khenifra in Zentral-Marokko und sei entschlossen, die Überfahrt nach Europa so lange zu versuchen, bis sie ihm gelinge: „Mir ist egal, dass ich sterben könnte. Ich will nach Europa, denn dort kümmert man sich um mich. Dort finde ich Schutz und Unterstützung.“ Dabei ist dies nicht die einzige Gefahr, die ihm droht.

Sexuelle Übergriffe

„Amin“ nennt sich ein 14 Jahre alter Junge aus der Stadt Zakura im Südosten Marokkos. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen. Seit zwei Jahren wartet er auf die Überfahrt nach Europa. Der DW berichtet er von schockierender Gewalt auf der Straße – mit so leiser Stimme, dass er kaum zu verstehen ist.

„Während meiner ersten Nacht hier war ich physischen und sexuellen Angriffen ausgesetzt“, erzählt er. Weitere Einzelheiten will er nicht berichten – ebenso wenig wie die anderen Kinder, die von ähnlichen Angriffen berichten. Um sie zu vergessen, nähmen viele Kinder Drogen, berichtet Amin: „Ich selbst habe mich von einem Kind, das von der Überfahrt nach Europa träumte, um der Familie zu helfen, in einen obdachlosen Abhängigen verwandelt.“

Als die Nacht hereinbricht, kehren Dutzende Kinder zurück in die Straße, in der sie übernachten. Die Enttäuschung über einen weiteren vergeblichen Tag ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Um einander zu beschützen, bilden sie kleine Gruppen, zu denen sie sich nach Herkunftsorten zusammenschließen.

Leben im Elend

In der Stadt hielten sich mehr als 300 Kinder auf, die auf eigene Faust nach Europa wollten, sagt Aziz Katuf, Generalsekretär der marokkanischen Gesellschaft für Menschenrechte in der Region Nador. Die meisten von ihnen lebten auf der Straße, einige hätten aber auch ein Zimmer in einem Viertel am Stadtrand gemietet.

Wegen der elenden Lage dieser minderjährigen Kinder hat Aziz Katuf Alarm geschlagen. Weil sie keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung hätten, breiteten sich Krankheiten unter ihnen aus: „Die Kinder leben von dem, was ihnen einige freundliche Menschen aus der Region zukommen lassen. Außerdem stehen ihnen einige Initiativen zur Seite, die Kleidung und Decken verteilen und die Kinder mit warmem Essen versorgen. Außerdem starten sie Kampagnen, um ihnen ein klein wenig Bildung zu vermitteln und ihnen einfach nur zuzuhören.“

Falsche Vorstellungen in den Familien

Eine weitere Initiative kümmere sich darum, die Kinder wieder in ihre Familien einzugliedern und vor dem Leben auf der Straße zu bewahren, sagt Abdel Rahim Mubaraki, Repräsentant der nationalen Kooperationsinitiative in Nador. Bislang habe man sich um 25 Kinder gekümmert. Außerdem organisiere man Bewusstseins-Kampagnen, um die Vorstellungen zu korrigieren, die sich die Familien der Kinder von der Reise nach Europa machten. Auch für die Gefahren bei diesem schwierigen Vorhaben wolle man sie sensibilisieren.

„Diese Kinder haben einen großen Erfolg errungen“, sagt Mubaraki. „Denn obwohl sie erst einen Teil ihres Weges hinter sich haben, werden sie doch positive Veränderungen anstoßen und viele andere Kinder dazu bringen, von der Idee der Reise nach Europa wieder Abstand zu nehmen.“

Allerdings: Sobald sich unter den Kindern die Nachricht verbreitet, dass es eines von ihnen geschafft hat, steigt auch bei den anderen wieder die trügerische Gewissheit, dass sie die Reise nach Europa irgendwann erfolgreich hinter sich bringen.

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