28. Dezember 2017 · Kommentare deaktiviert für „Palästinenser am Rand der libanesischen Gesellschaft“ – Reportage · Kategorien: Libanon · Tags:

derStandard | 27.12.2017

Weit mehr als hunderttausend Palästinenser leben im Libanon. Gleichberechtigt sind sie nicht: Sie wohnen in Lagern und dürfen viele Jobs nicht ausüben

Noura Maan aus Beirut, Nahr al-Bared und Burj Barajneh

Diesen Winter spielt das Wetter im Libanon ziemlich verrückt. Ganz plötzlich brechen heftige Gewitter herein, es regnet in Strömen, hagelt immer wieder. Auch an diesem Dezembertag verwandeln sich die Straßen des palästinensischen Flüchtlingscamps Nahr al-Bared bei Tripoli innerhalb kürzester Zeit in kleine kalte Flüsse – so heißt auch der Name des Lagers übersetzt „Kalter Fluss“. Oft ziehen die Wolken nach wenigen Minuten wieder vorüber, doch die Feuchtigkeit wirkt noch lange nach, vor allem in den temporären Behelfsunterkünften rund um das Camp.

Teils leben die Menschen in heruntergekommenen Baracken, in den Straßen stapelt sich der Müll, Stromkabel liegen auf dem verdreckten und feuchten Boden. Die Wäsche der Bewohner hängt außerhalb ihrer Unterkünfte, auf allem, was man zum Aufhängen nutzen kann: an den Wänden, an losen Schnüren, auf Treppengeländern. An den zahlreichen Einschusslöchern erkennt man noch die Kämpfe, die bereits Jahre zurückliegen: 2007 wurden fast alle Häuser auf dem dicht bebauten, nur zwei Quadratkilometer großen inneren Areal des Nahr-al-Bared-Camps (NBC) bei Gefechten zwischen der libanesischen Armee und der islamistischen Fatah al-Islam zerstört. Mehr als 400 Menschen wurden damals getötet, zehntausende verloren ihr Zuhause.

Das war vor zehn Jahren. Noch immer ist aber erst etwa die Hälfte des Camps wiederaufgebaut: Erst nach zwei Jahren einigte man sich auf den Masterplan zum Wiederaufbau. Für weitere Verzögerungen sorgten auch archäologische Funde der antiken Stadt Artosia, für die eine Lösung gefunden werden musste, bevor die Bauarbeiten weitergehen konnten.

Ein dauerhaftes Problem sind die knappen finanziellen Mittel: Für den Wiederaufbau fehlen etwa 100 Millionen Dollar, sagt John Whyte, NBC-Projektmanager des Uno-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), bei einem Rundgang durch das Camp. Er schätzt, dass ohne weitere Förderungen rund 7.500 Menschen nicht zurückkehren können.

Die Bezeichnung „Camp“ ist für viele Gegenden, in denen im Libanon hauptsächlich Palästinenser unterkommen, eigentlich unangebracht. Teilweise leben dort seit Generationen zehntausende Menschen, inklusive eigener Infrastruktur, Schulen, Gesundheitszentren. Viele von ihnen sind entweder selbst nach dem arabisch-israelischen Krieg 1948/49 geflohen oder Nachfahren der Geflohenen. Heute ist der Großteil von ihnen gänzlich von Unterstützung von außerhalb abhängig, für die das UNRWA aufkommt.

Insgesamt sind beim UNRWA etwa eine halbe Million palästinensische Flüchtlinge im Libanon registriert, doch nicht alle halten sich auch im Land auf. Das UNRWA schätzt – anhand der Menschen, die die Leistungen in Anspruch nehmen – deren Anzahl auf etwa 270.000. Libanons Statistikbehörden sprechen von 175.000. Aus Syrien sind inzwischen noch einmal eineinhalb Millionen Menschen in den Libanon geflüchtet. Kein anderer Staat hat in Relation zur eigenen Bevölkerung so viele syrische Flüchtlinge aufgenommen. Dabei ist der multikonfessionelle Libanon mit 18 anerkannten Religionsgemeinschaften kleiner als Oberösterreich.

Im Libanon sind die Rechte der Palästinenser stark eingeschränkt, sie werden als Ausländer betrachtet und haben nur begrenzten Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Gesundheitsversorgung und Wohnraum. Grund oder Eigentum dürfen die Palästinenser nicht besitzen, wirklich leistbar ist für sie nur das Leben in den insgesamt zwölf Flüchtlingscamps oder den umliegenden „informellen Ansiedlungen“.

Im Flüchtlingscamp Nahr al-Bared sollten im Rahmen des Wiederaufbaus nun die Probleme vermieden werden, die in anderen palästinensischen Flüchtlingscamps im Libanon vorherrschen: 100 Kilometer südlich im Camp Burj Barajneh bei Beirut sind etwa die meisten Gassen kaum mehr als ein bis zwei Meter breit, trotzdem schlängeln sich immer wieder Mopeds durch. An der Farbe der Häuser erkennt man: Es werden immer wieder Stockwerke dazugebaut, es gibt einfach nicht genug Platz für die vielen Menschen.

Fast 20.000 Menschen sind hier registriert – in dem einen halben Quadratkilometer großen Camp leben aber mehr als doppelt so viele. Immer wieder gibt es Unfälle: Die Wasserleitungen verlaufen in unmittelbarer Nähe zu dem Spinnennetz an unzähligen Stromkabeln, das sich durch das ganze Camp zieht. In den Straßen ist es feucht, es tropft überall. Allein dieses Jahr sind vier Menschen durch Stromschläge getötet worden, unzählige weitere verletzen sich dadurch immer wieder.

Im Nahr-al-Bared-Camp müssen nun alle Straßen mindestens drei Meter breit sein, die Anzahl der Stockwerke ist auf vier begrenzt. Bevor das Lager zerstört wurde, waren es oft sieben oder mehr: „Früher hieß es: Der schnellste Weg, einen Toten zu seinem Begräbnis zu bringen, ist über die Dächer“, sagt Whyte. Eine Reduktion der Stockwerke und die breiteren Straßen führen allerdings dazu, dass viele Wohnungen nun kleiner werden, als sie es zuvor waren.

Nahr al-Bared war vor den Kämpfen 2007 ein florierender Ort des Handels mit zahlreichen Geschäften, in denen auch Libanesen einkaufen gingen. Nun gibt es Checkpoints, vor jedem Zutritt kontrolliert die libanesische Armee Personen und Fahrzeuge, sagt Whyte. „Libanesen kommen nun nicht mehr her.“ NBC ist das einzige Camp, das vom libanesischen Militär verwaltet wird. „Recht und Ordnung gibt es in den anderen Camps nicht“, beklagt Ahmad Alwazir, UNRWA-Sicherheitsbeauftragter im Libanon.

Zuständig sind palästinensische Volks- und Sicherheitskomitees und ihre eigenen Sicherheitskräfte. Die Mitglieder der Komitees sind nicht gewählt, sondern selbsternannt, Frauen und junge Menschen sind deutlich unterrepräsentiert. „Sie sind alle Männer in ihren 60ern“, sagt Claudio Cordone, UNRWA-Direktor im Libanon. „Bei all meinen Campbesuchen habe ich bisher nur eine einzige Frau gesehen, der kaum erlaubt wurde zu sprechen.“

Auch wegen dieser Unterrepräsentanz beobachteten UNRWA-Vertreter in den vergangenen Jahren verstärkt Radikalisierung unter Jugendlichen in den Camps. Vor allem Ein al-Hilweh im Süden des Libanon gilt als Nährboden für Extremismus, immer wieder gibt es dort Gefechte, auch zwischen islamistischen Gruppen. Frustration und Radikalisierung sind aber auch Produkte der prekären Situation für Palästinenser auf dem Arbeitsmarkt.

Eingeschränkte Möglichkeiten

Insgesamt 39 Berufe dürfen Palästinenser im Libanon nicht ausüben – zu zahlreichen Tätigkeiten, die ein Studium beziehungsweise eine Spezialisierung erfordern, etwa in den Bereichen Medizin, Jura und Ingenieurwesen, haben sie keinen Zugang. Gründe für den Ausschluss sind entweder das Fehlen der libanesischen Staatsbürgerschaft (auf die Palästinenser keinen Anspruch haben) oder die fehlende „Reziprozität“ – ihre Heimat räumt Libanesen also nicht die gleichen Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt ein. Angesichts der Nichtexistenz eines palästinensischen Staates ist das allerdings keine Überraschung. Palästinensern, die nicht nur mit den Libanesen, sondern auch zahlreichen Syrern auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren, bleiben Hilfsjobs, saisonale Tätigkeiten etwa in der Baubranche – oder eine Anstellung beim UNRWA selbst. Mehr als 90 Prozent der UNRWA-Mitarbeiter im Libanon sind Palästinenser.

In puncto Arbeitserlaubnis sind die Palästinenser voll und ganz von ihrem Arbeitgeber abhängig – und viele stellen oft nur dann Palästinenser ein, wenn sie deutlich geringere Bezahlung akzeptieren. Fast die Hälfte der berufstätigen Palästinenser erhalten ihren Lohn täglich, arbeiten also in prekären Verhältnissen. Nur 14 Prozent haben einen Arbeitsvertrag, die übrigen sind informell beschäftigt.

„Es ist wirklich schwer, einen Job zu bekommen“, sagt die Palästinenserin Alaa Essam Maarouf, die derzeit den Master in Informatik an der American University of Beirut (AUB) macht, was ihr durch ein von der EU ausgeschriebenes Stipendium ermöglicht wurde. „Deine Kompetenzen müssen alles andere überwiegen.“ Dabei soll etwa das vom UNRWA und der EU betriebene Employment Service Center (ESC) helfen: In den insgesamt vier Zentren im Libanon sind mehr als 13.000 Palästinenser registriert, sie werden gezielt über ihre Arbeitsrechte informiert, und ihnen werden Tipps für Bewerbungen gegeben oder Ausschreibungen für freie Stellen weitergeleitet.

Ausbeutung der Palästinenser

Hiyam Bizri kommt etwa regelmäßig in das ESC im nordlibanesischen Tripoli. „Die Menschen hier haben mir sehr geholfen. Aber es gibt so viele Herausforderungen.“ Die 26-Jährige erzählt, sie habe ohne Vertrag als Lehrerin gearbeitet und sei dann durch eine Libanesin ersetzt worden. „Ich kann dagegen nichts tun, weil ich Palästinenserin bin“, beklagt sie. „Ohne Vertrag, ohne Versicherung, ohne irgendetwas – es ist Ausbeutung.“

Für die Studentin Maarouf geht damit auch eine Krise der eigenen Identität einher: „Ich bin im Libanon geboren und aufgewachsen, meine Community ist hier. Aber ich werde nicht wie eine Libanesin behandelt, ich habe nicht die gleichen Rechte“, sagt die 23-Jährige. „Ich habe zwar eine emotionale Verbindung zum Libanon, aber ich kann keinen Ort als mein Zuhause betrachten, wo ich nicht so leben kann, als wäre es mein Zuhause.“

Maarouf hält Bildung für den besten Weg, der Gemeinschaft zu helfen, bereitgestellte Hilfen wie Nahrung und Medikamente seien keine langfristige Lösung. „Wenn man Menschen aber Bildung gibt, können sie sich selbst erhalten, anstatt nur Konsumenten zu sein.“

Fehlende Fremdsprachenkenntnisse

Genau bei der Bildung hat es die jüngere Generation der Palästinenser im Libanon aber schwer: Palästinensische Flüchtlingskinder besuchen oft von UNRWA betriebene Schulen innerhalb oder in der Nähe ihrer Camps – denn in öffentlichen Schulen haben libanesische Kinder Priorität. Mit dem Lehrplan haben vor allem aus Syrien geflohene palästinensische Kinder Probleme: Im Libanon lernt man bereits in der Volksschule Englisch und Französisch, Fächer wie Biologie oder Chemie werden später auch auf Englisch unterrichtet. „Das war für mich das größte Problem“, sagt die 16-jährige Palästinenserin Yousrah, die vor mehr als vier Jahren aus Syrien in den Libanon geflohen ist und derzeit die vom UNRWA betriebene Schule Haifa südlich von Beirut besucht.

Insgesamt halten sich UN-Angaben zufolge etwa 33.000 Palästinenserinnen und Palästinenser im Libanon auf, die in den vergangenen Jahren aus Syrien ins Land geflohen sind. 89 Prozent der vom UNRWA als PRS (Palestine Refugees from Syria) bezeichneten Menschen leben in Armut (bei den Palästinensern im Libanon sind es rund 65 Prozent), in fast 80 Prozent der Familien hat kein einziges Familienmitglied Arbeit.

Bei den palästinensischen Schülerinnen und Schülern aus Syrien kommen die Traumatisierung durch das Erlebte und die große Veränderung der Lebensbedingungen hinzu, sagt Vertrauenslehrerin Sara al-Zinab. In Syrien waren die Palästinenser gleichberechtigte Staatsbürger, im Libanon müssen sie sich als Bürger zweiter Klasse durchschlagen, ohne Recht auf Eigentum, Arbeit und Ausbildung. „Viele schaffen das nicht und wollen lieber unter Bomben leben, als diese Veränderung durchzumachen“, sagt Zinab.

Yousrah wohnt nun mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester in einem kleinen Zimmer im Flüchtlingscamp Shatila im Süden Beiruts. Oft will ihre Schwester spielen, während sie eigentlich lernen muss, erzählt sie. Vor ihrer Flucht lebte die Familie in einer Wohnung im palästinensischen Flüchtlingscamp Yarmouk am Rand der syrischen Hauptstadt Damaskus. Es sei dort generell sauberer gewesen, und die Schule, die sie besucht habe, sei größer gewesen, sagt Yousrah. Das Ausmaß der Gewalt sei im Camp im Libanon viel größer. „Hier holt jeder gleich Waffen, in Yarmouk waren Stöcke das Gefährlichste“, schildert Yousrah ihre Erfahrungen.

Keine humanitären Visa

Yousrah gehört aber zumindest zu jenen, die es noch in den Libanon geschafft haben – während syrische Staatsbürger Anspruch auf humanitäre Visa haben und in den Libanon einreisen dürfen, gilt das seit 2014 für Palästinenser aus Syrien nicht mehr. Sie werden nur ins Land gelassen, wenn sie ein Ticket in ein anderes Land oder einen Botschaftstermin im Libanon vorweisen können – also deutlich machen, dass sie nicht im Land bleiben werden. Mehr als 60 Prozent der Palästinenser aus Syrien leben in Angst vor der Abschiebung.

Dem UNRWA zufolge hat es dieses Jahr auch einzelne Fälle von Rückschiebungen nach Syrien gegeben. „Wir beobachten hier sehr genau, ob sich ein Muster entwickelt“, sagt UNRWA-Sicherheitsbeauftragter Matteo Bernatti dazu. Bis jetzt seien aber nur Einzelpersonen in Ausnahmefällen betroffen gewesen, etwa ein Palästinenser, der den Libanon mit gefälschten Dokumenten verlassen haben soll und aufgegriffen und nach Syrien zurückgeschickt wurde.

Yousrah ist zwar froh, dass sie noch in den Libanon einreisen durfte, fühlt sich hier aber dennoch nicht wohl. Man spürt ihre Zerrissenheit – im Libanon zwar diskriminiert zu werden, aber keine Option für ein Leben woanders zu sehen. „Ich will etwas werden, aber ich spüre von überall nur Druck“, antwortet Yousrah unschlüssig auf die Frage, was sie später einmal werden will. „Eigentlich sehe ich keine Zukunft für mich.“ (Noura Maan aus Beirut, Nahr al-Bared und Burj Barajneh, 27.12.2017)

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