12. Dezember 2017 · Kommentare deaktiviert für „Athen wächst das Flüchtlingsproblem über den Kopf“ · Kategorien: Griechenland, Schengen Migration · Tags:

derStandard | 12.12.2017

Um die Inseln zu entlasten, sollen 5.000 Flüchtlinge aufs Festland verlegt werden. Von dort machen sich viele auf eigene Faust auf den Weg nach Europa

Markus Bernath

Seit die Deutschen kontrollieren, haben die Österreicher und Schweizer mehr zu tun. 20 bis 25 Flüchtlinge mit falschen Pässen werden an manchen Tagen in Athen am Abfluggate nach Wien oder Zürich aufgegriffen, heißt es aus Sicherheitskreisen. Weil Passagiere aus Griechenland seit November nach ihrer Ankunft in Deutschland Ausweise vorzeigen müssen, weichen Migranten auf andere Länder der grenzfreien Schengenzone aus. Denn Griechenland ist in der Flüchtlingskrise beides: Torwächter und Nudelsieb.

Griechlands konservativer Oppositionsführer Kyriakos Mitsotakis hat sich schon beklagt. Er habe sich geschämt, dass er als Grieche bei der Ankunft in Frankfurt zu einem Terminal für Nicht-Schengen-Länder geführt wurde und 20 Minuten auf die Kontrolle seines Ausweises warten musste, sagte Mitsotakis im Parlament. Auch Belgien, Italien und die Niederlande kontrollieren nun zumindest stichprobenartig, wie griechische Reisende berichten. Sie machen ihre Regierung für den De-facto-Hinauswurf aus Schengen verantwortlich.

Schlepper zum Festland

Athen führt genau Buch über die Flüchtlinge im Land. Aber dann wiederum doch nicht. Exakt 15.178 Flüchtlinge wurden zuletzt von den Inseln der Ostägäis gemeldet. Ob es auch so viele sind, ist keinesfalls sicher. Schlepper bringen Menschen von den Inseln zum griechischen Festland. Davon gehen Sicherheitsexperten in Athen aus. Es ist nur eine Frage des Geldes. Zwar verkaufen Reisebüros ohne Genehmigung der Behörden an Flüchtlinge keine Tickets mehr für Fähren nach Piräus oder nach Kavala und Thessaloniki im Norden Griechenlands. Den ganzen Schiffsverkehr zwischen den Inseln und dem Festland zu kontrollieren sei aber unmöglich, so heißt es.

Statistiken über die Zahl und die Verteilung Asylsuchender auf dem griechischen Festland werden schon seit dem Sommer nicht mehr veröffentlicht. Ein neugegründetes nationales Koordinierungszentrum der griechischen Polizei kündigte die Wiederaufnahme umfassender Statistiken an. NGOs und das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) gehen von etwa 35.000 Menschen auf dem griechischen Festland aus. Doch über die Dunkelziffer wird nur spekuliert. 18.000 bis 20.000 untergetauchte Migranten allein in Athen ist eine dieser unbestätigten Annahmen.

Reißleine gezogen

Seit September steigen zudem die Ankunftszahlen auf den Inseln, von Lesbos im Norden bis Rhodos im Süden. So überfüllt sind die Aufnahmelager mittlerweile, dass die griechische Regierung nun die Reißleine zog. 5000 Migranten – rund ein Drittel der Lagerbevölkerung auf den Inseln – sollen bis Weihnachten auf dem Festland unter besseren Bedingungen untergebracht werden, kündigte Athen am Wochenende an. 262 Insassen aus dem Lager Moria auf Lesbos wurden bereits nach Kreta gebracht.

Regierungschef Alexis Tsipras verkündete während des Besuchs des türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan in Athen vergangene Woche eine Übereinkunft mit der türkischen Seite über das weitere Verfahren mit den Flüchtlingen. Tsipras nannte keine Einzelheiten. Doch es soll um die Zusicherung Erdogans gehen, dass die Türkei auch Flüchtlinge zurücknimmt, die nun auf dem Festland untergebracht werden. Die Rückführungen gehen ohnehin nur langsam voran. Einen Teil der abgelehnten Asylbewerber findet die Polizei offenbar nicht mehr.

 

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NZZ | 10.12.2017

Griechenland rätselt darüber, wo die Flüchtlinge hingekommen sind

Während die Lager auf den Ägäis-Inseln immer voller werden, gibt es grosse Fragezeichen über den Verbleib der Flüchtlinge.

Markus Bernath, Athen

Das Zahlenwerk der griechischen Flüchtlingskrise ähnelt in diesen Wochen mehr denn je einem Steinbruch. 90 Prozent der Informationen seien nicht verwertbar, sagt ein europäischer Sicherheitsvertreter in Athen. Protokolliert werden die täglichen Ankünfte neuer Migranten auf den griechischen Inseln vor der türkischen Küste. Fest steht auch, dass die Lager, insbesondere auf Lesbos und Chios, zum Winterbeginn nur immer überfüllter werden. Dahinter beginnt der Nebel der Mutmassungen und Spekulationen.

Lückenhafte Kontrollen

Unklar ist vor allem, wie viele der Flüchtlinge sich illegal von den Inseln auf das griechische Festland absetzen und welchen Stand daher die Zahl von derzeit mehr als 15 400 registrierten Migranten spiegelt. Die griechische Polizei kontrolliert zwar den Zugang zu den Fähren auf den Inseln. Reisebüros in den Hafenstädten verkaufen seit dem Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei im März 2016 auch keine Fahrscheine mehr. Doch die Überprüfungen auf den kleinen Inselflughäfen gelten als lückenhaft. Eine Inspektion aller Boote, die täglich zwischen den Ägäisinseln und Anlegestellen auf dem Festland verkehren, ist kaum realistisch. Die Beamten der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex konzentrieren sich auch nur auf die Überwachung der Gewässer vor der Türkei. In Sicherheitskreisen nimmt man an, dass Schlepper diesen Umstand ohne Zweifel ausnutzen.

822 Flüchtlinge haben die griechischen Behörden in den ersten neun Monaten dieses Jahres offiziell von den Inseln aufs Festland verlegt. Dabei handelt es sich in der Regel um besonders verletzliche Personen: Schwerkranke oder Frauen und Minderjährige, die Opfer von Gewalt wurden. Genehmigte Reisen für einen medizinischen Eingriff oder ein Gespräch bei der Asylbehörde in Athen enden in manchen Fällen jedoch auch im Nichts – die Personen tauchen unter und versuchen, sich weiter in Richtung Norden in die wohlhabenderen EU-Staaten durchzuschlagen.

Statistiken über Zahl und Verteilung der Flüchtlinge auf dem griechischen Festland werden seit dem Sommer nicht mehr veröffentlicht. NGO und das Uno-Flüchtlingshilfswerk gehen von etwa 35 000 Menschen aus. Eine andere, unbestätigte Schätzung in Sicherheitskreisen setzt die Zahl der «Illegalen» allein in Athen mit 18 000 bis 20 000 an. Diese Gruppe soll privat in Wohnungen in der Hauptstadt untergebracht oder anderweitig untergetaucht sein. Je nach finanziellen Möglichkeiten zahlt sie Schlepper sowie Passfälscher und wartet auf eine Gelegenheit für die Weiterreise in den Norden.

«Bedeutender zweiter Fluss»

Tatsache ist, dass die deutsche Regierung den Zustrom von Migranten mit gefälschten Papieren als erheblich einschätzt. Seit Ende November kontrolliert die deutsche Grenzpolizei deshalb alle Fluggäste aus Griechenland – sehr zum Unwillen der Regierung in Athen. Auch der konservative Oppositionsführer Kyriakos Mitsotakis beklagte sich. Er habe sich geschämt, dass er als Grieche bei der Ankunft in Frankfurt zu einem Terminal für Nicht-Schengen-Länder geführt wurde und 20 Minuten auf die Kontrolle seines Ausweises warten musste. Auch die niederländische Botschaft in Athen bezeichnete dieser Tage die illegale Ausreise über griechische Flughäfen als einen «bedeutenden zweiten Fluss» neben der Landroute.

Die Krise in Griechenland nimmt sich mittlerweile klein aus verglichen mit den Flüchtlingswanderungen über das Mittelmeer nach Italien. Tatsächlich aber verbergen die Zahlen eine grössere Dynamik. Inseln und Festland in Griechenland funktionieren wie kommunizierende Röhren: Würden die Lager endlich entlastet und die Flüchtlinge unter erträglicheren Bedingungen auf dem Festland untergebracht, wie es Hilfsorganisationen verlangen, stünden die Schlepper in der Türkei sofort bereit, um neue Asylsuchende in Schlauchbooten nach Lesbos oder Chios überzusetzen.

Viele sind verschwunden

Und doch fällt die Bilanz von Gerald Knaus, dem Chef der Denkfabrik European Stability Initiative und Vordenker des Flüchtlingsabkommens zwischen der Türkei und der EU, vernichtend aus. «Schreckliche Zustände auf einer Ferieninsel», twitterte er über Lesbos und das dortige Aufnahmelager Moria. Nichts habe sich in 15 Monaten verbessert trotz Hunderten Millionen Euro für Nahrung und Unterbringung: «Es gibt keine Entschuldigung für dieses Versagen.»

Knaus kritisiert das Management der griechischen Behörden und die Langsamkeit der Asylrichter. Zwölf Kommissionen erteilten im Durchschnitt 250 Asylentscheide in zweiter und letzter Instanz in einem Monat; zuletzt seien es gar nur noch 30 in einer Woche gewesen. Bei knapp 3000 Migranten in Griechenland dürfte es sich nun um abgelehnte Asylbewerber handeln. Abgeschoben gemäss den Vereinbarungen zwischen der EU und der Türkei wird jedoch nur ein kleiner Teil – 46 waren es im November. Darüber, wo die restlichen sind, weiss die griechische Regierung ganz offensichtlich nichts.


Athen entlastet Ägäis-Inseln

(dpa) Um die überfüllten Lager auf den Inseln der östlichen Ägäis zu entlasten, hat das griechische Innenministerium innerhalb von 48 Stunden 480 Flüchtlinge aufs Festland und nach Kreta gebracht. Dies berichtete das griechische Staatsradio am Sonntag. Noch vor Jahresende sollen bis zu 5000 Flüchtlinge zum Festland gebracht werden, hiess es. In Athen machten Gerüchte die Runde, wonach die Türkei künftig auch diese Flüchtlinge zurückzunehmen bereit sei, die zurzeit von den Inseln zum Festland gebracht würden. Wie die Athener Zeitung «Kathimerini» am Vortag berichtete, hätten dies der griechische Regierungschef Alexis Tsipras und der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan während eines Treffens in Athen am Donnerstag vereinbart. Regierungskreise wollten am Sonntag diese Information weder bestätigen noch dementieren. Beim Treffen Erdogan – Tsipras seien Massnahmen zur Verbesserung der Kooperation zum Thema Flüchtlingskrise vereinbart worden, hiess es.

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