19. Oktober 2017 · Kommentare deaktiviert für Familiennachzug: „Familien lassen sich nicht so lange trennen“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Zeit Online | 18.10.2017

Es ist eine CSU-Forderung: den Familiennachzug etwa für Syrer länger zu verbieten. Das wäre inhuman und fördere die illegale Migration, sagt die Anwältin Gisela Seidler.

Interview: Rita Lauter

ZEIT ONLINE: Die CSU will Flüchtlingen, etwa Syrern, die hier kein Asyl, sondern nur sogenannten subsidiären Schutz bekommen haben, auch weiterhin verbieten, ihre Familien nachzuholen. Schließlich sollen sie irgendwann in ihre Heimat zurückgehen. Wie realistisch ist das?

Gisela Seidler: Die Erfahrung zeigt: Auch viele Menschen mit subsidiärem Schutzstatus bleiben letztlich für immer hier, wenn ihnen in ihrer Heimat Folter droht. Auch nach Ende eines Bürgerkriegs können die Menschen häufig nicht problemlos zurückkehren. Oft gibt es Folgebürgerkriege, die Regionen bleiben instabil – das sieht man im Irak. Mit dem Sturz von Saddam Hussein wurde die Anerkennung der Iraker als Flüchtlinge widerrufen, aber aufgrund der ständigen Instabilität hat man seit 2003 nur wenige Iraker abschieben können. Ob das in Syrien anders sein wird, wo noch so viele Rebellengruppen unterwegs sind und alles auf einen Sieg von Diktator Baschar al-Assad hinausläuft, ist offen.

ZEIT ONLINE: Was würde oppositionellen Syrern drohen, die zurückkehren?

Seidler: Vor Kurzem warnte ein hochrangiger syrischer General die Syrer im Ausland davor, zurückzukehren: „Wir werden niemals vergessen und verzeihen.“ Wer aus Syrien geflohen ist, sei illoyal gegenüber dem syrischen Regime, man hätte da bleiben und gemeinsam mit Regierungstruppen gegen die Rebellen kämpfen sollen. Solche Äußerungen deuten eher darauf hin, dass es durchaus sehr gefährlich sein wird für die Flüchtlinge, wenn sie zurückmüssen.

Aber noch läuft der Krieg ja. Es sieht allerdings nicht so aus, als würde es eine demokratische Veränderung geben, sondern als würde die Opposition vermutlich kaltgestellt. Die Bundesregierung argumentiert aber, das syrische Regime verfolge nicht mehr alle Rückkehrer. Denn sie wisse, dass die meisten Menschen vor dem Krieg geflohen und keine Oppositionellen seien, daher werde ihnen auch nichts passieren, wenn sie zurückkommen.

ZEIT ONLINE: Wie viele Menschen würden denn kommen, wenn der Familiennachzug wieder erlaubt wird?

Seidler: Wir kennen die Zahl derjenigen, die sich bei den deutschen Botschaften um Visa für den Familiennachzug bemühen: 70.000. Selbst wenn der Familiennachzug wieder erlaubt wird, wird es noch eine Weile dauern, bis die Termine abgearbeitet sind, weil viele Menschen schon ein Jahr auf einen Termin warten. Viele, die als Minderjährige kamen, dürfen ihre Eltern allerdings nicht mehr nachholen, weil sie inzwischen volljährig geworden sind.

ZEIT ONLINE: Wie groß sind denn die Familien, die nachkommen wollen?

Bis zu zehn Kinder, die nachziehen

Seidler: Das hängt vom Alter und Familienstand derjenigen ab, die schon hier sind. Es kommen viele Junge, da zieht niemand oder lediglich ein Ehepartner nach. Bei einem 50-jährigen Familienvater aus Somalia dagegen kann es schon sein, dass er zehn Kinder hat, weil er vielleicht auch zwei Frauen hat. Nach der Gesetzeslage könnte er dann alle Kinder nachholen, aber nur eine Frau.

ZEIT ONLINE: Für Menschen mit subsidiärem Schutz, die ihre Familien nachholen wollen, galten einmal besondere Bedingungen, etwa dass sie Lebensunterhalt, Wohnraum und ein Mindestmaß an Deutschkenntnissen nachweisen müssen. Diese Bedingungen wurden erst ganz gestrichen, um den Familiennachzug zu erleichtern – und nun dürfen sie ihre Familien gar nicht mehr nachholen. Welche Folgen hat das?

Seidler: Es ist ein totales Missverhältnis entstanden: Selbst ein ausländischer Student, der nur eine einjährige Aufenthaltserlaubnis hat, darf seine Familie nachholen. Auch Menschen, die wegen Krankheit nicht abgeschoben werden dürfen, können aus humanitären Gründen ihre Familie nachholen, wenn sie die für alle Ausländer geltenden Nachzugsvoraussetzungen erfüllen. Dies gilt aber für subsidiär Geschützte nicht, obwohl sie aus humanitären Gründen ihren Schutzstatus erhalten haben – selbst wenn sie arbeiten und den Lebensunterhalt sichern können.

ZEIT ONLINE: Von ganz rechts wird argumentiert, der Familiennachzug fördere die Einwanderung ins deutsche Sozialsystem – dabei dürfen Menschen mit subsidiärem Schutzstatus arbeiten. Was ist Ihre Erfahrung, wie lange dauert es, bis sie einen Job antreten?

„Es kann große Probleme zwischen den Flüchtlingen geben“

Seidler: In Bayern herrscht Vollbeschäftigung, wir haben einen Fachkräftemangel, aber auch einen Mangel an unqualifizierten Arbeitskräften: Putzjobs, Minijobs in Bäckereien, in der Gastronomie, im Security-Gewerbe – harte Arbeit, keine Frage. Aber: Wer will und gesund ist, findet hier Arbeit. Wer dann welche Arbeit macht, hängt stark von der Community ab. Die Somalier zum Beispiel arbeiten fast alle sofort, meist im Sicherheitsgewerbe oder in Nachtschichten in Großbäckereien – offensichtlich auch, weil sie Geld verdienen wollen, um es an Familienangehörige in der Heimat zu schicken, denn dort herrscht große Not. Sie arbeiten sehr viel, sprechen aber nicht unbedingt gut Deutsch.

Ob die Menschen zu solchen Knochenjobs bereit und in der Lage sind, kommt allerdings auch darauf an, aus welcher gesellschaftlichen Schicht sie kommen. Das machen nicht unbedingt Leute aus der Mittelschicht, aus der viele der Syrer stammen. Diese machen stattdessen erst einmal Integrationskurse, lernen gut Deutsch und steigen erst sehr viel später ins Erwerbsleben ein. Viele junge Leute aus Syrien wollen auch ihr durch den Krieg unterbrochenes Studium fortsetzen. Bis dahin leben sie von Sozialleistungen.

Außerdem bringen die Menschen völlig unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen mit: Die Eritreer zum Beispiel haben oft jahrelang in Flüchtlingslagern im Sudan gelebt, sie haben fast keine Vorbildung. Bis sie ausbildungsreif sind, dauert es länger, auch wenn sie motiviert sind.

Junge Flüchtlinge aus Afghanistan sind sehr motiviert, Deutsch zu lernen und sehr ausbildungswillig. Daher reißen sich die bayerischen Arbeitgeber auf der Suche nach Azubis vor allem um die Afghanen, die aber in Bayern am meisten benachteiligt werden. Seit September 2016 erhalten sie wegen einer Weisung des Innenministeriums keine Ausbildungserlaubnisse mehr, um ihnen die Chance zu nehmen, über den Weg der Ausbildung und qualifizierten Beschäftigung ein Bleiberecht zu erreichen.

ZEIT ONLINE: Nachkommende Familienangehörige sollen nach den Unionsplänen mit anderen Flüchtlingsgruppen verrechnet werden, um die 200.000-Grenze einzuhalten, die sich die CSU so wünscht. Was erwarten Sie davon?

Seidler: Wenn es wirklich dazu kommt, dass Asylsuchende gegen Familienangehörige, die nachziehen wollen, aufgerechnet werden, kann es große Probleme zwischen den Flüchtlingen geben. Wenn sie sich gegenseitig vorwerfen: Ihr seid schuld, dass unsere Familien nicht nachkommen können. Das wird fürchterliche Konsequenzen haben, wenn man Menschen miteinander verrechnet.

ZEIT ONLINE: Wie gehen Ihre Mandanten damit um, dass der Familiennachzug womöglich noch länger ausgesetzt wird, wenn sich die CSU durchsetzt?

Seidler: Unsere Mandanten rechnen fest damit, dass der Nachzug ihrer Familien nur verschoben wurde, dass sie nur noch bis zum nächsten März warten müssen. Für sie wird es sehr schlimm, wenn er jetzt doch noch weiter ausgesetzt bleibt. Es wird auch Verfassungsbeschwerden geben, weil Artikel 6 des Grundgesetzes, der Schutz der Familie, infrage steht. Das kann bis zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gehen und sich ewig hinziehen.

Ein illegaler Weg findet sich immer

ZEIT ONLINE: Was bedeutet denn so eine lange Trennungszeit für die Menschen, die schon hier sind?

Seidler: Sehr viele Leute warten einfach, sie bleiben in ihrer Notunterkunft. Sie können keine Zukunftsentscheidungen wie etwa die Anmietung einer Wohnung treffen, solange sie nicht wissen, ob ihre Familie kommt oder nicht. Es ist klar, dass Familie integrationsfördernd ist. Die Kinder sind diejenigen, die sich am schnellsten integrieren, die Sprache lernen und die Eltern mitziehen.

ZEIT ONLINE: Wie geht es den Menschen mit dieser Warterei?

Seidler: Sie sind völlig verzweifelt. Manche Menschen gehen lieber zurück in die gefährliche Heimat, wo ihnen Tod oder Verfolgung droht, weil sie ihre Familie nicht allein lassen können. Andere versuchen, schnell viel Geld zu verdienen, um ihren Familien die illegale Einreise über Schleuser zu finanzieren. Viele Familienzusammenführungen kommen über die Routen von Ägypten oder Libyen nach Italien doch noch zustande. Wenn man das Geld zusammen hat, findet man immer einen illegalen Weg, nachzukommen. Denn Familien lassen sich nicht so lange trennen.


WER BEKOMMT SUBSIDIÄREN SCHUTZ?

Wer weder Anspruch auf Asyl hat noch nach Genfer Konvention als Flüchtling anerkannt wird, kann dennoch Schutz erhalten. Bedingung für diesen sogenannten subsidiären Schutzstatus ist, dass ihm in seiner Heimat die Todesstrafe, Folter, unmenschliche Behandlung oder Gefahr durch einen Krieg oder Bürgerkrieg droht. Die Betroffenen erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr, die verlängert werden kann. Seit Einführung des Asylpakets II im März 2016 wird auch Syrern überwiegend dieser Status zugesprochen. Weitere Herkunftsländer, für die dieser Status gewährt wird, sind Afghanistan, Irak, Eritrea und Somalia.

Nach Angaben des Innenministeriums waren zum 1. August 2017 insgesamt etwa 177.000 Ausländer mit subsidiärem Schutz in Deutschland.

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