12. Oktober 2017 · Kommentare deaktiviert für „Gewalt gegen junge Flüchtlinge am Balkan“ · Kategorien: Balkanroute, Bulgarien, Griechenland, Schengen Migration · Tags: ,

derStandard | 12.10.2017

EU-Grenzschützer misshandeln systematisch junge Asylsuchende auf der Balkanroute, wie Ärzte ohne Grenzen berichtet

BIANCA BLEI

Belgrad/Athen/Wien – Mehr als 90 Prozent der jungen Asylsuchenden, die über die Balkanroute flüchten, sind Gewalt ausgesetzt. Dafür sind in den wenigsten Fällen Schmuggler oder Menschenhändler verantwortlich, wie ein Bericht der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) zeigt. 76 Prozent der 15- bis 25-Jährigen, die im ersten Halbjahr 2017 in den psychologischen Einrichtungen der NGO betreut wurden, berichten von Gewalt durch Behördenvertreter – vor allem EU-Grenzbeamte. Knapp die Hälfte aller Gewaltberichte handelt von bulgarischen Grenzschützern, die die jungen Flüchtlinge und Migranten verprügeln, Hunde auf sie hetzen oder mit Pfefferspray besprühen.

Augenzeugen, die in dem Bericht zitiert werden, sprechen von harten Schlägen durch die Polizei, die schwere Kopfverletzungen zur Folge hatten. „Viele der Opfer waren jung, noch Teenager und ihre Gesichter waren blutverschmiert“, gab ein Mann aus Afghanistan zu Protokoll.

Selten verfolgt

Die Täter werden laut Ärzte ohne Grenzen nur selten verfolgt. Zwar ist es etwa in Ungarn zu 44 Ermittlungsverfahren gegen Grenzbeamte gekommen, doch wurden nur zwei Polizisten wegen Amtsmissbrauchs verurteilt.

„Die Menschen tragen ihre Narben ein Leben lang“, sagt Andrea Contenta, MSF-Beauftragter für humanitäre Angelegenheiten in Serbien, zum STANDARD : „Dabei spreche ich nicht nur von Hundebissen, sondern vor allem die psychischen Traumata, die damit einhergehen.“ Das ist laut Contenta aber nicht nur auf dem Balkan der Fall, sondern „auch in Frankreich, wie in Calais, oder auf den griechischen Inseln“.

Notstand auf griechischen Inseln

Gerade auf Letzteren vermerkte die Hilfsorganisation seit dem Sommer einen Anstieg von Patienten mit mentalen Problemen. „Die Lage für traumatisierte Flüchtlinge und Migranten war auf den Inseln schon immer schlecht“, sagt Declan Barry, der als medizinischer Koordinator vor Ort tätig ist: „Doch nun ist die Lage extrem kritisch.“ Vor allem die Zahl jener Personen, die über Suizid nachdenken oder bereits versucht haben, sich umzubringen, sei stark gestiegen, sagt Barry: von etwa sechs Menschen pro Woche auf mehrere Patienten pro Tag.

Die Versorgung durch die Behörden ist auf den Inseln so schlecht, dass die psychosoziale MSF-Klinik keine Patienten mehr annehmen kann. Es befinden sich bereits 150 Menschen auf der Warteliste. Litten Ende 2016, Anfang 2017 rund drei Viertel der Untersuchten unter Angststörungen, waren es im Sommer auf der griechischen Insel Samos bereits 97 Prozent.

„Behördenversagen“

Barry spricht von einem „absoluten Behördenversagen“. Für ihn ist es „erschreckend“, dass Politiker den EU-Türkei-Deal in Sachen Flüchtlinge als Erfolg verbuchen. Laut Ärzte ohne Grenzen berichten 80 Prozent der Patienten von Gewalterfahrungen – sowohl in ihrem Heimatland als auch während der Flucht. Etwa die Hälfte aller Behandelten auf Samos gab an, in der Türkei misshandelt worden zu sein. Auch ein Viertel aller sexuellen Übergriffe, die von Flüchtlingen und Migranten auf Griechenland angegeben werden, findet in der Türkei statt.

Zwar versprechen die griechischen Behörden immer wieder eine Besserung der Lage auf den Inseln, doch fürchtet Barry, dass es mit dem Winter schlimmer wird: „Vielen Menschen fehlt Nahrung, Kleidung und eine angemessene Unterkunft. Wenn die Temperaturen fallen, wird das verheerende Auswirkungen haben.“

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