19. September 2017 · Kommentare deaktiviert für „Milliarden gegen die große Flucht aus Afrika“ · Kategorien: Afrika, Europa · Tags: ,

derStandard | 18.09.2017

Trotz des Streits in der Flüchtlingspolitik in Europa gestritten, in einem Punkt herrscht Einigkeit: Wer die Ursachen für Migration bekämpfen will, muss mehr Hilfe vor Ort leisten

András Szigetvari

Angela Merkel besitzt das Talent, komplexe Probleme in einfache Sätze zu verpacken. Zu den größten Herausforderungen für Europa gehöre in den kommenden Jahren, eine „vernünftige Balance mit dem afrikanischen Kontinent“ zu finden, sagte die deutsche Kanzlerin vor kurzem im Hinblick auf die Flüchtlingspolitik. Im deutschen Wahlkampf skizziert sie, wie diese Balance aussehen soll. Neben mehr Anstrengungen der EU gegen Schlepperbanden soll Europa mehr Hilfe vor Ort leisten. Darin sind sich nicht nur CDU/CSU, sondern auch SPD, Grüne und Linke einig.

Diese Botschaft wird auch im österreichischen Wahlkampf getrommelt. Die SPÖ propagiert einen „Marschallplan“ für Afrika, und ÖVP-Chef Sebastian Kurz will mehr „vor Ort“ für die Bekämpfung extremer Armut tun. In den Diskussionen feiert die Entwicklungszusammenarbeit eine Art Comeback. Die Deutschen wollen mehr Geld für Entwicklungspolitik ausgeben, und auch Österreich stockt sein bescheideneres Budget auf. Die Hoffnung in Wien und Berlin ist die gleiche: Mehr Wohlstand in Afrika bedeutet, dass weniger Menschen in Richtung Europa aufbrechen. Aber stimmt das?

Mehr Wohlstand bedeutet zunächst nicht weniger, sondern mehr Migration

Der Zusammenhang zwischen Migration und Lebensstandard beschäftigt Forschung und internationale Organisationen seit Jahren. Experten der Weltbank haben vor einiger Zeit einen umfassenden Datensatz zusammengestellt und Migrationsbewegungen zwischen den Jahren 1960 und 2000 analysiert. In Zehnjahresabständen wurde gemessen, wie und ob ein höherer Lebensstandard in einem Land mit Migrationsbewegungen zusammenhängt. Das Ergebnis war eindeutig: Mehr Wohlstand in bitterarmen Ländern bedeutet zunächst nicht weniger, sondern mehr Migration.

Wenn Menschen ihr Land verlassen und zum Teil tausende Kilometer lange Wege zurücklegen, brauchen sie dafür Geld. Für Schlepper, für Nahrung auf dem Weg, für Dokumente, für Unterkünfte. Erst, wenn eine Gemeinde, eine Familie oder ein Dorf genug zusammenlegen kann, wird die Reise für Einzelne aus der Gemeinschaft leistbar. Bis zu einem kaufkraftbereinigten Einkommen von bis zu 6.000 US-Dollar pro Kopf und Jahr führe mehr Wohlstand zu mehr Migration, schreibt der Ökonom Michael Clemens, vom Washingtoner Center for Global Development in einer Analyse zu den Weltbankzahlen. Auch andere Studien, etwa eine der staatlichen Agentur für Entwicklungszusammenarbeit im Vereinigten Königreich, kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen.

Erst ab einem Einkommen von 6.000 bis 8.000 US-Dollar geht Migration mit weiteren Wohlstandsgewinnen zurück. Erst dann scheinen Menschen für sich und ihre Familien ausreichend Perspektiven zu sehen, um ein Land nicht zu verlassen. In einem globalen Vergleich ist diese Schwelle hoch. In der Ukraine liegt das Einkommen bei 8.200 US-Dollar pro Kopf im Jahr.

Die allermeisten Länder in Afrika sind von diesem Niveau weit entfernt. Lässt man das Bürgerkriegsland Syrien beiseite, kamen die meisten Menschen zwischen Jänner und August 2017 aus neun afrikanischen Staaten über die Mittelmeerroute nach Europa. Mit Ausnahme eines Landes, Marokko, sind diese Länder derart arm, dass sogar bei starken Einkommenssteigerungen die Migration zunehmen wird, sofern sich die Forscher nicht geirrt haben.

In Niger liegt das Pro-Kopf-Einkommen bei gerade 970 US-Dollar, in Mali bei 2.100, in Eritrea bei 1.300. In all diesen Ländern müsste sich das Einkommen mehr als vervierfachen, damit jene Schwelle erreicht ist, ab der die Auswanderung abzunehmen beginnt. Selbst bei hohem Wachstum könnte das 50 bis 80 Jahre dauern, sagt der Entwicklungsökonom Clemens.

Entwicklungszusammenarbeit kann den benötigten Einkommensgewinn niemals einbringen

Klassische Entwicklungszusammenarbeit kann das Wachstum eines Landes nicht wesentlich beschleunigen. Das legen historische Erfahrungen nahe. Der Gewinner des Wirtschaftsnobelpreises 2015, Angus Deaton, hat mit seinem Buch „The Great Escape“ eine große Abrechnung mit der Entwicklungszusammenarbeit verfasst. Deaton ist der Frage nachgegangen, ob Länder, die mehr Entwicklungshilfe bekommen haben, schneller wachsen. Auch er hat Daten aus mehreren Jahrzehnten analysiert. Seine Antwort fällt eindeutig aus: Nein, es gibt keinen positiven Zusammenhang. Die am schnellsten wachsenden Länder wie China haben sogar einen sehr geringen Anteil der Pro-Kopf-Hilfen erhalten.

Im Gegenteil. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in den 1990er-Jahren sind die Zahlungen zugunsten afrikanischer Staaten zurückgegangen. Der Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion um die Gunst der Länder auf dem Kontinent war zu Ende.

Doch Afrika verzeichnete ab diesem Moment, ab Mitte der 1990er-Jahre, die höchsten Wachstumsraten seit der Unabhängigkeitsbewegung in den 1960er-Jahren, schreibt Deaton.

Unter nationalen wie internationalen Experten ist der Frust über die mageren Ergebnisse der Entwicklungszusammenarbeit zuletzt gewachsen. Dabei sei das Hauptproblem gar nicht, dass zu wenig Geld eingesetzt werde. Die Art und Weise, wie die Mittel genutzt werden, sei falsch, lautet der Tenor.

Einige der global identifizierten Fehler lassen sich am Beispiel Österreichs demonstrieren, wie Experten aus der Szene sagen.

Leistungen teilweise nicht zur Armutsbekämpfung eingesetzt

Ein zu großer Teil der Mittel wird nach wie vor für Leistungen ausgegeben, die mit direkter Armutsbekämpfung in Afrika wenig zu tun haben. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Kosten für die Versorgung von Flüchtlingen im Inland zur Entwicklungshilfe zählen.

Für jeden aus einem Entwicklungsland kommenden Studierenden in Österreich wird errechnet, was er im Schnitt eine Universität kostet. Auch diese Beträge gelten als Hilfsleistungen. Hinzu kommen Entschuldungen, die oft künstlich aufgeblasen sind, damit sie größer wirken. Auf solche Posten entfallen drei Viertel von Österreichs Entwicklungsleistungen abseits der Beiträge an internationale Organisationen.

Um jenen Teil des Geldes, der tatsächlich von Österreich gestaltbar ist, rund 70 bis 100 Millionen pro Jahr, herrscht großes Gezanke.

Ein sehr großer Teil der staatlichen Hilfen wird über NGOs abgewickelt, auch in Österreich. Gut 100 von ihnen, wie Caritas oder Hilfswerk, haben allein im vergangenen Jahr Aufträge erhalten.

Das führt dazu, dass die Projekte, wie zum Beispiel der Bau von Wasseraufbereitungsanlagen im Westjordanland, klein sind. „Oft wird damit nur eine Mikrowirkung in einer Gemeinde entfaltet, ein volkswirtschaftlicher Effekt fehlt“, sagt Hedwig Riegler, die lange als Statistikerin in der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit tätig war.

Die vielen Helfer gehen zudem häufig nicht koordiniert vor, was Regierungen in Afrika oder im Nahen Osten immer wieder beklagen. Die Verwaltungen in einzelnen Ländern verbringen viel Zeit damit, den Überblick über die einzelnen Projekte zu behalten.

Kleinteiligkeit, mangelnde Koordination und falsche Mittelaufteilungen verhindern also den effektiveren Einsatz der Gelder.

Investitionen, Handel und Steuern: Nirgends läuft es richtig rund mit Afrika

Heute sagen auch Politiker wie Angela Merkel, dass Entwicklungszusammenarbeit nicht der einzige Ansatz sein kann, um Afrika zu unterstützen. Sogar wenn es gelingt, staatliche Strukturen aufzubauen und für Schulbildung sowie Infrastruktur zu sorgen, beruht eine nachhaltige Entwicklung auf Investitionen, dem Aufbau einer Industrie und eines Handels, der lokal wie global stattfindet.

Wenn der Mix stimmt, können Staaten binnen weniger Jahre bittere Armut hinter sich lassen. Das zeigen Beispiele wie der schnelle Aufstieg Südkoreas.

Das Problem ist, dass nach Ansicht von Experten Europa keine rühmliche Rolle in diesem Kontext spielt. Das Center for Global Development hat sich die Handelspolitik der EU in Afrika angesehen. Analysiert wurden die 30 „Partnerschaftsabkommen“ der EU mit Ländern wie Madagaskar oder Kamerun. Die EU ging demnach immer ähnlich vor. Zugunsten einiger europäischer Wirtschaftssektoren definiert die Union „offensive“ Interessen und setzt sie durch. Sprich: Die Partnerländer müssen ihre Märkte für ausländische Mitbewerber öffnen.

Gleichzeitig schützt die EU für sie wichtige Sektoren wie die Landwirtschaft und die Textilindustrie. Diese Branchen bleiben für Waren ausländischer Unternehmer tabu. Doch exakt in diesen Bereichen können Entwicklungsländer ihren einzigen Wettbewerbsvorteil – ihre billigen Arbeitskräfte – nutzen.

Matt Grady, Handelsspezialist der britischen NGO Traidcraft, sagt, dass es in den vergangenen Jahren einige Verbesserungen gab. So dürfen die allerärmsten Länder der Welt wie Gambia oder Äthiopien alle Waren zollfrei in die Union ausführen. Das Schema heißt „everything but arms“, alles außer Waffen, und wird von Grady als positives Instrument im Kampf gegen Armut gelobt, weil die EU von den bitterarmen Staaten im Gegenzug nichts verlangt.

Doch der Handelsexperte kritisiert, dass viele Entwicklungsländer von diesem System nur mäßig profitieren. Mit ihren hohen Subventionen für die Landwirtschaft macht es die EU ausländischen Unternehmern schwer, am Binnenmarkt Fuß zu fassen.

Für einige andere afrikanische Länder wie Kenia gibt es ein Präferenzsystem: Diese Staaten dürfen zumindest bestimmte Waren ohne Zoll in die EU ausführen. Doch die EU gewähre Vorteile oft nicht in wichtigen Bereichen. So dürfen Kaffeebohnen aus Afrika steuerfrei importiert werden, nicht aber geröstete Bohnen, kritisiert Grady.

Problematisch ist auch Europas Investitionsbilanz in Afrika, heißt es bei der UN-Organisation für Entwicklung (Unctad) in Genf. Wenn investiert wird, dann in den Abbau von Rohstoffen wie Erdöl und Diamanten. Allein auf das erdölreiche Angola entfiel im vergangenen Jahr ein Drittel aller Investitionen aus dem Ausland. Rechnet man noch Nigeria (Öl) und Ägypten hinzu, werden sieben von zehn ausländischen Dollars in Afrika hier ausgegeben.

Ansätze für einen neuen Mix zur effektiveren Armutsbekämpfung

Von den Rohstoffinvestitionen profitieren Staaten oft am allerwenigsten, sagt Giovanni Valensisi von Unctad. Die Ölfelder und Bergwerke sind an die lokale Wirtschaft wenig angebunden, „die Gewinne landen im Ausland“. Zudem gehen mit Rohstoffinvestitionen oft mit illegalen Finanzströmen Hand in Hand.

Erschwerend kommt hinzu, dass afrikanische Unternehmen selbst oft nicht an ausreichend Kapital für Investitionen herankommen. Nirgends werden so wenige Kredite vergeben wie in Subsahara-Afrika. Das liegt auch daran, dass das lokale Bankensystem nicht ausreichend Kredite zur Verfügung stellen kann, da in Afrika viel Geld nicht vor Ort gespart wird, sondern abfließt. 42 Milliarden Euro werden pro Jahr illegal vom Kontinent transferiert, heißt es in einer Studie der Afrikanischen Union. Ein Teil dieses Geldes landet in Europas Finanzsystem.

Nun ist es unter Experten unbestritten, dass Afrikas Regierungen selbst den wesentlichen Beitrag leisten müssen, damit ihre Länder der Armut entkommen. Doch Ideen dazu, was Europa tun oder unterlassen könnte, um zu helfen, gibt es genug.

NGOs wie Traidcraft fordern, dass Europa seine Märkte für alle Entwicklungsländer bedingungslos öffnet. Unctad empfiehlt mehr nachhaltige Investitionen zur Industrialisierung des Kontinents. Die Entwicklungsexpertin Riegler fordert mehr Selbstkritik in der Entwicklungspolitik, auch bei NGOs. Es gibt unzählige Vorschläge, um den Geldabfluss zu bremsen.

Allen Ideen ist gemeinsam, dass sie Europa etwas kosten würden. Die große Frage lautet also, wer bereit ist, diesen Preis zu zahlen.

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