11. September 2017 · Kommentare deaktiviert für „Es stauen sich Migranten in Libyen“ · Kategorien: Libyen · Tags: ,

Welt | 11.09.2017

Weniger Flüchtlinge erreichen Italien. Der Sondergesandte des UNHCR für das zentrale Mittelmeer, weiß warum – und wie lange das so bleibt

Von Flora Wisdorf

Die EU arbeitet mit Libyen zusammen, um zu verhindern, dass Tausende Migranten über die Mittelmeerroute nach Italien gelangen. Vincent Cochetel erklärt die Gründe für den abnehmenden Flüchtlingsstrom – und die Schattenseite der Entwicklung. Immer mehr Migranten landen jetzt in Haftzentren, wo ihre Menschenrechte verletzt werden.

DIE WELT:

Herr Cochetel, die Zahl der Migranten, die über die Mittelmeerroute nach Italien gekommen sind, ist in den Sommermonaten drastisch gesunken – im August im Vergleich zum Vorjahr um über 80 Prozent. Warum?

Vincent Cochetel:

Ja, im August überquerten nur 3800 Migranten und Flüchtlinge das Mittelmeer, und auch jetzt in den ersten Septembertagen kamen nur 827. Das ist eine bedeutende Abnahme. Die stärkere Präsenz der libyschen Küstenwache in den Gewässern vor der libyschen Küste hat einen abschreckenden Effekt auf die Schmuggler, sie legen seltener ab.

Die EU und Italien bilden sie aus und unterstützen die Küstenwache finanziell und technisch.

Ja, diese Unterstützung wirkt sich aus. Aber es legen auch weniger Boote ab, weil vehementer gegen die Schmuggler am Hauptdreh- und Angelpunkt für das Schmuggelgeschäft in Sabratha vorgegangen wird. Es hat angeblich Verhaftungen gegeben. Manche der Schmuggler helfen nun dabei, den anderen das Handwerk zu legen und das Gesetz durchzusetzen. Mehreren Quellen zufolge wurden sie in die sogenannte Brigade 48 integriert, eine von der Einheitsregierung geschaffene Miliz, die ursprünglich den Ölschmuggel in Sabratha bekämpfen sollte, nun aber wohl auch gegen Menschenschmuggler vorgeht. Die Strategie besteht darin, Schmugglerbanden selbst in den Kampf gegen andere Banden einzubinden, und ihnen dafür Geld und Waffen zu verschaffen. Dabei stellt sich jedoch eine Frage: Was machen diese Gruppen, die auf diesem Wege gestärkt wurden, wenn sie kein Geld und keine Waffen mehr bekommen?

Angeblich bekommen diese von Warlords geführten Milizen Geld und Waffen von der libyschen Regierung, die die Summen wiederum aus Italien erhält.

Es gibt Berichte darüber, aber mir liegen keine bestätigten Informationen vor.

Reisen möglicherweise auch weniger Menschen nach Libyen ein aus den Transitländern?

Es kommen weniger Migranten aus Niger nach Libyen. Aber wir haben Informationen, dass nun mehr Menschen von Niger aus über Algerien und andere Länder nach Libyen einreisen. Wir können nicht feststellen, dass insgesamt weniger Menschen nach Libyen kommen. Die Schmuggler sagen ihren Kunden lediglich, dass sie etwas mehr Zeit brauchen, um nach Italien zu gelangen. Es stauen sich Migranten in Libyen, die für ihre Überfahrt bezahlt haben. Es gibt das Risiko, dass nun noch mehr Migranten in Haftanstalten landen, entweder unter der Führung der Regierungsbehörden, oder in solche Lager, die in den Händen der Schmuggler sind. Die Bedingungen sind schlimm.

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen sagt, die EU-Mitgliedstaaten nähmen systematische Ausbeutung und Misshandlungen in Libyen in Kauf, um den Flüchtlingsstrom zu drosseln. Auch in den Lagern der international anerkannten Einheitsregierung werde gefoltert, vergewaltigt und versklavt.

Die Zustände in vielen Haftzentren sind nicht menschenwürdig. Aber die Idee, dass jeder auf ein Boot steigen und irregulär nach Europa einreisen kann, ist auch nicht die Lösung. Wir hoffen, dass wir in Libyen selbst bald ein erstes offenes Ankunftszentrum für Flüchtlinge eröffnen können, in dem unsere Standards gelten und in dem wir den gestrandeten Menschen helfen können. Dazu brauchen wir die Zustimmung der libyschen Behörden.

Angela Merkel und andere europäische Politiker setzen darauf, mit dem UNHCR solche Zentren mit europäischen humanitären Standards zu eröffnen, auch um die EU-Politik zu legitimieren. Ist es wirklich realistisch, die meisten Flüchtlinge in Libyen menschenwürdig unterzubringen?

Wir sollten uns nicht eine Situation erträumen, die so in Libyen nicht existiert. Solche Unterkünfte werden nicht über Nacht entstehen. Es ist nicht nur eine Frage des Geldes, der Sicherheit und der Einigung mit den Behörden. Es muss insgesamt eine Verbesserung der Situation in Libyen geben, ein Rechtsstaat muss entstehen, und das wird noch lange dauern. Wir müssen realistische Erwartungen haben.

Angela Merkel scheint auf eine rasche Lösung zu setzen.

Aus Deutschland bekommen wir wichtige politische und finanzielle Unterstützung, um die Aufenthaltsbedingungen für die Migranten und Flüchtlinge in Libyen zu verbessern. Auch die humanitären Bedingungen für libysche Binnenvertriebene und Rückkehrer müssen dringend verbessert werden. Derzeit verhandeln wir mit den libyschen Behörden darüber, ein Aufnahmezentrum eröffnen zu können. Wir hoffen, dass wir bis zu 1000 Flüchtlinge in einem solchen Zentrum unterbringen, medizinisch versorgen, psychosozial betreuen sowie dauerhafte Lösungen für sie finden können. Libysche Sicherheitskräfte würden die Einrichtung außen schützen, das UNHCR würde das Management übernehmen.

Ist das nicht ein Feigenblatt, um die EU-Politik legitimieren zu können?

Vielleicht ist es nur ein Tropfen im Ozean. Aber wir müssen ja irgendwo anfangen. Wir sagen den EU-Ländern aber auch ganz deutlich, dass wir uns wegen der instabilen Situation in Libyen und auch der daraus folgenden Sicherheitsrisiken für unsere Mitarbeiter mehr auf die Transitländer Sudan, Tschad, Niger und Algerien konzentrieren müssen. Wir müssen die Menschen dort vor den Gefahren in Libyen warnen und ihnen glaubwürdig alternative, legale Wege anbieten. In diesen Ländern können wir besser arbeiten als in Libyen. Wir müssen aus den Transitländern mindestens 40.000 Menschen umsiedeln. Dafür sind die Bemühungen derzeit alles andere als ausreichend. Wir brauchen verbindliche Zusagen, auch von Deutschland. Ein einziger Flüchtling aus Niger ist im Jahr 2017 umgesiedelt worden.

Angela Merkel sagt, bevor legale Pfade eröffnet werden können, müssten erst die illegalen Wege geschlossen werden.

Wir erwarten von Deutschland, sich in Afrika ähnlich zu bemühen wie in Syrien und im Irak. Wenn wir die Flüchtlinge wirklich davon überzeugen wollen, nicht über das Mittelmeer illegal einzureisen, dann müssen wir nicht nur Flüchtlingen, sondern auch den Migranten, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben kommen, legale Einwanderungswege anbieten – wie die EU-Staatschefs es auf dem Gipfel in Valletta im Dezember 2015 ja auch vereinbart haben.

Was sind Ihre Erwartungen für die kommenden Monate? Werden wieder mehr Migranten nach Italien kommen?

Man muss bei solchen Prognosen sehr vorsichtig sein. Im November wird die See wieder rau, das schlechtere Wetter und die derzeitigen Kontrollen vor der Küste sowie die Aktivitäten der Ordnungskräfte in Sabratha sind Grund dafür, dass wir im November und Dezember keinen Anstieg der Zahlen erwarten. Wir rechnen mit maximal 3000 bis 4000 Menschen im Monat, die in Italien aus Libyen ankommen werden. Das sollte für Europa zu managen sein, wenn die Behörden die Verfahren beschleunigen.

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