14. Februar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingsstadt ausgezeichnet: Die Chance, die sonst keiner sah“ · Kategorien: Deutschland, Italien · Tags:

FAZ | 13.02.2017

Das italienische Dorf Riace war fast ausgestorben, als ein Boot mit 300 Flüchtlingen strandete. Der spätere Bürgermeister hatte eine Idee. Jetzt hat Domenico Lucano den „Dresden-Preis“ erhalten.

von STEFAN LOCKE

Man konnte das eine Bild nicht sehen, ohne dass ein anderes hindurchschimmerte, als am Sonntag Domenico Lucano auf der Bühne der Semperoper stand, einem der Sinnbilder für die „süße Krankheit Gestern“, der man sich in Dresden so gern hingibt und die besonders in den Tagen um den 13. Februar schmerzt, dem Tag, an dem die Schönheit der Stadt in Schutt und Asche versank. Das ist jetzt 72 Jahre her. Lucano also, Bürgermeister des Dorfes Riace in Kalabrien, 58 Jahre alt, stand da in Jeans und Pullover auf der großen Bühne und nahm für seine beispielhafte Integration von Flüchtlingen den „Internationalen Friedenspreis“, auch Dresden-Preis genannt, entgegen – ausgerechnet in dem Haus, vor dem Montag für Montag Menschen gegen Flüchtlinge demonstrieren.

In diesen Tagen aber ist vieles anders in Dresden, wobei viele einwerfen: Das war es schon immer, nur wird jetzt endlich auch einmal darüber geredet, und nicht wieder nur über die Pöbler und Brüller berichtet, die lange genug ihren Hass und ihre Verachtung auf den Plätzen der Stadt herausgeschrien haben. In diesen Tagen gehören die wichtigsten Plätze anderen Stimmen – und Bildern: auf dem Neumarkt vor der Frauenkirche der Bus-Barrikade des deutsch-syrischen Künstlers Manaf Halbouni, die an das Leid in Aleppo erinnern soll, und auf dem Theaterplatz vor der Semperoper einer Installation aus neunzig auf Matten gedruckten Fotografien von Flüchtlingsgräbern, aufgenommen auf sizilianischen Friedhöfen. „Lampedusa 361“ heißt die Arbeit der Dresdner Autorin Heidrun Hannusch, die an das Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer erinnert, Menschen, die oft namenlos bleiben und nur mit einer Registriernummer beerdigt werden, die der Reihenfolge entspricht, in der die Körper gefunden wurden. Inzwischen ist die Kapazität vieler Friedhöfe Süditaliens erschöpft, denn schon seit zwanzig Jahren landen in der Region neben Flüchtlingen auch jene, die ihre Flucht nicht überlebten.

Ein Drittel der Einwohner sind Flüchtlinge

Kaum weniger lang ist es her, dass der Chemielehrer Domenico Lucano an der Küste seines Dorfes zufällig beobachtete, wie ein Segelschiff mit dreihundert kurdischen Flüchtlingen strandete. Das habe, so erzählte er am Sonntag in seiner Dankesrede, sein Leben verändert. „Ich sah die Ankunft nicht als Problem, sondern als Chance“, sagte er. „Die Hälfte unserer Einwohner war damals weg, in den Gassen lachten keine Kinder mehr, Riace war ein todgeweihter Ort.“

Domenico Lucano machte sich daran, die Auswanderer seines Dorfs, die irgendwo in der Welt verstreut lebten, davon zu überzeugen, ihre verlassenen Häuser für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. Und er gründete die Initiative „Citta Futura“, um den Ort mit Flüchtlingen wieder aufzubauen und mit ihnen zu leben. Dass viele der Flüchtlinge dann doch nicht im armen Süditalien bleiben wollten, sondern weiter gen Norden zogen, verschweigt er nicht. Die aber, die über die Jahre blieben, hätten den Ort wieder aufgeweckt, mehr als 150 Häuser seien mittlerweile renoviert worden, Geschäfte, Restaurants und sogar die Schule blieben erhalten. Im Jahr 2004 wurde Lucano nicht zuletzt dieses Einsatzes wegen zum Bürgermeister gewählt. Die Stelle besetzt er bis heute. Jetzt leben wieder 1800 Menschen in Riace, etwa ein Drittel davon sind Flüchtlinge aus mehr als zwanzig Ländern.

Ein winziger Beitrag, mehr nicht

„Wir brauchen Menschen, die Haltung zeigen und sich nicht anonym hinter Facebook und Twitter verstecken“, sagte Martin Roth, langjähriger Direktor des Londoner Victoria and Albert Museum sowie der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, in seiner Laudatio. Mit harter Arbeit, Toleranz und Redlichkeit sei es den Dorfbewohnern gelungen, trotz aller kulturellen und religiösen Unterschiede miteinander zu leben. „Dass dieser Preis der Menschlichkeit ausgerechnet in Dresden vergeben wird, ist wunderbar.“ Der „Dresden-Preis“ wird seit 2010 jährlich im Februar im Rahmen des Gedenkens an die Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg verliehen und zeichnet Persönlichkeiten aus, die sich gegen Gewalt, Krieg und Unrecht einsetzen; bisher erhielten ihn unter anderen Michail Gorbatschow, Daniel Barenboim und James Nachtwey.

Selten zuvor war der Preis so eng mit dem aktuellen Geschehen verknüpft wie 2017, davon zeugt zudem ein erstmals vergebener Sonderpreis für ein sizilianisches Ehepaar, das in seinem Familiengrab ein siebzehn Jahre altes Mädchen aus Eritrea aufgenommen hat, das vor Lampedusa ertrunken ist. Das Letzte, was sie dafür erwartet hätten, sei ein Preis, sagten die Eheleute. „Es war eine spontane Geste, ein winziger Beitrag, mehr nicht.“

Die Bilder dieser neuzeitlichen Tragödien aber, ausgelöst durch Krieg und Gewalt, treffen in Dresden auf eine Stadt, die bis heute mit sich ringt, auf welche Weise sie an eigenes Leid und Zerstörung adäquat erinnern soll, und die zugleich beweist, dass Frieden und Wiederaufbau möglich sind. Gerade weil die streitbare Kunst, die in diesen Tagen im Stadtbild zu erleben ist, nicht zu dessen wieder aufgeblühter Schönheit passe, sagte Wolfgang Rothe, der Interimsintendant der Semperoper, würde sie zum Zeichen für ein waches Erinnern, das sich nicht im Gestern erschöpft.

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