13. Februar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Pulverfass Naher Osten: Der Abgrund der arabischen Welt“ · Kategorien: Europa, Lesetipps

NZZ | 13.02.1017

von Wilfried Buchta

Im Nahen Osten entwickelt sich die Geschichte schnell, doch nicht zum Besseren: Wo Diktatoren stürzen, zerfallen Staaten, wo nicht, brechen Bürgerkriege aus. Die Wirtschaft darbt, die Jugend verzweifelt, der Jihadismus blüht.

Schaut man die Fernsehnachrichten oder liest Zeitung, verfestigt sich von Jahr zu Jahr ein fataler Eindruck: Man sieht eine arabische Staatenwelt, die zunehmend in Chaos, Krisen und Kriegen versinkt, einer wachsenden Zahl jihadistischer Terroristen als Heimstatt, Operationsfeld und Ausgangsbasis für Anschläge im Westen dient und immer schwerer kontrollierbare Flüchtlingsströme gen Westen hervorbringt. Doch täuscht der Eindruck? Keinesfalls. Selbst dann nicht, wenn man konzediert, dass es weiterhin noch «Inseln der Ruhe» wie die Golfmonarchien, Algerien und Marokko gibt, wo innerstaatliche Stabilität und gesellschaftlicher Friede nicht oder weniger stark gefährdet scheinen. Zumindest bis jetzt noch nicht.

Verheerendes Gesamtbild

Sonst aber sind schon mehr als die Hälfte der 22 arabischen Staaten in chronischem wirtschaftlichem Niedergang oder staatlich-territorialem Zerfall auf Raten begriffen. Ursachen sind sich teils überlagernde, teils gegenseitig potenzierende politisch-gesellschaftliche und kulturelle Krisen, ein schleichendes Abbröckeln der Herrschaftslegitimation der durchweg autoritären Machthaber und ein vielerorts dramatischer Verfall der Wirtschaft.

Der Irak, Syrien, Jemen und Libyen sind bereits «failed states», also gescheiterte Staaten, geworden – ohne Aussicht, dass die dort tobenden Bürgerkriege in absehbarer Zukunft abebben werden. Und obwohl in Ägypten oder Tunesien die Gefahr akuten Staatszerfalls gering ist, droht wegen der desaströsen Wirtschaftslage der Ausbruch schwerer sozialer Unruhen und damit permanente politische Destabilisierung, zumal häufige Anschläge jihadistischer IS-Terroristen bereits wichtige Standbeine der tunesischen und der ägyptischen Wirtschaft teilweise oder ganz haben wegbrechen lassen.

Wen dies alles anmutet wie die Sicht einer Kassandra, mag womöglich dem auf Zahlen und Fakten gegründeten und seit 1990 jährlich publizierten Arab Human Development Report der Uno mehr vertrauen. Freilich bestätigt der letzte Bericht, im November 2016 erschienen, nur das düstere Gesamtbild einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise, die sich fast allerorts in der arabischen Staatenwelt mit ihren 450 Millionen Einwohnern gefährlich zuspitzt. Die nüchternen Zahlen erschrecken, zumal sie belegen, wie überproportional schlecht die Region im globalen Vergleich abschneidet. So stellt zwar die arabische Welt gemessen an der Einwohnerzahl nur 5 Prozent der Weltbevölkerung, doch 2014 registrierte man in ihr 47 Prozent aller auf der Welt dokumentierten Terroranschläge, 68 Prozent aller Todesopfer als Folge von Kriegshandlungen sowie 58 Prozent aller Flüchtlinge weltweit, die Krieg und Terror ins Ausland getrieben haben.

Im Westen nichts Neues

Und der Westen? Der Niedergang des Nahen Ostens zertrümmert auch die strategischen Grundannahmen und politischen Handlungsmuster, auf denen die Nahostpolitik der Staaten Europas über Jahrzehnte fusste. Genarrt von naivem Wunschdenken oder getrieben von ideologischen Illusionen über die unaufhaltsame Verbreitung der westlichen Demokratie, hoffte man durch diese Politik Frieden und Stabilität in der Region wahren zu können. Doch nichts hat gefruchtet: Misslungen sind die politische und die wirtschaftliche Kooperation mit den autoritären Machthabern, von denen man irrigerweise hoffte, sie seien fähig oder willens zu demokratischen Reformen.

Misslungen sind aber auch die Militärinterventionen zum Sturz von Diktatoren – wie die im Irak 2003 –, die den Aufbau neuer demokratischer Gesellschaften verfolgten, doch kontraproduktiv wirkten, weil sie Machtvakua schufen und alte Staatsfundamente zerschlugen, ohne tragfähige neue zu bauen.

Im Ergebnis hat die westliche Demokratie in keinem arabischen Staat tiefe Wurzeln geschlagen, auch nicht nach dem vom Westen mit irrealen Erwartungen verbundenen Arabischen Frühling von 2011. Im Gegenteil: Anstatt demokratische Blüten zu treiben, schlug dieser «Frühling» in einen harten «Arabischen Winter» um, geprägt von Bürgerkriegen (Syrien, Libyen, Jemen) und der Restauration von Militärdiktaturen (Ägypten). Und selbst dort, wo die Demokratisierung ansatzweise glückte wie in Tunesien, kämpft die Demokratie um ihr Überleben. Statt Demokratien herrschen überall in Nahost autoritäre und hoch repressive nationalistische Militärregime, mit harter Hand regierende, konservative Monarchien oder (wie in Iran und im IS-Staat in Syrien und im Irak) Theokratien sowie viele kleine und kleinste auf tribal-ethnische Machtbündnisse gestützte Warlord-Regime (Jemen und Libyen).

Der Zerfall ganzer Staaten beweist, dass die Ordnung von Nationalstaaten, die Europa 1918 aus der Konkursmasse des zerbrochenen Osmanischen Reichs in Nahost schuf, gescheitert ist. Diese Staaten blieben künstliche, ethnisch und konfessionell höchst inhomogene Gebilde, die Diktatoren nur durch Gewalt zusammenhielten. Als deren eiserner Griff sich löste und die politische und soziale Ordnung des Staats zerfiel, fanden grosse Volksgruppen ihren letzten, verlässlichen Halt in ihren eigenen Gruppenidentitäten von Konfession und Ethnie. Denn nur sie boten den einzelnen Individuen ein Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität und in Form von Milizen auch ausreichend Halt und Schutz vor ihren Feinden.

Der Staatszerfall in Syrien, im Irak und in Jemen förderte die Renaissance des Konfessionalismus. Und der nun erneut akut gewordene alte sunnitisch-schiitische Konfessionshader bildet den Hintergrund, auf dem sich der Konflikt um die Vormachtrolle in Nahost zwischen Iran und Saudiarabien, den traditionellen Schutzmächten der Sunniten (Riad) und Schiiten (Teheran), abspielt und stetig zuspitzt. Dieser Hegemonialkonflikt, in dem jeder der zwei unversöhnlichen Kontrahenten bestimmte konfessionelle Kräfte in den Bürgerkriegen im Irak, in Syrien und Jemen als Stellvertreter instrumentalisiert, verschärft diese Bürgerkriege wiederum um ein Vielfaches und macht deren Lösung de facto unmöglich.

Unterwerfung oder Tod

Der IS, die seit 2013 mächtigste und gefährlichste Jihadistenorganisation mit globaler Reichweite, zieht aus dem Ringen zwischen Riad und Teheran als «lachender Dritter» und Todfeind der beiden Antagonisten den grössten Nutzen. Zwar hat das IS-Kalifat seit Ende 2015 einige Territorien in Syrien und im Irak verloren, aber es ist militärisch längst nicht besiegt: Dafür sorgen schon allein die divergierenden Interessen seiner Gegner in der internationalen Anti-IS-Allianz.

Zudem ist der IS weiterhin attraktiv für Abermillionen enttäuschter arabischer Jugendlicher, die sich von ihren Regierungen verraten fühlen, weil sie mit dem Westen paktieren und ihnen keine ökonomische Zukunft bieten. Zu verlockend ist für sie seine auf eine extrem radikale Deutung des «Heiligen Kriegs», des Jihad, gegründete manichäische Gewalttheologie, gemäss der die gesamte Welt in zwei Lager zerfällt: wahre Gläubige, also Anhänger des IS, und Ungläubige, deren Schicksal entweder freiwillige Unterwerfung oder der Tod ist.

Erleichtert wird die Rekrutierungsarbeit des IS unter Jugendlichen ganz ungemein durch das seit Jahrzehnten immer strenggläubigere geistige Klima in grossen Teilen der islamischen Welt, bestimmt von zunehmender Intoleranz und dem Hang zur Abgrenzung zu anderen Religionen und dem verhassten Westen. Entstanden ist dieses Klima vor allem durch die aufgegangene Saat aus jahrzehntelanger Missionsarbeit, mit der Saudiarabien mithilfe von Milliarden Petrodollar seine ultrakonservative Variante des Islam, den Wahhabismus, erfolgreich in allen sunnitisch-islamischen Staaten verbreitet hat.

Die wirtschaftliche Lage in den meisten arabischen Ländern ist und bleibt äusserst prekär, was nicht nur von der Misswirtschaft der äusserst egoistischen, reformunwilligen Machteliten und der unausrottbaren Korruption in der Administration herrührt. Ebenso trägt auch das in allen Staaten ungebremste Bevölkerungswachstum dazu bei, eine schleichende demografische Zeitbombe, die die Regierenden nicht entschärfen können, da sie für eine wachsende Bevölkerung, die immer jugendlicher, unzufriedener und aufsässiger wird, nicht genug Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen.

Welteroberungsphantasien

Beispielhaft für die meisten arabischen Staaten ist der Irak, dessen jährliches Bevölkerungswachstum mit 2,9 Prozent das neuntgrösste der Welt ist; die Bevölkerung hat sich von 1991 bis heute von 18 auf 38 Millionen Menschen mehr als verdoppelt – trotz mehreren Kriegen und zwölfjährigem Uno-Embargo. 60 Prozent der Iraker sind jünger als 25 Jahre, und die Jugendlichen haben kaum Perspektiven. Um ihren Lebensunterhalt zu sichern, suchen viele von ihnen ihr Heil entweder im Söldnerdienst der Milizen oder in der Flucht nach Europa. Ein unheilvoller Trend, der weitergehen wird.

Die Bilanz ist katastrophal: Europa muss damit rechnen, in den kommenden Jahren und Jahrzehnten Ziel wachsender Flüchtlingsströme aus dem Nahen Osten zu werden. Zudem verwandelt es sich zunehmend zum Aktionsfeld jihadistischer Terroristen aus Nahost, einer immer friedloseren Region, in der die Hauptakteure in permanenten Kriegen ohne Aussicht auf Versöhnung und Frieden gegeneinander kämpfen. Und die Jihadisten wiederum tragen die Konflikte in ihren Heimatstaaten mit den Mitteln des Terrors zu uns, sei es nach Paris, Nizza, Brüssel oder Berlin. Mögen ihre Welteroberungsphantasien im Namen Allahs auch grössenwahnsinnig sein, brandgefährlich sind sie allemal.

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