07. Februar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Widerstand in Italiens Kommunen: Zweieinhalb Flüchtlinge auf tausend Einwohner“ · Kategorien: Italien

NZZ | 06.02.2017

In Italien leben in nur einem Drittel aller Gemeinden Flüchtlinge, in zum Teil prekärer Lage. Zwei Todesfälle schockieren die Öffentlichkeit, doch die Politik hat schon die nächste Wahl im Blick.

von Patricia Arnold, Mailand

Die Haltung des Präsidenten der Region Ligurien ist unmissverständlich. Die Kommunen in seinem Regierungsbezirk, sagte Giovanni Toti, nähmen künftig keine Flüchtlinge mehr auf. Und damit steht der Politiker von Berlusconis Forza Italia nicht allein. In Italien wehren sich Kommunal- und Regionalpolitiker gegen die Absicht von Innenminister Marco Minniti, Flüchtlinge ab Frühjahr nach einem mathematischen Schlüssel über das ganze Land zu verteilen. Auf je 1000 Einwohner sollen 2,5 Migranten kommen.

Der Innenminister, der erst im Dezember ins Amt kam, will mit diesem neuen Verteilungsschlüssel soziale Brennpunkte, die durch hoffnungslos überfüllte Flüchtlingsheime entstanden sind, entschärfen. Minniti vom sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) hätte es gern, wenn künftig alle 8000 italienischen Gemeinden Migranten aufnehmen würden. Bis jetzt kommen Einwanderer in nur einem Drittel der Kommunen unter.

Nutzlose Anreize

Das Innenministerium beauftragte die Präfekten, in ihren Verwaltungsbezirken allen Bürgermeistern den Verteilungsplan schmackhaft zu machen. Die Kommunen sollen laut Medienberichten für jeden Flüchtling, den sie aufnehmen, 500 Euro staatliche Unterstützung erhalten. Dieser Anreiz scheint aber nicht zu funktionieren. Wie es heisst, winken Lokalpolitiker im ganzen Land ab. Vor allem Vertreter der populistischen Lega Nord, von Forza Italia und der Fünf-Sterne-Bewegung des Komikers Beppe Grillo sagen Nein. Auch Vertreter der Regierungsparteien sind nicht begeistert, sie halten sich aber öffentlich zurück.

«Je schneller der Verteilungsplan wieder verschwindet, umso besser», sagte Regionalpräsident Toti. Es sei ein Unding, dass die Regierung das Flüchtlingsproblem auf die kommunale Ebene abwälze. Es müsse dagegen nach internationalen Lösungen gesucht werden, zum Beispiel mit Herkunftsländern wie Nigeria oder Eritrea. Diese Meinung teilen seine Kollegen in der Lombardei und Venetien, die Gouverneure Roberto Maroni und Luca Zaina, beide von der Lega Nord.

Mit der Aufnahme der Immigranten fühlt sich aber auch der PD-Bürgermeister Antonio Decaro in Bari, Apulien, überfordert. Er klagte schon oft, dass Rom die Kommunen mit den Herausforderungen der Masseneinwanderung alleinlasse. Als Präsident der italienischen Vereinigung der Städte und Gemeinden hatte er jedoch mit dem Innenminister den Verteilungsschlüssel ausgehandelt. Betroffen machen Decaro vor allem die oft unmenschlichen Zustände in den völlig überfüllten Auffanglagern.

Tod im Canal Grande

Decaro spielt damit auf Fälle wie im Aufnahmezentrum von Cona an, wo Anfang des Jahres eine junge Frau aus Côte d’Ivoire starb. Die 25-Jährige war morgens in der Dusche zusammengebrochen. Erste Hilfe traf laut Medienberichten jedoch erst nach drei Stunden ein. Ihr Tod löste unter den Flüchtlingen zum Teil gewalttätige Proteste aus. In der Einrichtung leben 1200 Migranten, die Gemeinde Cona selbst zählt kaum mehr als 3000 Einwohner. Eine solche Ballung von Einwanderern dürfe nicht sein, sagt Decaro aus Süditalien. Nach den neuen Regeln müsste Cona höchstens acht Migranten aufnehmen.

Wie schwer sich Italien mit der Integration tut, zeigt auch der Tod eines jungen Mannes aus Gambia. Er ertrank vor zwei Wochen in Venedig. Aus bis jetzt noch ungeklärten Gründen stürzte er in den Canal Grande. Augenzeugen behaupten, der Westafrikaner habe Selbstmord begangen, denn er habe nicht nach den drei Rettungsringen gegriffen, die ihm von einem Vaporetto aus zugeworfen worden seien. Vom Ufer schauten Hunderte von Touristen und Venezianern zu, wie der Kopf des Ertrinkenden bald in dem eiskalten Wasser versank, dann wieder an der Oberfläche auftauchte. Einige Zuschauer filmten mit dem Handy die Szene, andere riefen ihm zu: «Afrikaner, geh nach Hause» oder «du Dummkopf».

Der Tod des Afrikaners ging in Italien vielen unter die Haut. Politiker wagen es jedoch bis jetzt nicht, sich zu dem tragischen Fall zu äussern. Im Land herrscht schliesslich schon wieder Wahlkampf. Dabei wird noch gestritten, ob nach der Regierungskrise im Dezember noch in diesem Jahr oder erst zum Ende der Legislaturperiode im Frühjahr 2018 gewählt werden soll.

Die Flüchtlinge stellen das Land vor allzu viele Probleme. 181 000 Menschen kamen im vergangenen Jahr über das Mittelmeer nach Italien, seit 2014 waren es mehr als eine halbe Million. Davon wollten andere EU-Länder schon vor zwei Jahren 40 000 aufnehmen. Doch bisher konnten nur etwa 3000 Flüchtlinge in Partnerländer weiterreisen.

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