07. Februar 2017 · Kommentare deaktiviert für „Container der Ohnmacht“ · Kategorien: Griechenland · Tags: ,

Zeit Online | 07.02.2017

62.000 Flüchtlinge und Migranten sitzen in Griechenland fest. Viele leben unter unmenschlichen Bedingungen. Die Regierung in Athen ist hoffnungslos überfordert. Von

Gerd Höhler, Athen

Vier Betten, ein Tisch, ein Schrank, eine Kochplatte, eine kleine Nasszelle – viel ist es nicht, was sich Latif mit seiner Frau, seinen zwei kleinen Kindern und seinen Eltern teilt. Ein elektrischer Heizstrahler sorgt für etwas Wärme. Der Großvater hält eines der Babys, Latifs Mutter bietet ein Glas dampfenden Tee an. An der Wand des Wohncontainers hängt ein Gemälde. Es zeigt grasende Pferde auf einer sattgrünen Wiese, dahinter Tannenwälder und steil aufragende Berge. Latif, ein 28-jähriger Afghane, findet das Bild schön, aber ins Hochgebirge möchte er nicht mit seiner Familie. „Ich will nach Deutschland“, sagt er, lacht verlegen, als müsse er sich dafür entschuldigen. „Alle wollen doch nach Deutschland.“

Draußen treibt ein kalter Nordwind dunkle Wolken über das Lager. Es nieselt. Fast 2.000 Flüchtlinge und Migranten leben in den Containern in Elaionas, einem Stadtteil im Westen von Athen. In der Antike standen hier Olivenbäume. Mit deren Zweigen ehrten die Athener ihre Olympiasieger. Heute ist das Viertel ein unansehnliches Ensemble aus Fabrikruinen, Müllhalden, Lagerhäusern und schäbigen Klitschen. Bewohner gibt es dieser Gegend fast keine – außer den Flüchtlingen. „Hier wollten wir nie hin, und hier wollen wir auch nicht bleiben“, sagt Latif.

Zwei Monate dauerte die Flucht der Familie aus Afghanistan über den Iran und die Türkei. In einem Schlauchboot kamen sie vor fast einem Jahr von einer Bucht beim türkischen Ayvalik auf die griechische Insel Lesbos. Mehr als 10.000 Dollar haben sie den Schleusern bezahlt, ihre gesamten Ersparnisse. Aber als sie Griechenland erreichten, war die Balkanroute, über die sie weiter nach Deutschland wollten, schon dicht. „Jetzt sitzen wir hier in der Falle“, sagt Latif.

„Die meisten wollen weg“, berichtet Konstantinos Tsigeridis, der in der Lagerleitung arbeitet, „nach Schweden, Holland, aber vor allem nach Deutschland.“ Menschen aus zehn Nationen leben in dem Lager, bis zu zehn Personen teilen sich die 15 Quadratmeter in den Wohncontainern. Konflikte aber seien selten, trotz der Enge, sagt Tsigeridis: „Das größte Problem für die Menschen ist die Langeweile.“

Abwechslung haben immerhin die 350 schulpflichtigen Kinder, die jeden Morgen mit Bussen abgeholt und zum Unterricht in Schulen der umliegenden Stadtteile gefahren werden. Im Lager künden große Pfützen vom Dauerregen der vergangenen Tage. Ein großes Zelt soll als Kinderspielplatz dienen. Aber hier spielt niemand. Womit auch: Es gibt keine Spielgeräte. Alles macht einen vernachlässigten, heruntergekommenen Eindruck. Mitarbeiter einer Cateringfirma laden Container mit Mahlzeiten aus einem Lkw. Das Unternehmen liefert täglich 6.000 Essen. Es gibt eine Krankenstation und eine Zahnarztpraxis. „Ich mache hier sogar komplizierte Wurzelbehandlungen“, berichtet der Zahnarzt Nasa Nashashibi. Der 60-jährige ist selbst Flüchtling, er kam vor 30 Jahren aus Palästina nach Griechenland.
Für das Nötigste ist gesorgt im Lager Elaionas. Aber auch nur für das.

62.500 Flüchtlinge und Migranten sind in Griechenland gestrandet, seit die Balkanstaaten vor einem Jahr ihre Grenzen dichtmachten. Das ist keine überwältigend große Zahl, gemessen an knapp elf Millionen Einwohnern. Griechenland sei in der Lage, eine solche Zahl von Menschen aufzunehmen und zu versorgen, hatte der für die Migrationspolitik zuständige Minister Giannis Mouzalas vergangenes Jahr deshalb versichert. Dennoch sind Regierung und Behörden hoffnungslos mit den Flüchtlingen überfordert.

Minister unter Druck

Das zeigt sich in zum Beispiel in Ellinikon, am früheren Athener Flughafen. Im September 2015 wurden die ersten Flüchtlinge im ehemaligen Terminal des vor 15 Jahren geschlossenen Flughafens untergebracht – „vorübergehend, für einige Wochen“, wie die Regierung damals beteuerte. Die Menschen schlugen in der früheren Abflughalle ihre kleinen Campingzelte auf und breiteten Decken auf dem Betonfußboden aus. Wieder und wieder kündigte Minister Mouzalas an, die Menschen in geeignete Unterkünfte zu bringen und das provisorische Lager aufzulösen.

Gehalten hat er die Versprechen nicht. Immer noch leben rund 1.600 Menschen in Ellinikon. Hilfsorganisationen kritisieren die menschenunwürdigen Zustände. Giannis Konstantatos, der Bürgermeister des Stadtteils, bezeichnet die Lage als „unerträglich“ und mahnte jetzt in einem Brandbrief den Minister, endlich „seiner Verantwortung gerecht zu werden“.

Dabei weiß der 62-jährige Mouzalas, was Krieg und Flucht bedeuten. Der Gynäkologe gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Hilfsorganisation Ärzte der Welt und war an 25 Auslandseinsätzen beteiligt, bevor Premierminister Alexis Tsipras ihn als Migrationsminister ins Kabinett berief. Inzwischen steht Mouzalas zunehmend in der Kritik. Die konservative Opposition wirft ihm „völliges Versagen“ vor.

Der Flüchtlingspakt funktioniert nicht

Vor allem die Situation in den völlig überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln bekommt Mouzalas nicht in den Griff. Auf Samos leben 1.820 Menschen in Lagern, die nur für 850 Personen ausgelegt sind. Auf Lesbos gibt es 3.500 Plätze in den Unterkünften, aber dort drängen sich über 4.900 Menschen. Die sanitären Anlagen platzen aus den Nähten. Weil sie in den Baracken nicht unterkommen, hausen Hunderte in unbeheizten Campingzelten oder selbstgezimmerten Verschlägen, die mit Planen notdürftig abgedeckt sind.

Während des Kälteeinbruchs im Januar brachen die meisten dieser Notbehausungen unter der Last des Schnees zusammen. Berüchtigt für die menschenunwürdigen Zustände ist vor allem das Lager Moria auf Lesbos. Die EU-Kommission nennt die Verhältnisse dort „unhaltbar“. Die Uno-Flüchtlingorganisation will Mouzalas vor der Kältewelle drei detaillierte Pläne unterbreitet haben, wie die Flüchtlinge geschützt werden könnten, er habe die Vorschläge aber ignoriert. In der letzten Januarwoche fand man in Moria drei Menschen tot in ihren Zelten. Sie starben vermutlich an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung, als sie versuchten, ihre Zelte mit Gasöfen zu heizen. Erst nach diesen Todesfällen werden jetzt in Moria beheizbare Notunterkünfte errichtet.

Endlose Asylverfahren

An der Überfüllung der Lager auf den Inseln wird sich so schnell nichts ändern. Die Flüchtlinge müssen dort ausharren, bis über ihre Asylanträge entschieden ist. Doch die Verfahren ziehen sich endlos in die Länge. Auf den Inseln warten nach offiziellen Angaben vom Wochenende noch 14.949 Menschen auf ihre Asylbescheide. Im gesamten vergangenen Jahr haben die griechischen Behörden aber nur 2.711 Asylanträge genehmigt. Geht es in diesem Tempo weiter, wird es Jahre dauern, bis alle Fälle abgearbeitet sind.

Weil die Asylverfahren so lange dauern, funktioniert auch die im Flüchtlingspakt mit der türkischen Regierung vorgesehene Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei nicht. Seit Inkrafttreten des Abkommens hat Griechenland erst rund 950 Menschen dorthin zurückgeschickt, die meisten wollten freiwillig zurück.

Wieder mehr Flüchtlinge über die Ägäis

Maximal 30 Asylanträge pro Tag werden bearbeitet, sagt Christina Kalogirou, die Regionalpräfektin der nördlichen Ägäis. Zugleich kommen aber immer neue Schutzsuchende aus der Türkei auf die Inseln. Allein in der zweiten Januarhälfte waren es im Tagesdurchschnitt mehr als 40. Das sind zwar viel weniger als vor dem Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei, als an manchen Tagen bis zu 3.000 Menschen über die Ägäis kamen. Dennoch wird die Liste der Asylsuchenden letztlich immer länger. Die Athener Regierung macht dafür auch die europäischen Partner verantwortlich. Sie hätten immer noch nicht die versprochenen Asylexperten nach Griechenland entsandt, heißt es.

Migrationsminister Mouzalas ließ zahlreiche Interviewanfragen von ZEIT ONLINE über Wochen unbeantwortet. Der Minister steht unter Druck. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR nennt die Zustände auf den griechischen Inseln eine „Schande für Europa“. Mouzalas wiederum beschuldigt die Inselbevölkerung und Lokalpolitiker, die angeblich nicht kooperierten. Und er wirft den EU-Partnern vor, dass sie ihre Zusagen nicht einhalten: 63.300 Asylbewerber wollten sie aus Griechenland umverteilen, aber genommen hätten sie bisher erst 8.400.

Den afghanischen Flüchtling Latif im Lager Elaionas plagen andere Sorgen. „Das Schlimmste sind die Ohnmacht und das Nichtstun“, sagt der junge Familienvater: „Keiner sagt uns, was aus uns werden soll.“ Mit Gelegenheitsjobs außerhalb des Lagers versucht er, etwas Geld zu sparen. In Deutschland will er versuchen, in seinem Beruf als Automechaniker Arbeit zu finden. „Vielleicht öffnet sich die Balkanroute ja eines Tages wieder“, hofft Latif.

Die Grenzen sind zwar zu, aber nicht hermetisch dicht. Immer wieder versuchen Schleuser, Flüchtlinge aus Griechenland über Mazedonien oder Bulgarien nach Norden zu lotsen. „Jeden Tag greifen die griechische Polizei und die Soldaten auf der mazedonischen Seite etwa 10 bis 15 Personen beim Grenzübertritt auf“, berichtet die Vorsteherin des Grenzdorfes Idomeni, Xanthoula Soupli. Wie viele es schaffen, unentdeckt die Grenze überqueren und weiter nach Norden zu ziehen, weiß niemand. „Der Druck hat wieder zugenommen“, sagt ein Insider. Seit vergangenem Freitag sind deshalb Polizisten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex an der griechisch-mazedonischen Grenze im Einsatz, darunter zwölf Deutsche.

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