27. Dezember 2016 · Kommentare deaktiviert für „Familiennachzug von Flüchtlingen: Das gebrochene Versprechen“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Quelle: ARD Tagesschau | 27.12.2016

Immer seltener dürfen minderjährige Flüchtlinge ihre Eltern nach Deutschland nachholen. Dabei hatte vor allem die SPD auf Einzelfallprüfungen bestanden – „aus Nächstenliebe“. Recherchen des ARD-Hauptstadtstudios zeigen aber: die Regelung wurde nie umgesetzt.

Von Arnd Henze, ARD-Hauptstadtbüro

Wenn Bashar nachts nicht einschlafen kann, vermisst er die Mutter ganz besonders. Dann kommen die Bilder wieder hoch: von den Bomben in seiner Heimat Syrien, von der gefährlichen Flucht im Schlauchboot, von Hunden und Schlägen auf dem langen Weg auf der Balkanroute. Bashar war 14 Jahre alt, als er sich mit seinem drei Jahre älteren Cousin und einem Onkel ins ferne Deutschland aufmachte.

Ein Jahr später lebt Bashar mit seinen beiden Verwandten und fünf anderen jungen Männern in einer Wohngruppe für minderjährige Flüchtlinge. Ärzte haben ihm schwere Angstzustände bescheinigt. „Man muss sich nur seine Statusmeldungen im Internet ansehen“, erzählt Thomas Henke, sein ehrenamtlicher Vormund. „Da heißt es seit Wochen nur: Ich bin einsam.“ Auf der linken Gesichtshälfte hat sich deutlich sichtbar ein Tumor gebildet, der in den nächsten Wochen operiert werden muss.

Der zerplatzte Traum

Wie viele minderjährige Flüchtlinge aus Syrien hatte auch Bashar darauf gehofft, dass ihm seine Eltern bald nachfolgen könnten. Doch diese Hoffnung ist vorerst geplatzt. Im März hat die Bundesregierung mit dem Asylpaket 2 auch den Familiennachzug für minderjährige Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz für zwei Jahre ausgesetzt. Und in der Folge wurde auch immer mehr syrischen Flüchtlingen nur noch dieser eingeschränkte Fluchtstatus zuerkannt.

Auf Anfrage der Grünen-Abgeordneten Franziska Brantner teilte das Bundesinnenministerium mit, dass sich die Zahl der minderjährigen Flüchtlinge mit subsidiärem Status von 105 im Jahr 2015 auf 2263 bis November 2016 gestiegen ist – ein Anstieg um den Faktor 20 mit weiter deutlich steigender Tendenz.

Folgenreicher Fehler der SPD-Minister

Das bringt vor allem die SPD in Erklärungsnot. Die hatte sich bis zuletzt gegen jegliche Einschränkung des Familiennachzugs gewehrt. Doch dann führte eine durch Recherchen des Hauptstadtstudios aufgedeckte peinliche Panne in der Ressortabstimmung dazu, dass die SPD-Minister im Asylpaket 2 gegen alle Ankündigungen sogar der Aussetzung des Elternnachzugs zustimmten. Nach schwierigen Nachverhandlungen einigten sich Innenminister Thomas de Maizière und Justizminister Heiko Maas auf eine Einzelfallprüfung.

Triumphierend vermeldete die SPD: „Die Humanität hat sich durchgesetzt.“ Und SPD-Chef Sigmar Gabriel bemühte sogar die „Nächstenliebe“ als Maßstab für die Härtefallregelung, die dem Auswärtigen Amt zusammen mit dem Innenressort übertragen wurde.

Bundesregierung weiß nichts von Härtefällen

Umfangreiche Recherchen des ARD-Hauptstadtstadtstudios belegen allerdings, dass diese Härtefallregelung nie umgesetzt wurde. Auf Anfrage der Grünen erklärte das Innenministerium: „Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor.“ Und auch das federführende Auswärtige Amt verweist nur vage auf „eine Reihe von Einzelfällen, […] in denen ein Visum erteilt wurde oder das Visumsverfahren noch läuft“. Statistisch erfasst würden diese Fälle allerdings nicht.

Vormünder ziehen vor Gericht

Wenn sich Thomas Henke mit anderen Vormündern der Caritas Berlin zum Erfahrungsaustausch trifft, spürt man, wie viel Ratlosigkeit und Wut sich in den vergangenen Monaten bei den ehrenamtlichen Helfern aufgestaut hat. In dicken Aktenordnern sammeln sie ihre ausnahmslos vergeblichen Schriftwechsel mit Ministerien, Ausländerämtern und Politikern. Zu Tausenden haben sie Anfang des Jahres die Verantwortung für minderjährige Flüchtlinge übernommen – damals noch in der festen Erwartung, für ihre Mündel nach dem Asylantrag auch den Familiennachzug zügig auf den Weg bringen zu können.

Im Grunde habe ich jetzt zwei traumatisierte Kinder“, sagt Susanne Pfefferkorn, die sich als Strafrichterin mit Behördenabläufen auskennt, als Ehrenamtliche aber an einer Wand bürokratischer Mauern abprallt. Das jüngere der beiden Mündel – erst zwölf Jahre alt – wartet seit mehr als einem Jahr auf das Asylverfahren. Und so vertraut Susanne Pfefferkorn wie viele andere längst nicht mehr auf die versprochene Härtefallregelung, sondern setzt auf eine Klage vor dem Verwaltungsgericht. Denn in vielen Fällen haben die Gerichte die Einordnung als „subsidiär Schutzberechtigte“ bei syrischen Flüchtlingen bereits für rechtswidrig erklärt.

Regelung widerspricht dem Völkerrecht

Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIM) geht noch weiter und sieht in der Aussetzung des Familiennachzugs generell einen klaren Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention. „Wenn ein Kind von seinen Eltern getrennt ist, besteht eine zwingende völkerrechtliche Verpflichtung, die Zusammenführung zu ermöglichen“, erklärt Ute Sonnenberg vom DIM. Die Behörden in Deutschland hätten hier „einen Ermessensspielraum von Null“.

Gegen die Aussetzung des Familiennachzugs hatten auch die Kirchen scharf protestiert. Umso größer nun die Verärgerung, dass nicht einmal die versprochene Härtefallregelung umgesetzt wurde. Christina Busch von der Caritas im Erzbistum Berlin berichtet von einem großen Vertrauensverlust bei den Ehrenamtlichen, wenn die Behörden „Pingpong auf dem Rücken von jungen Flüchtlingen“ spielen würden.

Und der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, sieht vor allem gefährliche Folgen für die Zukunft der Jugendlichen: „Wer traumatisierte Kinder in einer Welt von ausschließlich jungen Männern aufwachsen lässt, schafft genau die Probleme, vor der sich Gesellschaft verständlicherweise fürchtet. Das ist das organisierte Scheitern von Integration“. Angesichts der erheblich gestiegenen Zahlen von betroffenen jungen Flüchtlingen fordert Lilie eine Kurskorrektur der Politik.

SPD schweigt betreten

In der SPD fühlen sich vor allem jene 30 Abgeordnete bestätigt, die im März gegen das Asylpaket 2 gestimmt hatten und auch der versprochenen Einzelfallprüfung bei minderjährigen Flüchtlingen nicht vertrauten: „Bei der Vereinbarung ging es doch nur darum, das Thema vor den anstehenden Landtagswahlen aus den Schlagzeilen zu bekommen“, meint die Berliner Abgeordnete Ute Finck-Krämer. Andere prominente Fraktionsmitglieder, die dem Gesetz damals trotz großer Zweifel zugestimmt hatten, werfen Innenminister de Maizière Wortbruch vor: Der habe in der Fraktion zugesagt, dass die Zahl der subsidiär geschützten syrischen Flüchtlinge nicht weiter steigen werde.

Weniger gern freilich reden diese Parlamentarier über die Zuständigkeit des SPD-geführten Auswärtigen Amtes für die nie umgesetzte Einzelfallprüfung. Und so wurden gleich eine Reihe von bereits vereinbarten Interviews im letzten Moment wieder abgesagt. Immerhin: Die Parlamentarische Linke der SPD will das Thema Anfang des Jahres aufgreifen. Denn geht es geht nicht nur um eine wachsende Zahl von syrischen Kindern, die vielleicht auf Jahre von ihren Familien getrennt bleiben werden. Es geht auch um den Umgang mit dem vielleicht peinlichsten und folgenreichsten Versehen der SPD-Minister in der Großen Koalition. Und es geht um ein Versprechen, über das Vormünder wie Thomas Henke nur bitter lachen können: dass sich die Humanität durchgesetzt habe.

Beitrag teilen

Kommentare geschlossen.