24. Dezember 2016 · Kommentare deaktiviert für „Jetzt sind sie weg“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

Quelle: der Freitag | 24.12.2016

Informationslücke Viele Helfer haben sich mit Geflüchteten angefreundet. Nach der Abschiebung bricht der Kontakt oft ab. Zurück bleiben Sorgen

JULIANE WIEDEMEIER

Am Ende des Abends sitzen wir zusammen vor dem Computer und schauen uns die alten Fotos vom Schwimmkurs an. Nevena* kämpft sich, eingepfercht zwischen zwei aufgeblasene Schwimmnudeln, die Bahn hinunter. Lamija albert am Beckenrand herum. Amisa hat das Belohnungseis nach der Anstrengung gleichmäßig im Gesicht verteilt.

„Das war der Willkommenssommer. Die Idee, dass es egal ist, wo jemand herkommt – in diesem Sommer hat sie funktioniert“, meint Maria. Jeden Tag hat sie damals, vor anderthalb Jahren, 20 Kinder aus einem Berliner Flüchtlingsheim zum Hallenbad begleitet, damit sie dort schwimmen lernen und das Seepferdchen machen können. „Ich werde nie vergessen, wie wir durch die Straßen gegangen sind und alle gemeinsam gesungen haben, mal ein serbisches Lied, mal ein arabisches. Die Leute haben geguckt!“

Das war 2015, in der Zeit, als Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof klatschend begrüßt wurden; als in manchem Heim mehr Helfer als Flüchtlinge waren; als Angela Merkels Ansage „Wir schaffen das“ noch nicht als höhnische Floskel missbraucht wurde, sondern Ausdruck der Überzeugung vieler war. Seither ist viel passiert – am Kölner Hauptbahnhof, in Clausnitz und in den Wahlkabinen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Damit aus der Flüchtlingskrise keine für die Demokratie in Deutschland wird, wurden Fluchtrouten gesperrt. Und es wurde und wird abgeschoben. Ein abstrakter Verwaltungsakt, von vielen gefordert. Doch wir kennen die Menschen, die es erwischte: einzelne Kinder aus dem Schwimmkurs, zum Beispiel. Sie waren mit ihren Familien aus Serbien, Bosnien, dem Kosovo und Albanien nach Berlin geflüchtet. Seit diese Länder als sichere Herkunftsstaaten gelten, haben Menschen von dort kaum noch eine Chance auf Asyl. Auch Afghanistan soll auf dieser Liste landen. Wir Helferinnen und Helfer fragen uns: Wo soll das enden?

Ein Bus, ein paar Kisten

Wir sitzen am Küchentisch von Ines Stürmer und Henry Koch im Seitenflügel eines ehemals besetzten Hauses im Prenzlauer Berg. Drei Jahre ist es her, dass die beiden für das Flüchtlingsheim in einer alten Schule in ihrer Nachbarschaft einen Unterstützerkreis gründeten. Rund 100 Nachbarn engagieren sich dort, um mit Geflüchteten Deutsch zu lernen, gemeinsam zu kochen, zu basteln oder einfach Kaffee zu trinken. Henry und Ines geben Hausaufgabenhilfe, begleiten Menschen aufs Amt. Auch Maria, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, ist dabei. Sie organisiert die Kleiderkammer. Ich selbst gehe einmal in der Woche zu den Kindern in die Schule, um mit ihnen unser Alphabet oder das Einmaleins zu pauken.

Ines ist Bauinformatikerin, Henry Diplom-Komponist, Maria studiert Bibliothekswissenschaften, und ich bin Journalistin. Offiziell ist unsere Arbeit mit den Geflüchteten ein Ehrenamt. Tatsächlich ist es viel mehr. Längst gehören diese Menschen zu uns und unserem Alltag – bis sie irgendwann plötzlich verschwinden.

Der erste Abschied fiel noch in den Willkommenssommer. Nevena konnte den Schwimmkurs nicht zu Ende machen. Mit ihren Eltern und ein paar großen Kisten stieg sie in einen Bus nach Bosnien und war weg. „Das war noch am Anfang. Da lief das noch geordnet“, erinnert sich Ines. Genug Zeit, ihre Habseligkeiten zusammenzupacken, bleibt vielen Menschen heute nicht mehr.

Vom Fleck weg verhaftet

Der amtliche Beleg dafür, dass es mit der neuen Heimat Deutschland nichts wird, wird als GÜB bezeichnet – kurz für „Grenzübertrittsbescheinigung“. Dort vermerkt ist das Datum, bis wann man spätestens ausreisen muss. Doch ist die GÜB einmal ausgestellt, können die Behörden jederzeit abschieben. Familie Bešlić aus dem Kosovo ist es so ergangen: Der Vater hatte gerade einen Herzinfarkt überstanden, da wurde die gesamte Familie auf dem Amt verhaftet. Die Angst vor Blutrache im Herkunftsland war als Asylgrund nicht anerkannt worden. Der Vater und die vier Kinder wurden direkt zum Flughafen gebracht, für die Mutter ging es im Polizeiauto ins Heim. Vier Koffer durfte sie packen; der Rest wurde eingelagert. „Der Betreiber ist verpflichtet, die Sachen ein halbes Jahr aufzubewahren. Das persönliche Gut dieser Menschen wird zum Verwaltungsakt“, sagt Ines. „Du hast gesehen, wie sie ankommen, mit nur einem Rucksack. Umso bitterer, dass sie ihre neuen Sachen nicht mitnehmen dürfen. Ein bisschen Würde sollte man den Leuten zugestehen“, findet Maria. Versuche, die Familie wieder zurückzuholen, liefen ins Leere. Irgendwann kam eine E-Mail vom Berliner Senat, dass alles seine Ordnung gehabt habe. „Man ist so hilflos“, sagt Maria. „Dabei habe ich nicht das Gefühl, dass die einzelnen Fälle geprüft werden. Es werden einfach Abschiebequoten erfüllt.“

Im ersten Halbjahr 2016 wurden laut Berliner Innenverwaltung 1.068 Menschen aus der Stadt ausgewiesen – im gesamten Vorjahr waren es 806. „Der Bund hat eine Verdopplung der Abschiebungen in diesem Jahr als Zielmarke ausgegeben. Berlin liegt bislang also deutlich über dieser Erwartung“, erklärte der inzwischen ausgeschiedene Innensenator Frank Henkel (CDU). Dass die gut laufende Integration damit abrupt beendet wurde, geht aus den Zahlen nicht hervor. Es traf Menschen, die hier längst zur Schule gingen, die Deutsch lernten und Freunde gefunden hatten.

Am Tag nach der Abschiebung von Familie Bešlić saß ich mit Lamija und Amisa aus dem Schwimmkurs auf dem Flur vor der Klasse, um in einer langen Schlange von Buchstaben deutsche Wörter zu entdecken. Doch an Lernen war nicht zu denken. „Nur vier Koffer! Alles ist noch da!“, meinte Lamija. An anderen Tagen hatten wir diskutiert, welche Haarfarbe ihr wohl am besten stünde, wenn ihre Mutter ihr eines Tages das Färben erlaubte. Ob Schokocroissants ein vernünftiges Schulfrühstück seien. Und was ich eigentlich von diesem Ruben aus der 6a hielte. Doch an diesem Tag hatte die Elfjährige schwarze Ringe unter den Augen. Nein, sie habe in der vergangenen Nacht nicht schlafen können. „Ich habe Angst, dass sie mich holen.“ Ich möchte nicht, dass Kinder in diesem Land solche Sätze sagen.

Zwei Wochen nach der harten Abschiebung der Bešlićs rief Ines bei der Familie an. Sie waren bei Verwandten untergekommen. Das Gespräch führte die zehnjährige Tochter, weil sie bereits fließend Deutsch sprach. „Ich fand das so schlimm, mit dem Kind über diese Situation sprechen zu müssen“, erzählt Ines jetzt. Bloß nicht heulen, habe sie sich gedacht. „Danach haben wir uns überlegt, dass wir die Leute unterstützen wollen – auch um unsere eigene Hilflosigkeit zu kanalisieren.“

Drei Arten von Abschieden kennen wir Unterstützer mittlerweile: Die einen werden vom Fleck weg verhaftet und unter Aufsicht abgeschoben. Die anderen verschwinden über Nacht aus dem Heim – ob sie sich nicht verabschieden wollen oder untertauchen, wissen wir nicht. Die Dritten reisen geplant aus. Diesen kann man versuchen, den Neustart in der alten Heimat etwas angenehmer zu machen. „Wir sammeln unter uns ein wenig Geld, damit die Familien sich in ihren Ländern das Dringendste kaufen können“: So erklärt es Henry. Meist ist das eine Waschmaschine, aber ein Vater erkundigte sich, ob er eine Kettensäge haben könne. Wohl um im Wald Brennholz besorgen zu können. „Waschmaschine oder Kettensäge – das klingt wie ein Schlingensief-Stück“, meint Ines. So endet für viele dann also die Möglichkeit namens Deutschland.

Ob es mit der Säge geklappt hat, haben wie nie erfahren. Denn mit der Ausreise verschwinden die Menschen oft wie in einem schwarzen Loch. „Wir behalten unser Leben, aber sie müssen ins Ungewisse. Sie wissen, dass wir nicht helfen können“, meint Maria. Manchmal taucht jemand bei Facebook wieder auf, aber nicht alle haben Zugang zum Internet. Und die Meisten haben eben viel dringlichere Probleme, als ihre deutschen Bekannten auf dem Laufenden zu halten. „In manchen Ländern haben die Rückkehrer keinen Anspruch mehr auf Unterstützung. Da gibt es kein Hartz IV, keine Wohnung“, sagt Maria. „Gerade Abschiebungen im Winter sind eine humanitäre Katastrophe.“

„Serbien ist Katastrophe. Ich will hier bleiben“: Das hatte auch Luka zu mir gesagt, als wir mal wieder kurz nach einer Abschiebung aus dem Heim gemeinsam Lesen übten. Acht Jahre alt, hatte er in wenigen Monaten ziemlich passabel Deutsch gelernt. Auch Mathe war für ihn kein Problem. Nur in Weitsprung war er eine echte Niete. Dafür hatte es ihn brennend interessiert, dass seine aus der Kleiderkammer stammenden Adidas- und meine Puma-Schuhe von verfeindeten Brüdern erfunden wurden. „Adnan! Wusstest du, dass Adidas und Puma Brüder waren?!“ Ich sehe ihn noch mit dieser Information über den Sportplatz rennen. Zwei Wochen später war Luka weg. Nicht mehr lange, und er hätte aus der Flüchtlings- in eine Regelklasse wechseln können. Nun weiß ich nicht einmal, ob er überhaupt noch zur Schule geht. Trotz Schulpflicht ist das gerade für Roma auf dem Balkan nicht selbstverständlich.

„Ich höre immer alle über die Wirtschaftsflüchtlinge reden. Das hat nichts mit meiner Wahrnehmung zu tun“, sagt Maria. „Das waren Menschen, die eine Chance sahen, die ein besseres Leben für sich und ihre Kinder wollten.“ Solange das möglich war, haben wir sie begleitet. Wir haben mit ihnen Kleider ausgesucht und Möbel gebaut, waren bei Sportfesten und im Museum, haben zu Taylor Swift getanzt und Sonnenblumenkerne geteilt. Jetzt sind sie weg.

„Ich halte mich daran fest, dass wir für die Kinder etwas getan haben. Wir haben Stabilität geboten“, meint Ines. „Was ich gelernt habe, kann mir niemand wegnehmen, Sprache, Schwimmen, Multiplizieren – das wird in den Kindern weiterleben“, sagt Henry. „Wir haben ihnen Momente der Leichtigkeit gegeben“, findet Maria. Wir schauen auf die Fotos vom Schwimmkurs und denken: immerhin das.

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