18. Dezember 2016 · Kommentare deaktiviert für „Abschiebung von Asylbewerbern: Teure Afghanen“ · Kategorien: Afghanistan, Deutschland · Tags:

Quelle: FAZ | 18.12.2016

Die Bundesregierung schickt Flüchtlinge an den Hindukusch zurück und statuiert damit ein Exempel. Das hat auch wirtschaftliche Gründe. Eine Analyse.

von RALPH BOLLMANN

Konspirativ ging die Sache nicht vonstatten, ganz im Gegenteil. Die Chartermaschine aus Frankfurt war erst vor ein paar Stunden auf dem Flughafen von Kabul gelandet, da rief Bundesinnenminister Thomas de Maizière in Berlin schon die Presse zusammen und erstattete ausgiebig Bericht. Der erste Abschiebeflug nach Afghanistan war eine Demonstration, und er sollte es nach dem Willen der beteiligten Politiker von Union und SPD auch sein. Den Flüchtlingen aus dem Land am Hindukusch wollten sie signalisieren, dass sie besser daran täten, die Bundesrepublik freiwillig zu verlassen. Und die Wählerschaft der eigenen Parteien sollte erfahren, dass eine härtere Gangart in der Flüchtlingspolitik auch ohne eine Stimmabgabe für die AfD zu haben sei.

Allerdings beantwortet das noch nicht die Frage, warum sich die Politik ausgerechnet die Afghanen auserkoren hat, um an ihnen dieses Exempel zu statuieren. Sie waren in den zurückliegenden anderthalb Jahren eine der drei größten Flüchtlingsgruppen in Deutschland. Im Jahr 2015 kamen nach dem gerade erst veröffentlichten Migrationsbericht der Bundesregierung 327.000 Syrer, 95.000 Afghanen und 73.000 Iraker ins Land.

Syrer und Iraker haben es leichter

In Bezug auf die Fluchtgründe haben die drei Länder einiges gemein. Überall herrscht seit Jahren Bürgerkrieg, und die Sicherheitslage ist schlecht – so schlecht, dass sich selbst deutsche Diplomaten in ihren festungsartig verrammelten Dienstgebäuden nicht mehr sicher fühlen.

Nun sagt de Maizière, neben den Gefahrenzonen gebe es in Afghanistan auch Gebiete, in denen die einheimische Zivilbevölkerung vergleichsweise ungefährdet sei. Eine solche Aussage ließe sich zumindest für manche Gegenden im Irak wohl auch treffen. Trotzdem machen die deutschen Behörden erhebliche Unterschiede. Einen Schutzstatus erhielten im vorigen Jahr 96 Prozent der Syrer und 89 Prozent der Iraker, aber nur 48 Prozent der Afghanen. Auch die Prozedur unterscheidet sich erheblich. Während das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) die Anträge von Syrern schnell bearbeitet, prüfen die Beamten die Begehren von Afghanen penibel.

Das hat zwei Gründe, über die nicht ganz so laut geredet wird – weil es der humanitären Argumentation widerspräche. Einen davon hat der Innenminister am Donnerstag immerhin angedeutet. „Wenn sich deutsche Kräfte in Afghanistan für mehr Sicherheit einsetzen“, sagte er, „dann ist es möglich und zumutbar, dass die afghanische Bevölkerung in ihr eigenes Heimatland zurückkehrt.“

Mit anderen Worten: Wenn wir keine Flüchtlinge nach Afghanistan zurückschicken könnten, dann wäre der inzwischen schon anderthalb Jahrzehnte währende und gerade erst verlängerte Bundeswehreinsatz dort vergeblich gewesen – mit all seinen menschlichen und finanziellen Opfern. Es wäre das Eingeständnis eines Scheiterns, das die Bundesregierung unbedingt vermeiden will.

Der andere Grund erschließt sich bei einem Blick in die Statistiken, die über Bildungsstand und Integrationschancen der Flüchtlinge zumindest eine ungefähre Auskunft geben. Sie zeigen, dass viele Afghanen deutlich schlechtere Voraussetzungen mitbringen als die Mehrzahl der Syrer oder Iraker. Sie haben im Schnitt einen kürzeren Schulbesuch vorzuweisen, sie können sich weniger häufig in einem passablen Englisch verständigen, sie sind seltener an das Leben in einem modernen städtischen Umfeld gewöhnt.

Wie krass der Abstand ist, das zeigen die jüngst veröffentlichten Ergebnisse der vom Bamf vorgenommenen Flüchtlingsbefragungen. Demnach haben 26 Prozent der afghanischen Antragsteller überhaupt keine Schule besucht, was hingegen nur auf 5 Prozent der Syrer und 15 Prozent der Iraker zutrifft.

Schlechte Bildung führt zu hohen Integrationskosten

Am oberen Ende des Bildungsspektrums verfügen nur 28 Prozent der Afghanen über einen mittleren oder weiterführenden Schulabschluss. Bei den Irakern trifft das immerhin auf 44 Prozent der Befragten zu, bei den Syrern auf 62 Prozent. Man muss kein Arbeitsmarktexperte sein, um die Auswirkungen dieser Zahlen auf spätere Jobchancen abschätzen zu können – und damit auf die Kosten, die eine Integration dieser Bevölkerungsgruppe verursacht.

„Je stärker ein Land von Krieg, Bürgerkrieg und politischer Verfolgung betroffen ist, desto geringer ist das durchschnittliche Bildungsniveau“, sagt dazu Herbert Brücker, Bereichsleiter am Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Das ist in Afghanistan schon seit dem kommunistischen Putsch von 1978 und der anschließenden Intervention sowjetischer Streitkräfte der Fall.

Seit fast vier Jahrzehnten herrschen in dem Land keine stabilen Verhältnisse mehr. Auf den Irak trifft das seit der amerikanischen Intervention von 2003 zu, auf Syrien seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011. Diese Jahreszahlen spiegeln sich ziemlich genau in den Angaben zum Bildungsniveau wider.

Im Zeitverlauf hat sich der Abstand sogar vergrößert. Bevor die Flüchtlingszahlen im Sommer 2015 so stark anstiegen, fielen Bildungsniveau und Integrationserfolge der Afghanen noch nicht so weit hinter die von Flüchtlingen aus anderen Herkunftsländern zurück. Nach Bamf-Zahlen von 2014 hatten damals 29 Prozent der afghanischen Flüchtlinge in Deutschland eine Arbeit, 16 Prozent waren in Ausbildung. Gute Werte für Schutzsuchende, die noch nicht lang im Land sind. Erfolgreicher waren damals nur die Iraker, von denen 39 Prozent eine Erwerbstätigkeit ausübten. Die Syrer fielen mit 25 Prozent deutlich zurück.

Heute sind die Zahlen anders. Das liegt einerseits daran, dass die große Mehrzahl der in Deutschland lebenden Flüchtlinge erst vor gut einem Jahr ins Land kam – ein viel zu kurzer Zeitraum für die Integration in den Arbeitsmarkt. Der andere Grund ist, dass in der frühen Phase der Fluchtbewegung vornehmlich wohlhabendere und damit meist auch besser gebildete Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan den Weg nach Deutschland fanden. Erst später suchten breitere Gesellschaftsschichten das Weite, womit das geringere durchschnittliche Bildungsniveau in Afghanistan erst richtig zum Tragen kam.

Behörden stufen Lage als „konstant ausreichend sicher“ ein

Wie sehr der politische Wille und die schlechtere Integrationsprognose den Umgang mit afghanischen Flüchtlingen prägen, zeigte sich schon im November. Damals gelangten interne Einschätzungen des Bamf an die Öffentlichkeit, wonach die Sicherheitslage in Afghanistan während der vergangenen vier Jahre immer schlechter geworden ist. Trotzdem stufte die Behörde eine Reihe von Regionen offiziell als „konstant ausreichend sicher“ ein. „Das ist politisch so gewollt“, wurden Behördenmitarbeiter in einem Online-Medium zitiert.

Mit der Debatte um den Tod einer Freiburger Studentin, deren mutmaßlicher Mörder aus Afghanistan stammt, hatte das nichts zu tun: Der Täter war damals noch gar nicht identifiziert. Im Vergleich zu anderen Flüchtlingsgruppen etwa aus Nordafrika werden Afghanen ohnehin selten straffällig, wie eine Aufstellung des Bundeskriminalamts kürzlich ergab. Das eint sie mit Syrern und Irakern.

Afghanen bekommen in anderen Ländern öfter Asyl

Dass der Umgang mit Asylbewerbern aus Afghanistan von übergeordneten Erwägungen abhängt, zeigt sich auch an der europaweiten Statistik. Nach einer Aufstellung der EU-Asylbehörde geht die Anerkennungsquote in den einzelnen Mitgliedstaaten für kein anderes Herkunftsland so weit auseinander: Sie variiert von 14 bis 96 Prozent. Der Durchschnitt liegt bei mehr als 60 Prozent, also deutlich über dem deutschen Niveau. Schon im April beschlossen die zuständigen Minister auf EU-Ebene, eine gemeinsame Anerkennungspraxis zu entwickeln. Weit gekommen sind sie damit noch nicht.

Anders als die Syrer, auf die sich die deutsche Willkommenskultur im vorigen Jahr konzentrierte, zogen viele Afghanen 2015 in die Schweiz weiter. Im Verhältnis nahm das Nachbarland zeitweise mehr von ihnen auf als die Bundesrepublik. Aber die neutrale Schweiz hat auch keine Truppen am Hindukusch stehen – und damit ein Argument weniger, Flüchtlinge von dort zurückzuweisen.

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