09. Dezember 2016 · Kommentare deaktiviert für „Dublin II: Will die EU Flüchtlinge aus ganz Europa nach Griechenland senden?“ · Kategorien: Europa, Griechenland · Tags:

Quelle: Telepolis | 09.12.2016

In Athen rechnet man mit einem Scheitern des Türkei-Deals und einer Vielzahl von neuen Flüchtlingen

Wassilis Aswestopoulos

Der Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei wird immer mehr in Frage gestellt. In Griechenland rechnen daher viele Experten und Bürger mit einem rasanten Anstieg von Flüchtlingszahlen zum Jahresende. Bis dahin hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sein Ultimatum gestellt. Wenn er bis Jahresende keine Visafreiheit für die Türken erhalte, möchte er vermehrt Flüchtlinge nach Europa schicken, hat er mehrmals angekündigt.

Gleichzeitig konzentriert sich die EU auf eine Wiederherstellung der Dublin II-Regeln, womit die übrigen EU-Staaten Flüchtlinge und Migranten, die über Griechenland – oder Italien – ins Land kamen, wieder zurückschicken können. Schließlich besagt die Theorie der Abschreckung, dass sich die Unpassierbarkeit Griechenlands für Flüchtlinge so weit herumgesprochen hat, dass diese nicht nach Griechenland kommen würden, selbst wenn der EU-Türkei Deal kippen würde.

Dass Griechenland für die meisten der Flüchtlinge eine vorläufige Endstation ist, trifft weitgehend zu. Allerdings sind Tausende von ihnen schlicht verschwunden. Das Wall Street Journal spricht von 13.000 Flüchtlingen und Migranten in Griechenland, deren Verbleib nicht geklärt ist.

Diese Angaben werden von der griechischen Presse, ohne Zweifel anzumelden, übernommen – zumal das Studium der seit März täglich von der Regierungskoordinationsstelle für das Flüchtlingsproblem gesandten Zählungen teilweise kaum erklärbare Fluktuationen darlegt.

Tatsächlich sollen bis zu 5.000 Menschen von den eigentlich hermetisch abgeriegelten Hotspots auf den griechischen Grenzinseln aufs Festland gelangt sein. Von dort können sie weiter nach Europa gelangt sein, wie Polizisten aus den Grenzregionen in privaten Gesprächen bestätigen.

Die Einstellung der eigentlich nach dem Dublin II-Abkommen gebotenen Rückabschiebungen von Flüchtlingen oder Migranten, die über Griechenland in andere Staaten der EU gelangt sind, trat in Kraft, nachdem die seinerzeit untragbaren Zustände für die Schutzsuchenden im finanziell angeschlagenen Mittelmeerstaat dies geboten. Nach Ansicht der EU-Kommission, welche die Aussetzung des Dublin II-Abkommens im März 2017 beenden will, hat sich dies nun geändert.

Flüchtlingshilfsorganisationen, das UNHCR und jeder Beobachter der Lage der Flüchtlinge im Land widersprechen dieser Feststellung. Außer den immer wieder brennenden Lagern auf den griechischen Inseln und der eher unzureichenden Unterbringung der Menschen in Lagern auf dem Festland gibt es zudem das Problem, dass unter Straftatverdacht stehende Flüchtlinge mangels alternativer Unterbringungsmöglichkeit in Kerkern auf Polizeiwachen, ohne jeglichen Zugang zu sanitären Anlagen, landen.

Abschreckende Wirkung der geschlossenen Grenzen?

Die absoluten Zahlen der Neuankömmlinge auf den griechischen Inseln sind im März 2016 nach Inkrafttreten des Paktes mit der Türkei tatsächlich zunächst stark zurückgegangen. Seit dem missglückten Putsch gegen Erdogan und seit der Weigerung der EU, den Türken wie vereinbart die Visafreiheit zu gewähren, kam es zu einem erneuten Anstieg.

Während die Zahlen der Neuankömmlinge im Jahr 2015 im Tausenderbereich lagen, waren sie vom März bis Juli auf täglich zweistellige Zahlen gesunken. Mittlerweite sind sie wieder dreistellig.

Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch auch die ethnische Zusammensetzung der ankommenden Gruppen. So kamen am Sonntag bei kalten Winterwetter und schwierigem Seegang insgesamt 124 Personen auf den griechischen Inseln an.

Davon stammten 54 aus dem Kongo, zwölf aus Kamerun, neun aus Eritrea, sieben aus Äthiopien, fünf aus Angola, vier aus Sierra Leone, jeweils drei aus Algerien, Ghana, Guinea und Mali, und jeweils eine Person aus Nigeria, Sudan, Elfenbeinküste, Gambia, Jamaika und der Türkei. Dem allgemein üblichen Flüchtlingsprofil von 2015 entsprachen dagegen nur dreizehn Personen, zehn Iraker, zwei Syrer und ein Afghane.

Es sieht somit nicht danach aus, als ob Griechenland als Durchgangsstation nach Europa seine Attraktivität verloren hat.

Bei den Asylverfahren, einem weiteren wichtigen Faktor für die Gültigkeit der Dublin II-Vereinbarung, hinkt Griechenland immer noch hinter den europäischen Standards zurück. Es gibt wohl kein markanteres Beispiel als den Fall der acht türkischen Hubschrauberflüchtlinge. Die Militärangehörigen waren direkt nach dem missglückten Putsch gegen den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan per Hubschrauber über die Grenze geflogen. Sie hatten die Flugaufzeichnung vernichtet und baten um Asyl.

Während auch in Deutschland den politischen Gegnern Erdogans angesichts dessen autokratischer Züge Asyl gewährt wird, wurde es den türkischen Militärs in Griechenland in erster Instanz verweigert. Erdogan betont bei jeder Gelegenheit, dass die Auslieferung der fahnenflüchtigen Militärs für die griechisch-türkischen Beziehungen von essentieller Bedeutung ist.

Ein Gericht verweigerte die Auslieferung für die ersten drei von ihnen. Die nächsten drei hatten bei einem weiteren Verfahren Pech, sie wurden zur Abschiebung verurteilt. Die letzten zwei hatten dagegen Glück, auch für sie entschied ein Richter, dass sie nicht abgeschoben werden dürfen.

In allen drei Verfahren wird es eine Revision geben. Das aus Gründen der nationalen Sicherheit im Expressverfahren geführte Procedere um das Asyl der Hubschrauberflüchtlinge geht somit an den Areopag, das höchste zuständige Gericht. Wie soll Griechenland dann erst mit der übrigen Anzahl der momentan ausstehenden knapp 63.000 Verfahren und denen, die dann aus der übrigen EU dazu kommen, fertig werden?

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siehe auch: Wiener Zeitung | 08.12.2016

EU will Flüchtlinge nach Griechenland zurückbringen

Die EU-Kommission empfiehlt die schrittweise Wiederaufnahme des Dublin-Verfahrens ab März 2017.

Flüchtlinge sollen einem Vorschlag der EU-Kommission zufolge ab Mitte März 2017 wieder nach Griechenland zurückgebracht werden, wenn sie dort erstmals den Boden der Europäischen Union betreten haben. Die Brüsseler Behörde empfahl am Donnerstag die schrittweise Wiederaufnahme dieses sogenannten Dublin-Verfahrens. Damit will sie mehr Menschen von der irregulären Einreise nach Europa abhalten.

Die Regel soll für Migranten gelten, die ab dem 15. März in Griechenland ankommen und sich von dort auf den Weg in andere EU-Staaten machen. Unbegleitete Minderjährige sollten vorerst nicht nach Griechenland zurückgebracht werden. Zudem müssten die dortigen Behörden gewährleisten, dass jeder Abgeschobene in angemessenen Aufnahmezentren untergebracht werde.

Dublin-Verfahren seit 2011 außer Kraft

Das Dublin-System war im Sommer 2015 unter dem Zustrom von Millionen Flüchtlingen zusammengebrochen, von denen die meisten über Griechenland Richtung Deutschland und Nordeuropa gereist sind. Die Regel, dass ein Migrant in jenes EU-Land zurückgebracht wird, das er zuerst betreten hat, ist im Falle Griechenlands allerdings schon seit 2011 ausgesetzt.

Damals hatten der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Gerichtshof der EU (EuGH) entschieden, dass das griechische Asylsystem vor allem bei der Unterbringung keinen internationalen Standards genügt und deshalb Flüchtlinge nicht mehr dorthin abgeschoben werden dürfen. Die EU-Kommission hat den griechischen Behörden aber nach eigenen Angaben mittlerweile mehr als eine Milliarde Euro bereitgestellt, um die Situation zu verbessern und die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen.

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siehe auch: Spiegel Online | 08.12.2016

Abschiebung von Asylbewerbern: Endstation Griechenland

Die EU will zurück in den Normalmodus: Bald sollen Asylbewerber wieder nach Griechenland abgeschoben werden. Dort wären sie gestrandet – denn die offizielle Umsiedlung funktioniert noch immer nicht.

von Markus Becker

Es wäre das Ende einer mehr als sechs Jahre währenden Ausnahmeregel: Von Frühjahr an sollen Flüchtlinge, die über Griechenland die Europäische Union erreicht haben, wieder dorthin zurückgeschickt werden können. So zumindest stellt es sich die EU-Kommission in Brüssel vor.

Damit würde die EU zum sogenannten Dublin-Verfahren zurückkehren. Danach müssen Asylbewerber von jenem Staat registriert und versorgt werden, in dem sie erstmals EU-Boden betreten haben. Weil Griechenland allerdings mit der enormen Zahl von Flüchtlingen überfordert war, hatten die anderen EU-Mitglieder Anfang 2011 beschlossen, bis auf Weiteres keine Asylbewerber mehr dorthin abzuschieben.

Ab dem 15. März 2017 soll laut Kommission Schluss sein mit der besonderen Rücksichtnahme. „Verletzliche“ und minderjährige Asylbewerber sollten von der Rücksendung jedoch weiter ausgenommen bleiben, sagte EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos. Auch soll die Regelung nicht rückwirkend gelten, sondern nur für jene Asylbewerber, die nach dem 15. März nach Griechenland kommen. Es handele sich zudem lediglich um einen Vorschlag, betonte Avramopoulos. Die endgültige Entscheidung liege bei den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten.

Die Situation in Griechenland habe sich seit 2011 stark verbessert und werde sich bis März voraussichtlich weiter entspannen, sagte der Kommissar zur Begründung des Vorschlags. Außerdem setzt man darauf, dass die Aussicht auf Rücksendung Asylbewerber davon abhält, auf eigene Faust in andere Staaten weiterzuziehen. Wichtig sei die Maßnahme zudem für die geplante Reform des Dublin-Systems und für die Rückkehr zu einem normalen Funktionieren des Schengen-Raums, innerhalb dessen Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen gilt.

Kommission stellt Verfahren gegen Italien und Griechenland ein

Zugleich kündigte Avramopoulos an, dass die Kommission die Vertragsverletzungsverfahren gegen Italien und Griechenland einstellen werde, die wegen der Versäumnisse bei der Registrierung von Asylbewerbern eingeleitet worden waren. Inzwischen würden die Fingerabdrücke von nahezu allen irregulären Migranten erfasst. Griechenland habe „bedeutende Fortschritte“ bei der Errichtung eines funktionierenden Einwanderungssystems gemacht.

Wovon Avramopoulos allerdings nicht sprach, ist die wachsende Unzufriedenheit der restlichen EU mit der griechischen Regierung. Die Versorgung der mehr als 10.000 Flüchtlinge und Migranten, die sich noch immer auf den griechischen Ägäis-Inseln aufhalten, ist miserabel – obwohl nach Angaben der Kommission seit Anfang 2015 rund 500 Millionen Euro an EU-Hilfs- und Unterstützungsgeldern geflossen sind. Auch die Rückführung von irregulären Migranten in die Türkei, die mit Ankara vereinbart ist, finde kaum statt. Bisher seien lediglich 748 Personen zurückgeführt worden.

Probleme gibt es nach wie vor aber nicht nur in Griechenland. Auch die restliche EU ist weit davon entfernt, sich in der Migrationspolitik zusammenzuraufen. Zwar feierte Avramopoulos den November als „Rekordmonat“: Noch nie seien so viele Flüchtlinge auf andere EU-Länder umverteilt worden. Die Zahl selbst aber ist ernüchternd: So wurden im November 1400 Menschen umgesiedelt, die Gesamtzahl steigt damit auf 8000 (hier geht es zu den offiziellen EU-Zahlen zu Umsiedlung).

Zur Erinnerung: Im Sommer 2015 hatten die Regierungen der EU-Staaten beschlossen, 40.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland umzuverteilen und danach weitere 120.000 umzusiedeln.

Osteuropäer stellen sich weiter quer

Doch eine wachsende Bereitschaft bisher skeptischer Staaten, mehr Migranten aufzunehmen, ist nicht erkennbar. Insbesondere Osteuropa stellt sich quer. Zuletzt hatten einige osteuropäische Länder eine „flexible Solidarität“ vorgeschlagen: Sie wollen zwar keine Asylbewerber aufnehmen, dafür aber andere Leistungen erbringen. Doch ernstzunehmende Angebote fehlen bisher, wie aus EU-Verhandlungskreisen zu erfahren ist.

Immerhin in einem Punkt gab es einen Fortschritt: Die EU-Staaten haben sich am Mittwoch nach monatelangem Verhandeln mit dem Europaparlament auf die sogenannte Visa-Notbremse geeinigt. Sie soll es ermöglichen, dass die Visafreiheit für bestimmte Länder ausgesetzt werden kann, wenn es zu einem starken Anstieg der illegalen Einwanderung kommt. Die Regelung soll für alle Länder gelten, zielt aber vor allem auf die Ukraine und Georgien. Schon kommende Woche könnte das Europaparlament die Visafreiheit für beide Länder beschließen.

Ob auch Türken demnächst ohne Visum in die EU einreisen dürfen, bleibt ungewiss. Die EU hatte Ankara dies im Rahmen des Flüchtlingspakts versprochen – unter der Voraussetzung, dass die Türkei eine Reihe von Kriterien erfüllt. In der Kritik stehen vor allem die Anti-Terror-Gesetze, die Ankara keinesfalls ändern will. Seit September habe es keine bedeutenden Fortschritte in den Verhandlungen gegeben, teilte die Kommission am Donnerstag mit.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte mehrfach damit gedroht, den Flüchtlingspakt aufzukündigen. Doch die Drohung verliert in der EU ihren Schrecken. Diplomaten und Politiker äußern immer öfter die Ansicht, dass Migranten ohnehin nicht mehr in großer Zahl nach Griechenland kommen würden. Inzwischen habe sich herumgesprochen, dass es von dort aus nicht weitergehe.

Dass die, die es dennoch schaffen, bald wieder nach Griechenland zurückgeschickt werden können, dient als weiteres Signal der Abschreckung.

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