02. Dezember 2016 · Kommentare deaktiviert für „Vergiftete Stimmung auf Chios“ · Kategorien: Griechenland, Türkei · Tags: ,

Quelle: NZZ | 02.12.2016

Über 4000 Migranten sitzen seit Monaten auf Chios fest und warten auf ihren Asylentscheid. Die Einheimischen sind mit der Situation überfordert. Frustration führt zu Gewalt.

von Markus Bernath, Chios

Zu den wenigen glücklichen Fügungen in seiner bisherigen Amtszeit zählt Manoulis Vournous den Umstand, dass er zum Bürgermeister von Chios gewählt worden war, bevor die Migrationswelle mit voller Wucht über seine Insel hereinbrach. «Mir macht die Vorstellung wirklich Angst, dass das Flüchtlingsthema beim nächsten Wahlkampf immer noch ganz oben steht. Die Menschen können nicht mehr klar denken», sagt Vournous. Den Grossteil seiner Energie verwendet er auf das Management der Migrantenkrise.

Die Insel vor der türkischen Küste war kürzlich Schauplatz gewalttätiger Ausschreitungen. Ein rechtsgerichteter Mob griff Mitte November ein Migrantenlager in der Altstadt des Zentralorts Chios an. Auch Helfer von internationalen Organisationen wurden verprügelt. Wenige Tage darauf schleuderten Angreifer, vermutlich dieselben, nachts Brandsätze gegen die Zelte. Ein syrischer Flüchtling wurde schwer verletzt. Trotz der recht überschaubaren Verhältnisse auf der griechischen Insel kann die Polizei noch keine Ermittlungsergebnisse vorweisen. 52 000 Einheimische und 4200 Flüchtlinge zählt Chios.

Die ganze Insel ein Gefängnis

Bürgermeister Vournous, ein schlanker 44-jähriger Mann, von Beruf Architekt, hadert mit der EU. Die Bewohner von Chios hätten das Gefühl, die ganze Insel sei in ein grosses Gefängnis umgewandelt, so klagt er. Denn die Internierung der Flüchtlinge in einem geschlossenen Lager erwies sich als nicht praktikabel und war rechtlich ohnehin fragwürdig. Längst ist der «Hotspot» auf Chios eine halboffene Anstalt geworden, in der die Insassen ein- und ausgehen. Nur die Insel dürfen sie nicht verlassen. «Die Entscheidungsträger in Europa wollen die Flüchtlinge einzäunen, geben es aber nicht zu», stellt der Bürgermeister fest. «Warum sagen wir nicht die Wahrheit?»

So ist Chios im Lauf der Monate zu einer Gefangeneninsel geworden, ebenso wie Lesbos, Samos, Kos und Leros. Seit das Abkommen zwischen der EU und der Türkei im vergangenen März in Kraft trat, sitzen die Flüchtlinge auf den Inseln der Ostägäis fest, manche bereits seit sieben Monaten. Aus der Völkerwanderung im vergangenen Jahr, als allein auf Chios 150 000 Migranten mit Schlauchbooten landeten und dann weiterzogen nach Athen und über den Balkan nach Mitteleuropa, ist ein lähmendes Drama geworden. Leerlauf und Frustration prägen den Alltag der Flüchtlinge. Immer wieder gibt es Revolten gegen die Beamten, die die Asylanträge bearbeiten, nahezu täglich Streit und Kämpfe unter den Flüchtlingen.

Schlägereien im überfüllten Lager

Eine Gruppe junger Libanesen berichtet davon. Sie sind zu Fuss unterwegs zum Hotspot, einer ehemaligen Fabrikhalle im Inneren der Insel, umgeben von Wohncontainern und bewehrt mit einem mehrere Meter hohen Stacheldrahtzaun, auch wenn das Eingangstor nun stets weit offensteht. Einer der Libanesen hat einen Interviewtermin für sein Asylverfahren. Rabiate Afghanen hätten sie aus dem überfüllten Lager vertrieben, so berichten die sechs jungen Männer. Für 400 Euro im Monat wohnen sie nun in einem Hotel in der Nähe des Flughafens von Chios.

Weiter nach Europa und Arbeit finden, ist ihr Plan. Weshalb sie überhaupt Libanon verlassen haben? Die Hizbullah-Miliz habe versucht, sie für den Krieg in Syrien zu rekrutieren, so gibt einer der Männer an. Ob das reicht für die Anerkennung als Asylbewerber, ist fraglich. Während das Ersparte schrumpft, warten die Libanesen auf eine Entscheidung der Asylrichter. Doch alles läuft langsam. Am Morgen sind die Computer im Hotspot wieder ausgefallen. Die Mitarbeiter der europäischen Asylbehörde vertreten sich deshalb vor der Fabrikhalle die Beine. Ein Bus der Bereitschaftspolizei ist neben dem Eingang parkiert, für den Fall, dass die Stimmung im Containerlager plötzlich umschlägt.

Die Türkei sei ein sicherer Drittstaat, so lautet die Arbeitsgrundlage, auf der das Flüchtlingsabkommen geschlossen wurde. Nur wer das Gegenteil glaubhaft machen kann, erhält Asyl. «Es ist unmöglich für mich, das zu beweisen», sagt Madjib Aboudan, ein Unternehmer, der mit seiner Frau und den beiden Töchtern aus Aleppo geflüchtet ist. Die Aboudans haben für die Dauer des Asylverfahrens eine befristete Aufenthaltsgenehmigung in Griechenland erhalten, Vater und Mutter arbeiten für private Organisationen auf Chios. Doch am Ende könnte die zwangsweise Rückführung zur türkischen Küste stehen.

Notstand ohne Ende

Bürgermeister Vournous will nicht über die geplanten Massenrückführungen sprechen. Ob und wann sie beginnen, steht ohnehin in den Sternen. Die Flüchtlingskrise habe die Gemeinschaft auf der Insel vergiftet, sagt er. «Man kann mit einem solchen Notstand vielleicht eine Woche leben, aber es sind nun fast zwei Jahre, und wir sehen kein Ende, keinen Weg, wie diese Krise gelöst würde.»

Die Drohung des türkischen Präsidenten ist nun noch dazugekommen. Er werde die Grenzen seines Landes öffnen und drei Millionen Flüchtlinge nach Europa schicken, sollte die EU mit ihrer Kritik an der Türkei fortfahren, so hat Recep Tayyip Erdogan angekündigt. Eine inakzeptable Drohung, sagt der Bürgermeister, man könne doch nicht Menschen derart instrumentalisieren.

Vournous ist ratlos. Einen neuen Ansturm von Flüchtlingen wollen die Griechen nicht hinnehmen, solange die Grenzen nach Europa geschlossen sind und die vereinbarte Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU kaum vorankommt.

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