04. September 2016 · Kommentare deaktiviert für „Überrollt“ · Kategorien: Balkanroute, Deutschland, Österreich, Ungarn · Tags:

Quelle: FAZ

In der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 traf Angela Merkel eine historische Entscheidung, die Deutschland vielleicht auf Jahrzehnte verändert hat. Wie kam es dazu? Eine Rekonstruktion.

Von ECKART LOHSE UND STEPHAN LÖWENSTEIN

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© Reuters Der lange Marsch: Am 4. September machen sich die ersten Flüchtlinge von Budapest aus auf und marschieren auf der Autobahn in Richtung Österreich.

Wer ein Ereignis sucht, einen Ort, einen Tag, ja eine Uhrzeit, um zu benennen, wann sich in der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel das Davor und das Danach ganz nahe sind, der muss wohl ihren Auftritt am 4. September 2015 um 18.30 Uhr in Köln wählen. Da betritt die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende an der Seite der parteilosen Kandidatin für die Oberbürgermeisterwahl in Köln, Henriette Reker, die „Flora“, ein Gebäude im Botanischen Garten der Stadt, das als „traditionsreicher Prachtbau“ beworben wird. Da klatschen die Mitglieder der gastgebenden CDU ihr zu, da erinnern sich alte Parteimitglieder an Adenauer, da sagt einer, die CDU sei immer noch die Partei, in der er sich am besten zurechtfinde. Und Merkel scherzt über die fehlerhaften Stimmzettel, die vor der Bürgermeisterwahl gedruckt wurden und die Stadt großem Gespött aussetzten.

Da hat der österreichische Bundeskanzler noch nicht bei Merkel angerufen, um dringend mit ihr über die Flüchtlingsströme aus Ungarn zu sprechen, und da hat der ungarische Botschafter in Berlin noch nicht an Kanzleramtschef Peter Altmaier gemailt, dass sein Land die Registrierung der vielen Flüchtlinge nicht mehr gewährleisten könne. Ungarn schicke sie jetzt mit Bussen Richtung Österreich und Deutschland. Das wird erst kurz nach dem Besuch in Köln sein, zu Beginn einer Nacht, die als der Moment in die Geschichte eingehen wird, an dem die Bundeskanzlerin Angela Merkel die Flüchtlinge dieser Erde nach Deutschland holte.

Doch wie immer ist es schwierig mit den einfachen Wahrheiten. Denn Merkel flachst in der „Flora“ nicht nur über falsche Stimmzettel. Die Flüchtlingskrise ist längst ihr großes Thema. Sie spricht in Köln einen kritischen Satz über Ungarns Verhalten. Dieser Satz sagt viel über die Motive einer Frau, die sich selbst als ein „Kind der deutschen Einheit“ bezeichnet und die vor einem guten Vierteljahrhundert von geöffneten ungarischen Zäunen für ihr ganzes weiteres Leben profitiert hat. „Es ist schwierig zu sehen, dass diejenigen, die uns vor 25 Jahren die Grenze aufgemacht haben, heute zum Teil sehr hart sind zu denen, die zu uns kommen wollen und erkennbar Hilfe brauchen“, sagt die Kanzlerin in der „Flora“.

Die Nacht vom 4. auf den 5. September vorigen Jahres ist nicht der Wendepunkt, an dem aus völlig geordneten Fluchtbewegungen das Chaos wird. Eher liegt die Bedeutung dieser Tage darin, dass sie einen Kulminationspunkt darstellen. Schon seit langem hat man in Berlin erkannt, dass das System zur Verteilung der Flüchtlingsströme in Europa, die Dublin-Verordnung der Europäischen Union, nicht funktioniert. Nun aber erkennt Angela Merkel dieses Systemversagen faktisch an und erklärt sich im Namen Deutschlands bereit, die Konsequenzen zu tragen. Das Ziel ist es, Flüchtlingsströme, die da sind, zu ordnen, wenn man sie denn schon nicht aufhalten kann. Schon seit Monaten führt der Hauptstrom der Menschen, die nach Deutschland wollen, über Ungarn und Österreich. 800.000 Asylsuchende würden es im Jahr 2015 insgesamt werden, kündigt der deutsche Innenminister Thomas de Maizière am 19. August an. Zwölf Tage später spricht Merkel ihr „Wir schaffen das.“

Wien, Juni 2015: Zoltán Kovács hat internationale Berichterstatter in die ungarische Botschaft gebeten. Der Regierungssprecher von Ministerpräsident Viktor Orbán hat etwas mitzuteilen, das nicht nur im Nachbarland auf Aufmerksamkeit stößt. Mehrmals geht er mit bedeutsamem Blick auf sein Smartphone aus dem Raum, offensichtlich um mit dem Chef irgendwelche wichtigen Einzelheiten zu besprechen. Kovács spricht von den vielen Asylbewerbern, die in Ungarn registriert werden. Schon jetzt seien es 60.000 – in einem halben Jahr schon ein Zigfaches der Vorjahre und umgerechnet auf die Größe der Bevölkerung bei weitem die meisten in der EU.

Die Sache ist nur: Von diesen vielen bleibt fast keiner in Ungarn. Sie reisen weiter, vor allem nach Deutschland, Schweden, auch Österreich. Jetzt haben aber die Deutschen und die Österreicher angekündigt, einige von ihnen nach Ungarn zurückzuschieben. So sieht es das Dublin-Abkommen vor; von insgesamt 15.000 ist die Rede. Und das hat den Regierungsvertreter in Wien auf den Plan gerufen. Die ungarischen Kapazitäten – in den Lagern hätten rund 3.000 Personen Platz – seien erschöpft, „das Boot ist voll“, Ungarn werde niemanden zurücknehmen und deshalb das Dublin-Verfahren vorläufig suspendieren.

Das Verfahren schreibt vor, dass ein Asylsuchender in dem Land einen Antrag stellen muss, in dem er die Europäische Union zum ersten Mal betritt und – falls er auf eigene Faust weiterzieht – in dieses Land zurückgeschickt werden kann. Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass praktisch alle Migranten, die in Ungarn erstmals registriert werden, woanders erstmals die EU betreten haben müssen – in Griechenland. Aber dort wurden eben kaum welche registriert, anders als in Ungarn, worauf hinzuweisen man in Budapest niemals vergisst. Auch in Ungarn werden sie nach der Registrierung aber nicht festgehalten – das EU-Recht schreibt das ausdrücklich vor –, so dass sie, einmal im Schengen-Raum, weitgehend ungehindert weiterreisen können. Später wird die deutsche Kanzlerin immer wieder sagen, die Grenzen hätten an jenem Wochenende gar nicht geöffnet werden müssen, denn sie seien ja offen im Schengenraum. Diese Bewegungsfreiheit in Europa zu erhalten ist ein wesentliches Motiv von Merkels Verhalten in der Flüchtlingsfrage. Ihre Sorge: Wenn kleine Länder ihre Grenzen schließen, ist das schlimm genug. Wenn es Deutschland täte, würde sich der Schengenraum davon nicht so schnell erholen.

In Berlin und Wien ruft das Verhalten der Regierung in Budapest helle Empörung hervor. Botschafter werden einbestellt, Protest wird kundgetan. Dann verläuft sich die Affäre wieder im Sande. Budapest versichert, beim Dublin-Verfahren zu bleiben. Und Deutschland und Österreich verzichten, möglichst still und unauffällig, auf die Rückschiebungen. Es geht erst mal so weiter wie bisher, und der Menschenstrom über die Balkanroute schwillt immer weiter an.

Im August beschließt man im Bundesinnenministerium in Berlin, was längst Faktum ist: Syrer werden nicht mehr unter Hinweis auf die Dublin-Verordnung nach Ungarn zurückgeschickt. Die Syrer haben ohnehin eine sehr gute Bleibeperspektive in Deutschland. Durch den Verzicht auf die Anwendung des Dublin-Verfahrens sollen aufwendige Prüfungen wegfallen, die das ohnehin längst überlastete Asylsystem nur weiter verstopfen. Die Sache spricht sich unter den syrischen Flüchtlingen, die es bis nach Ungarn geschafft haben, herum, obwohl das Bundesinnenministerium sie nicht öffentlich breit getreten hat. Das erledigt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das Bamf. Am 25. August verschickt die dem Innenministerium nachgeordnete Nürnberger Behörde eine folgenreiche Twittermeldung: „Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt vom Bamf weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt.“

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Spätestens jetzt fühlen sich viele Flüchtlinge, von denen ohnehin die meisten nach Deutschland wollen, durch das Verhalten Deutschlands geradezu eingeladen. Der Strom auf der Balkanroute schwillt noch einmal an. Neu ist: Alle werden Syrer. Und in Ungarn stellen die mit der Situation sowieso schon reichlich überforderten Behörden fest, dass die Migranten sich schlagartig weigern zu kooperieren. Sie wollen sich nicht registrieren lassen. Sie wehren sich mit Händen und Füßen gegen einen Transport in Aufnahmelager. Sie skandieren „Germany, Germany!“ oder auch den Namen der Bundeskanzlerin. Polizisten strecken sie Smartphones entgegen, auf denen der Tweet des Bamf zu lesen ist.

An der Grenze zu Serbien und Ungarn ist da schon ein Zaun in den Boden gestampft worden, um die Kontrolle wiederzugewinnen. Aber nahe dem Übergang Röszke ist immer noch eine Lücke. Buchstäblich in Torschlusspanik hasten immer mehr Menschen auf der immer professioneller organisierten Balkanroute nach Norden. Einmal in Ungarn angekommen, machen sie sich auf eigene Faust auf den Weg, mit dem Zug aus dem verschlafenen Städtchen Szeged oder notfalls zu Fuß von Röszke nach Budapest. Und weil in den Zügen gen Westen zunehmend die Ausweise kontrolliert werden, stranden sie dort zu Hunderten und bald Tausenden an den Bahnstationen, besonders am Bahnhof Keleti.

Im Tiefgeschoss des Bahnhofs von Keleti kauern entlang der Wände abgerissene Gestalten mit wunden Füßen, auf den großzügigen Flächen liegen Deckenlager, hier und da steht sogar ein Zelt. Kinder toben mit einem zum Rennwagen umfunktionierten Baby-Klappbett, Jugendliche kicken einen Fußball durch eine Lücke zwischen den lagernden Menschen. Es gibt ein paar Toiletten und Wasserhähne, aber bei so vielen Menschen ist es unvermeidlich, dass sich ein strenger Geruch breitmacht. Freiwillige Helfer teilen Kleider oder Lebensmittel aus, die gespendet wurden – die Regierung steht auf dem Standpunkt, wer sich nicht in die vorgesehenen Camps bringen lasse, sei selbst schuld; keinesfalls werde man Migranten die Hilfsmittel dorthin nachtragen, wo sie sich eigenmächtig breitzumachen beliebten. Oben die Bahnhofshalle ist voller Polizei, auf die Bahnsteige wird nur gelassen, wer einen gültigen Pass vorweisen kann.

Ungarn ist zum Hotspot internationaler Berichterstattung geworden, Reporter tummeln sich am Keleti. Wer von ihnen mit einem der freundlichen, aber erschöpften Helfer sprechen möchte, muss sich anstellen. Fast einhellig ist die Kritik an der Regierung, die Flüchtlinge möglichst draußen lassen wolle und diejenigen, die im Land sind, so hartherzig behandle. Etwas hat den öffentlichen Druck enorm verstärkt, Flüchtlinge ungehindert in das Land ihrer Wahl durchreisen zu lassen. Ein schreckliches Ereignis. Auf der Ostautobahn bei Parndorf in Österreich, kurz hinter der ungarischen Grenze, wurde ein Transporter aufgefunden – im Laderaum 71 erstickte Flüchtlinge. Skrupellose Schlepper hatten sie in den Kastenwagen gepfercht.

Angela Merkel erfährt davon in Wien. Auf einer Konferenz über die Zukunft der Westbalkanstaaten geht ihr österreichischer Amtskollege Werner Faymann auf die Bundeskanzlerin zu und sagt ihr etwas ins Ohr. Erschütterung und Betroffenheit spiegelt sich später in den Gesichtern der Staats- und Regierungschefs auf der Bühne in Wien. Eine ähnliche Wirkung wird Anfang September ein Bild erzeugen, das um die Welt geht: Der Leichnam eines kleinen Jungen, der auf der Überfahrt nach Griechenland getötet und an den türkischen Strand gespült wurde.

Am 31. August, einem Montag, an dem Angela Merkel in Berlin „Wir schaffen das“ sagt, ist die Situation in Budapest so angespannt, dass man beschließt, die Dämme brechen zu lassen. Auf politischer Ebene gibt es dazu keinerlei Kommunikation, weder in Berlin, noch in Wien können sich heute, ein Jahr später, Beteiligte an dergleichen erinnern. Das ist bemerkenswert angesichts dessen, was fünf Tage später vor sich gehen wird. Regierungssprecher Kovács sagt, die örtliche Führung der Polizei habe an jenem Montag entschieden, die Gleise am Keleti freizugeben; die Informationen seien auf Arbeitsebene, wie üblich, auch ins Nachbarland Österreich weitergegeben worden. Jedenfalls kommt es zu einem regelrechten Wettlauf zu den Zügen in Richtung Westen. Flüchtlinge quetschen sich hinein, bis nicht einmal mehr die Türen zugehen. Einige Züge fahren durch. Andere werden durch die österreichische Bahngesellschaft ÖBB aus Sicherheitsgründen zurückgewiesen, so dass die Züge vor der Grenze stehenbleiben, bis so viele Personen ausgestiegen sind, dass wenigstens die Feuerlöscher und Notbremsen wieder erreichbar sind. 3.600 Personen kommen binnen eines Tages so nach Wien. Am dortigen Hauptbahnhof strömen Helfer zusammen, ein Raum mit gespendeten Hilfsgütern ist bald voll. Die ankommenden Migranten werden mit „Willkommen“-Schildern begrüßt. Im Nachhinein wirkt es wie eine Übung für das, was später noch kommen wird.

Im Internet kursiert sogar das Gerücht, Deutschland habe einen Sonderzug gechartert, um die Flüchtlinge aus Ungarn herauszubringen. Schon lobt die Diakonie Österreich: „Leben retten jetzt – Deutschland macht’s vor.“ Das ist etwas voreilig. In Berlin dementiert Regierungssprecher Steffen Seibert und gemahnt Ungarn an seine Verpflichtung, Asylbewerber zu registrieren. Auch die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner erklärt, die Dublin-Verordnung sei keineswegs außer Kraft gesetzt. Bundeskanzlerin Merkel spricht von einem „Missverständnis“, dass Flüchtlinge jetzt ungehindert von Ungarn oder Österreich nach Deutschland fahren könnten.

Tatsächlich hat am Dienstag früh das Treiben vorerst ein Ende. In Budapest räumt die Polizei den Keleti. Vor der schönen, wenn auch bröckeligen Jugendstilfassade kommt eine Menge vorwiegend junger Männer zusammen. Sie skandieren, eingepeitscht von einem Mann mit Megaphon, Parolen wie „Almania“ oder „Syria“ und schlagen leere Plastikflaschen aneinander. Vor dem Bahnhof steht die Polizei in dichter Kette, die Helme am Koppel.

Die Bahn-Flüchtlinge – nur 90 der Tausenden haben in Österreich Asyl beantragt – setzen ihren Weg nach Westen fort. An den Wiener Bahnhöfen weist eigens abgestelltes Personal mit entsprechenden Sprachkenntnissen den Leuten den Weg zu den richtigen Zügen in Richtung Deutschland. Zurückgewiesen wird niemand. Wer von den Flüchtlingen nicht gleich bis München durchfahren kann, wird in Rosenheim von der Bundespolizei in Empfang genommen.

Am Mittwoch, dem 2. September, kommt dann die nächste Wendung. Im Keleti, wo sich wieder Hunderte Migranten gesammelt haben, macht die Polizei den Zugang zu einem Bahnsteig frei. Dort steht ein Zug nach Sopron, das liegt direkt an der österreichischen Grenze. Es kommt zu Tumulten, bis der Zug wieder gesteckt voll ist. Er fährt tatsächlich Richtung Westen, doch er hält auf halber Strecke in Bicske. In Bicske aber ist ein ungarisches Aufnahmelager. Schon stehen Busse bereit, die Überrumpelten dorthin zu bringen. Etwa hundert Leute weigern sich, den Zug zu verlassen und treten in eine Art Hungerstreik. Der Vorfall wird später den österreichischen Bundeskanzler zu einem maßlosen Nazi-Vergleich verleiten. So etwas erinnere ihn an die „dunkelsten Zeiten unseres Kontinents“, wird er dem „Spiegel“ sagen und damit sein Verhältnis zu Orbán endgültig zerrütten.

Die Regierung in Budapest, genervt von „gemischten Botschaften“, verlangt nicht zum ersten Mal Klarheit von Berlin. Deutschland habe die Flüchtlinge „an den gedeckten Tisch gerufen“, gleichzeitig erwarte es von Ungarn, seinen Dublin-Verpflichtungen nachzukommen, sagt Kanzleramtschef János Lázár, Orbáns rechte Hand. Solle sich doch der deutsche Botschafter an den Bahnhof Keleti begeben und den Flüchtlingen selbst sagen, dass sie in die ungarischen Registrierungszentren gehen sollten – oder dass sie nach Deutschland kommen dürften. Dann werde Ungarn gerne den Transport organisieren.

So kommt der Freitag, der 4. September 2015. Unter den Migranten am Bahnhof macht sich Ungeduld breit. Aus Österreich brechen vier Aktivisten mit Autos auf, um Flüchtlinge „herauszuholen“. In dieser Stimmung beschließt eine Gruppe Männer vom Keleti – in Budapest heißt es von Regierungsseite dunkel, alles sei „organisiert“ gewesen –, sich zu Fuß über die Autobahn auf den Weg nach Wien zu machen. Ein Trupp von ein paar hundert Menschen setzt sich in Bewegung. In sozialen Netzwerken ist rasch vom #marchofhope die Rede. Andere schließen sich an – der Bahnhof Budaörs liegt auf dem Weg. Bald zieht sich die Kolonne kilometerlang auf der Autobahn M1 nach Westen, junge Männer voran, Alte und Familien immer mühseliger hinterher. Polizisten, die sich in den Weg stellen, werden glatt beiseitegeschoben. Am späten Nachmittag ist die Spitze rund dreißig Kilometer weit gekommen.

Am Vormittag dieses 4. September sitzt Regierungssprecher Steffen Seibert wie so oft am Freitag ab 11.30 Uhr im Saal der Bundespressekonferenz und erklärt die Politik von Angela Merkel. Topthema sind wieder mal die Flüchtlinge. Seibert erläutert, dass die vom Bamf per Twitter verbreitete Entscheidung, Deutschland schicke syrische Flüchtlinge „derzeit“ nicht nach Ungarn zurück, in Übereinstimmung mit der Dublin-III-Verordnung stehe. Man nutze das in deren Artikel 17 enthaltene Selbsteintrittsrecht. Dieses erlaubt es einem Staat, Asylverfahren auch für Personen durchzuführen, wenn diese nicht an seinen Grenzen zum ersten Mal den Boden der Europäischen Union betreten haben. Seibert sagt aber auch, das ändere „nichts an der rechtlich verbindlichen Pflicht Ungarns, dort ankommende Flüchtlinge ordnungsgemäß zu registrieren, zu versorgen und die Asylverfahren unter Beachtung der europäischen Standards in Ungarn selbst durchzuführen“.

Noch heute erinnern sie sich in Berlin daran, wie sie damals die Bilder sahen von den ungarischen Lagern, in denen Bananen in so unzureichender Zahl verteilt wurden, dass die Flüchtlinge sich um sie streiten mussten. Unwürdige Szenen. Man hat an der Spree in den ersten Tagen des Septembers 2015 kein gutes Gefühl, was den Umgang der Ungarn mit den Flüchtlingen angeht. 30.000 von ihnen, so zählt man in Berlin, halten sich in den Lagern in dem kleinen Land östlich von Österreich auf, die nächsten 3.000 sind schon unterwegs. Am Freitagfrüh telefoniert der Chef des Bundeskanzleramtes, Peter Altmaier, mit dem ungarischen Botschafter in Berlin, József Czukor. Die Bundesregierung versucht, auf Budapest einzuwirken.

Die Verantwortlichen in Berlin wissen genau, dass die rechtlichen und praktischen Möglichkeiten, Asylbewerber, die nach Deutschland durchgekommen sind, aber in Ungarn registriert wurden, dorthin zurückzuschicken, gering sind. Die meisten, die über die Balkanroute kommen, haben in Griechenland den Boden der EU betreten. Dorthin müssten sie eigentlich gebracht werden. Das hat aber das Bundesverfassungsgericht verboten, weil die Zustände in Griechenland das nicht zulassen. Es gibt daher nur vergleichsweise wenige Versuche Deutschlands, den Ungarn Flüchtlinge unter Hinweis auf die Dublin-Verordnung zurückzuschicken. Etwas mehr als 4.300 entsprechende Anträge stellte Deutschland im dritten Quartal 2015. In 2.570 Fällen stimmten die Ungarn zu. Nur 40 Asylsuchende wurden den Ungarn von den Deutschen wieder übergeben. Das ist die Wirklichkeit am Vormittag des 4. Septembers.

Der Freitag verläuft für die Verantwortlichen der Bundesregierung zunächst wie geplant. Für einen Minister aber ganz und gar nicht. Bundesinnenminister de Maizière liegt mit hohem Fieber im Bett, kann äußerstenfalls telefonieren. Außenminister Frank-Walter Steinmeier fliegt nach Luxemburg zum zweimal jährlich stattfindenden „Gymnich-Treffen“ mit den Ressortchefs der anderen EU-Staaten. Ungeachtet der Bewegungen auf der Balkanroute und in Ungarn bleiben die Minister zunächst bei ihrer Tagesordnung und wollen erst am Samstagsvormittag über die Flüchtlingskrise reden.

Angela Merkel macht sich am Nachmittag auf den Weg nach Essen. Dort unterstützt sie den CDU-Kandidaten für die Oberbürgermeisterwahl, Thomas Kufen. Ein lohnender Einsatz der CDU-Vorsitzenden, Kufen gewinnt die Wahl. Am frühen Abend geht es weiter nach Köln in die „Flora“. Der SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel ist am Freitagabend zuhause in Goslar, der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer in seinem Ferienhaus nahe Ingolstadt, der Chef des Bundeskanzleramtes Peter Altmaier am Genfer See.

Spätestens bei ihrem Besuch in der „Flora“ wird der Kanzlerin klar, wie groß die politische Dynamik inzwischen ist, die die Flüchtlingsbewegung in Budapest und Wien erzeugt hat. Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann will Merkel dringend sprechen. Faymann wiederum hat ein dringendes Gesprächsersuchen aus Budapest. Was Orbán von ihm will, kann er erraten: wissen, was er mit den auf der Autobahn Marschierenden machen soll. Faymann will diese Entscheidung aber nicht treffen, ja nicht einmal mit Orbán sprechen, ehe er sich mit Merkel darüber abgestimmt hat. Die aber, so bekommt Faymann erst einmal zu hören, sei gerade auf der Bühne und halte eine Rede. Doch anschließend ruft Merkel bei Faymann an. Der schildert, wie dramatisch die Lage ist. Die beiden sind sich schnell einig, dass man die Flüchtlinge durchlassen soll.

Gegen 21 Uhr verschickt Ungarns Botschafter in Berlin, Czukor, eine E-Mail an Altmaier und die für Flüchtlingsfragen zuständige Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, Emily Haber. Er teilt mit, dass die Regierung in Budapest beschlossen habe, die Flüchtlinge in 104 Bussen an die ungarisch-österreichische Grenze zu transportieren. Denn es wäre schier unmöglich, ohne massive Polizeigewalt die Migranten aufzuhalten. Es seien zwischen 4.000 und 6.000 „sogenannte Flüchtlinge“ unterwegs.

Merkel telefoniert und bespricht mit ihren Leuten neben der politischen die Rechtslage. Das Selbsteintrittsrecht der Dublin-Verordnung gibt ihr rechtlich freie Hand. Zwar sagt das bis heute niemand öffentlich: Merkel und ihre Mitstreiter werden in jenen Stunden aber auch die Möglichkeit durchgespielt haben, die Grenze zu schließen. Nicht weil es eine bevorzugte oder ihnen auch nur möglich erscheinende Lösung gewesen wäre, sondern einfach deshalb, weil in solchen Lagen alle Optionen bedacht sein wollen. Erst viel später, im Oktober, entstehen in den Tiefen des Bundesinnenministeriums dann auf vier Din-A-4-Seiten Überlegungen zur „Zurückweisung von Schutzsuchenden an deutschen Grenzen“. Die Fachleute kommen zu der Auffassung, dass das rechtlich möglich sei, es sich jedoch um eine politische Entscheidung handele. Das Papier wird niemals offizielle Linie des Hauses von Thomas de Maizière.

Merkel und Faymann geben ihren in Luxemburg tagenden Außenministern Frank-Walter Steinmeier und Sebastian Kurz den Auftrag, eine Erklärung zu formulieren, in der steht, dass man sich einig sei, die Flüchtlinge aus Ungarn aufgrund der Notlage an der ungarischen Grenze weiterreisen zu lassen. Die beiden ziehen sich in ein Hotelzimmer zurück. Kurz, der sich erst wenige Tage zuvor mit einem Fernsehauftritt im ORF innenpolitisch Kritik eingefangen hatte, weil er robusteren Grenzschutz forderte, ist wenig begeistert von der neuen Wendung. Er möchte mit möglichst vielen Adjektiven in der Erklärung die Einmaligkeit der Aktion verankert wissen. Der Text, an dem die beiden feilen, wird nie veröffentlicht. Dafür platzt immer wieder der ungarische Außenminister Péter Szijártó herein und dringt darauf, das Kurz auf Faymann einwirken möge, dass er endlich den Hörer für Orbán abnehme.

Dass die ungarische Regierung die Flüchtlinge in Bussen an die Grenze transportieren will, ist da längst schon bekanntgeworden. Faymann teilt mit, dass er am nächsten Morgen um neun Uhr mit Orbán telefonieren wolle. Daraufhin erzählt Lázár in Budapest der amtlichen Nachrichtenagentur MTI, dass Orbán seit Stunden vergeblich bei Faymann anzurufen versuche. In österreichischen Netzwerken bricht ein Shitstorm über Faymann herein. Gegen Mitternacht kommen die beiden Königskinder endlich zusammen. Danach teilt Faymann die mit Merkel abgestimmte Sprachregelung öffentlich mit: Die Flüchtlinge könnten aufgrund „der heutigen Notlage an der ungarischen Grenze“ kommen. Man erwarte aber im übrigen, dass Ungarn seinen Verpflichtungen – einschließlich „Dublin“ – nachkomme. Auch kommt ein Wink mit dem Zaunpfahl vor, dass man angesichts der eigenen Vorleistung erwarte, dass sich Ungarn an der Flüchtlingsverteilung in der EU beteilige. Auf dem Ohr bleibt Orbán aber taub.

Merkel informiert am Abend die Vorsitzenden ihrer beiden Koalitionspartner. Oder besser: Sie versucht es. Im Falle von SPD-Chef Sigmar Gabriel gelingt es ihr. Er stimmt Merkels Vorgehen zu. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer reagiert erst am nächsten Morgen auf eine SMS der Kanzlerin, weil er angeblich das Handy abends im Urlaub abzuschalten pflege. Später wird er behaupten, wenn man ihn unbedingt hätte erreichen wollen, hätte man ja ein Polizeistreife bei seinem Ferienhaus vorbeischicken können. Er sieht Merkels Entscheidung kritisch. Aber das ist nicht neu. Schon im Juli hat er den Flüchtlingszustrom als „riesiges Problem“ bezeichnet. Vermutlich hätte Merkel sich von ihm ohnehin nicht von ihrer Entscheidung abbringen lassen.

Noch in der Nacht um vier Uhr spricht Angela Merkel ein weiteres Mal mit Faymann. Mit Viktor Orban telefoniert sie das erste Mal am Samstagabend. Gleich darauf verbreitet die Bundesregierung eine Pressemitteilung. In den Telefonaten und in den Mitteilungen wird immer wieder bekräftigt: Es handelt sich um eine Ausnahme.

Doch das sind Zwischentöne, die von der Wirklichkeit längst überrollt sind. In der Nacht zum 5. September kommen die ersten Flüchtlinge aus Ungarn in Wien an. Bald sind es Tausende. Eine Welle der Solidarität geht durch Österreich und dann – mit den Migranten, die fast alle weiterreisen – über Deutschland. Freiwillige finden sich an den Bahnhöfen ein und applaudieren den Menschen, die gar nicht recht zu begreifen scheinen, wie ihnen geschieht. Nahrung und Wasser werden verteilt, „Willkommen“-Fahnen geschwenkt. Schon am ersten Wochenende kommen Tausende Menschen in Deutschland an. Medien und Organisationen feiern die Regierungen für ihre großherzige Tat. Die Regierungen feiern sich ebenfalls. „Balken auf für die Mitmenschlichkeit“, lässt Faymann sich einfallen.

Erst am 21. Oktober 2015 ist dann Schluss mit der Ausnahme. Auf dem Papier. Auch für syrische Asylsuchende gilt wieder das Dublin-Verfahren, sie können also in den EU-Staat zurückgeschickt werden, den sie zuerst betreten haben auf ihrer Flucht. Soweit die Theorie. Bis zum Jahresende kommen mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland. Auf Grundlage der Dublin-Verordnung werden knapp 3.600 in andere EU-Staaten zurückgeschickt. 192 von ihnen nach Ungarn.

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