31. August 2016 · Kommentare deaktiviert für Migrationsforscher: „Menschen, die im Mittelmeer sterben, sehen wir nicht“ · Kategorien: Europa, Hintergrund, Mittelmeerroute · Tags:

Quelle: DW

Mehr als 3000 Menschen sind dieses Jahr schon im Mittelmeer ertrunken. Migrationsforscher Serhat Karakayali sagt im DW-Interview, warum Europa das hinnimmt, wie man Not lindern und zugleich viel Geld sparen kann.

DW: Die EU-Grenzschutzagentur Frontex warnt, bei insgesamt sinkenden Flüchtlingszahlen würden mehr Menschen versuchen, über das zentrale Mittelmeer – vor allem aus Libyen – nach Europa zu gelangen. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) zählt immer mehr Tote. Was passiert gerade im zentralen Mittelmeer?

Karakayali: Die Menschen suchen den Weg über das Mittelmeer, weil ungefährlichere Routen blockiert sind. Sie nehmen gefährlichere Wege, da hier der Grenzschutz der EU nicht lückenlos funktioniert. Es gibt eigentlich keine rechtliche Grundlage, die Menschen auf hoher See zurückzudrängen.
Es gibt aber den Verdacht, dass die von Frontex koordinierten Einsätze gegen die Schmuggler in Wirklichkeit dazu dienen, die Boote mit Flüchtlingen an die nordafrikanischen Küsten zurückzudrängen.

Sie sprechen von einem Verdacht, Frontex spricht von der Beteiligung an Rettungsaktionen…

Das ist auch das Einzige, was legalerweise gemacht werden kann. Wir wissen aber von Migrationsforschern, die Feldforschung machen, dass das eine auf dem Papier steht und das andere in der Praxis passiert.

Allein am Montag wurden auf der zentralen Mittelmeerroute 6500 Menschen zwischen Libyen und Italien aus dem Mittelmeer gerettet, am Dienstag weitere 3000. Die IOM zählt immer mehr Tote: Jeder 85. Migrant habe die Überfahrt 2016 nicht überlebt. 2015 sei das „nur“ jeder 276. gewesen. Warum wird die Route immer gefährlicher?

Der Anstieg kann damit zusammenhängen, dass wir eine dichtere Beobachtung haben, auch durch mehr Frontex-Schiffe. Die andere Erklärung ist, dass die Schiffe noch mehr beladen und noch schlechtere Boote eingesetzt werden, weil die Schmuggler einen größeren Profit kassieren wollen.

Viele Migranten erleben Hunger, Durst, Gewalt und den Tod von Mitreisenden. Selbst wenn sie durchkommen, haben gerade viele Afrikaner keine Chance, als Flüchtling anerkannt zu werden. Wir hören oft, wie gut vernetzt Flüchtlinge sind. Warum schrecken die schlimmen Erfahrungen und schlechten Perspektiven nicht ab?

Solange die Migranten nicht in ihre Heimat zurückkommen, erzählen sie allen, zu denen sie Kontakt haben, eine Erfolgsstory. Weil man so viel Geld und Zeit investiert hat, kann man ein Scheitern schwer zugeben.

Für uns ist das eine katastrophale Geschichte, aber die Tatsache, dass viele entweder untertauchen oder mit prekären Aufenthaltstiteln in Europa bleiben können, ist für sie ein Erfolg. Es ist immer noch besser, als unter bürgerkriegsähnlichen Bedingungen und der extremen Armut in vielen Herkunftsländern zu leben.

Italien versucht mit einer Kampagne, Menschen in Afrika von der Flucht abzuhalten, macht das Sinn oder eher ein noch stärkerer Kampf gegen Schleuser?

Im weltweiten Maßstab ist die Zahl der Flüchtlinge, die versuchen, nach Europa zu kommen, zu vernachlässigen. Dass Deutschland etwa eine Million Flüchtlinge aufgenommen hat, ist dem Umstand geschuldet, dass die anderen EU-Staaten das nicht gemacht haben. Wir haben in Europa über 500 Millionen Menschen, das wäre leicht zu verkraften gewesen, zumal die europäische Gesellschaft auf Bevölkerungszuwachs durch Zuwanderung angewiesen ist.

Man sollte Migranten nicht dazu zwingen, sich in die Flüchtlingskategorie zu begeben, sondern legale Einreisemöglichkeiten schaffen, die erreichbar sind. Wir müssen zugeben, dass wir ein Einwanderungskontinent sind. Dann ersparen wir den Menschen die Not und die Milliarden, die wir ausgeben für die Flüchtlingsabwehr: die Technologie, das ganze Personal. Die Schlepper erwirtschaften ungefähr genauso viel. Diese Summen könnte man in ein Programm stecken, mit dem wir Migranten aufnehmen, sie in den Arbeitsmarkt integrieren.

Statt Schlepperbooten hinterherzuschippern, müsste man so etwas wie Fähren einrichten. Aber das kann man erst machen, wenn es eine europäische Einigung gibt. Deutschland kann das alleine nicht stemmen. Deswegen gab es den Türkei-Deal, das war die Notlösung, nachdem alle anderen europäischen Staaten nicht mitgezogen sind.

Schlepper bekämpfen ist aussichtslos. Prohibition, also Verbote und Kriminalisierung, haben bei Dingen, für die es einen hohen Bedarf gibt, in der Geschichte nie gewirkt.

Legale Wege fordern viele, auch Frontex-Chef Fabrice Leggeri. Doch das ist unrealistisch, solange die Bereitschaft in Europa so gering ist, Migranten aufzunehmen, oder?

Sie ist nicht nur in Osteuropa bedenklich schlecht, sondern in Großbritannien auch nicht anders. Der Brexit richtete sich gegen Einwanderung, noch nicht mal von Flüchtlingen, sondern die EU-Binnenmigration: Die meinten den polnischen Klempner. Frankreich hat auch nicht viele aufgenommen. Eine einwanderungsfreundlichere EU-Politik ist unwahrscheinlich. Ich schätze, dass man weiter auf eine militärische oder polizeiliche Lösung setzt.

Das ging mit der Landroute nicht so gut. Die hat dazu geführt, dass wir ganz andere Bilder bekommen haben. Menschen, die im Mittelmeer sterben, sehen wir nicht. Es ist auch keine Gewalt, die von europäischen Polizei- und Grenzbeamten ausgeübt wird, die dann von europäischen Journalisten dokumentiert wird. Das hatten wir plötzlich in Mazedonien, als Polizisten mit Tränengas und Knüppeln auf Familien losgingen. Diese Bilder haben etwas bewegt: Da hat man gesagt, solche Zustände können wir nicht tolerieren.

Im Mittelmeer sind schon vor fünf und zehn Jahren ständig Menschen ertrunken. Hinzu kommt: Es sind Schwarzafrikaner, nicht die syrischen Kriegsflüchtlinge, die hohe Sympathie genießen. Es sind oft keine Familien, und wir haben oft Fotos aus Hubschraubern: Man sieht eine große Menge, gesichtslos, anonym.

Haben sich die Europäer daran gewöhnt, im Mittelmeer zu baden, während dort ständig Menschen ertrinken?

Das ist sicher so. Ob uns Leiden berührt, hängt nicht mit dem Schrecken zusammen, den Menschen erfahren, es liegt an bestimmten Konstellationen. Das Leid gab es jahrelang, aber erst das Foto des toten Jungen Aylan Kurdi am Strand von Bodrum hatte eine Wirkung: Weil er aussah, als würde er schlafen, weil er viele Eltern an das Aussehen ihrer eigenen Kinder mit drei bis vier Jahren erinnerte, weil es nicht das schreckliche Bild eines Toten mit verrenkten Gliedmaßen und Blut war. Der tote Junge, der von hinten so ausssah wie der eigene, hat ausgelöst, dass wir 2015 im Sommer gesagt haben: „refugees welcome“.

Wenn wir wieder so eine Haltung erreichen wollen, die sagt, wir können nicht baden gehen in Bari, während Menschen ertrinken, nur weil unsere Gesellschaft nicht auf Einwanderung eingestellt ist, dann müssen wir auf europäischer Ebene darüber diskutieren und Bewegungen schaffen, die das möglich machen.

Dr. Serhat Karakayali ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er hat über illegale Migration promoviert und arbeitet beim Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität.

Das Interview führte Andrea Grunau.

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