23. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingslager in Griechenland: 40 Grad im Zelt – draußen ist es schlimmer“ · Kategorien: Griechenland · Tags:

Quelle: Spiegel Online

Hitze, Gewalt, Angst vor Missbrauch, kaum Sicherheitspersonal: Im Softex-Lager in Griechenland herrschen untragbare Zustände. Die Betreiber sehen die Schuld auch bei der EU.

Aus Thessaloniki berichtet Giorgos Christides

Für Alia gelten nur zwei Regeln. Erstens: Entferne Dich nicht weit vom Zelt. Zweitens: Gehe nirgendwo im Lager allein hin.

Diese Ausgangssperre gilt 24 Stunden am Tag, jeden Tag – und die 15-jährige Syrerin befolgt die Anweisungen ihrer Eltern strikt. „Ich fürchte mich, irgendwo hinzugehen. Die Leute hier betrinken sich ständig, nehmen Drogen, es gibt Schlägereien.“ Während Alia das erzählt, sitzt sie vor dem Zelt ihrer Familie und schaukelt ihre jüngere Schwester in den Schlaf: „Es ist wirklich schlimm hier.“

„Hier“, das ist das Softex-Flüchtlingslager im Industriegebiet von Thessaloniki im Norden Griechenlands. Softex steht inzwischen symbolisch für die Schwierigkeiten des Landes, die rund 60.000 gestrandeten Flüchtlinge angemessen zu versorgen. Untergebracht auf dem Gelände einer ehemaligen Toilettenpapierfabrik, ist Softex eines der größten Lager auf dem Festland: 1380 Menschen leben hier derzeit, die allermeisten aus Syrien.

Reihen über Reihen von weiß-grünen Zelten auf Kies – so sieht es fast überall im Camp aus. Unter der griechischen Sommersonne hält man es drinnen kaum länger als ein paar Minuten aus. Auch wer mit seinem Zelt in einer der Fabrikhallen untergekommen ist, muss mit hohen Temperaturen, wenig Sauerstoff und noch weniger Privatsphäre leben.

Besonders hart trifft es die jungen Mädchen im Lager, sie fühlen sich angreifbar und ausgesetzt. Dabei wird die Anlage vom Militär betrieben und überwacht. Doch nach 20 Uhr gehen die Soldaten nach Hause, übrig bleiben nur drei Polizisten. Und die verlassen ihren Posten am Zugangstor nur, wenn sie gerufen werden. Das passiert selten, reguläre Patrouillen sind nicht vorgesehen.

Mehrfach gab es bereits Berichte über sexuellen Missbrauch, auch an Minderjährigen. Doch festgenommen oder gar angeklagt wurde bisher niemand. In drei Fällen gab es tatsächlich handfeste Indizien für einen Übergriff. So etwa bei dem siebenjährigen Mädchen, dessen zahlreiche Verletzungen einen Missbrauch vermuten ließen.

Video: Sommer im Lager – Zelte werden zum Treibhaus

„Wir hätten nichts lieber gemacht, als den oder die Angreifer festzunehmen“, erklärt Lagerleiter Dimitris Doxoglou. Doch dafür brauche es nun einmal die eindeutige Aussage und klare Anschuldigungen. Und diesen Schritt sei bisher keines der mutmaßlichen Opfer gegangen. Alle sagen, dass sie die Vergeltung ihrer Angreifer fürchten. Stattdessen muss sich die Lagerleitung damit begnügen, die Betroffenen und ihre Familien in ein anderes Camp zu verlegen. Das sei der Standardvorgang, so Doxoglou.

Die Aussicht, den harten Bedingungen im Softex-Lager zu entfliehen, lässt laut der Aufsicht auch immer wieder falsche Anschuldigungen aufkommen. So habe man in sieben von zehn Fällen feststellen können, dass hinter dem angeblichen Missbrauch doch eher der Wunsch nach einem baldigen Umzug stand. Damit wolle man aber keineswegs von den vermutlich ganz realen Übergriffen auf Frauen und Kinder ablenken.

Alia wagt sich in jedem Fall nie allzu weit weg von ihren Eltern und den vier Geschwistern. Sie stammen aus der Stadt Afrin in Nordsyrien und wollten eigentlich nach Deutschland oder Schweden. Stattdessen sitzen sie seit Februar 2016 in Griechenland fest, auf der Balkanroute war und ist kein Durchkommen mehr.

Empfehlung: „Alle Camps zumachen“

Im Mai kamen sie hierher, nachdem die griechischen Behörden ihre Unterkunft in dem wilden Lager Idomeni an der Grenze zu Mazedonien räumen ließen. Nach den erschütternden Verhältnissen dort hatten sie in der neuen, staatlich organisierten Bleibe auf Sicherheit und ein erträgliches Leben gehofft. Diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht.

Softex ist zwar das größte Lager im Land, die Probleme sind jedoch auf alle anderen übertragbar. Dieses Urteil legt auch eine Untersuchung des Griechischen Zentrums für Seuchenkontrolle nahe. Nach einer Erhebung in den 16 Camps des Landes, empfahlen die Experten, man solle „am besten alle zumachen“. Wenn das denn ginge.

Man habe beobachtet, dass „Hunderte Menschen zusammengepfercht wurden, ohne angemessene Belüftung, mit schlechten Sanitäranlagen, Bergen von Müll, dafür aber ohne genug Wasser oder Nahrung“, so der Bericht. Die meisten Lager stünden zudem auf alten Industriegeländen, mit „bekannten und unbekannten Gefahren“, darunter auch eine Belastung mit Schwermetallen.

„Unter solchen Bedingungen darf man sich über Aggression unter den Bewohnern nicht wundern“, sagt Anna Nava, Neuropsychologin bei Ärzte ohne Grenzen, die häufig im Softex-Lager arbeitet. Das betreffe Übergriffe zwischen Ethnien und Generationen, aber auch häusliche Gewalt. „Eine Mutter hat mir gesagt, dass sie ihre Kinder früher nie geschlagen hätte – heute ende jeder kleine Streit mit Gewalt.“

Flüchtlinge bauen Schultische – und unterrichten Kinder

Schönreden will auch der Chef des Lagers die Verhältnisse nicht. Aber er hat für die Nato in Camps auf der ganzen Welt gearbeitet – und mahnt zur Geduld: „Es ist besser als vor zwei Monaten, als es kein heißes Wasser gab, keine Bänke, keinen Schatten. Und es ist heute schlimmer als es in zwei Monaten sein wird.“ Besonders stolz ist Doxoglou auf die Schule, in der 18 syrische Lehrer aktuell mehr als 200 Kinder unterrichten. „Sie lernen in zwei Schichten, an Tischen, die Flüchtlinge gebaut haben.“

Und bis November, so verspricht es die Regierung laut einem Entwurf, den SPIEGEL ONLINE einsehen konnte, soll sowieso alles besser werden. Bis dahin sollen die Einrichtungen rund um Thessaloniki auf modernem Stand sein. Am vergangenen Freitag haben die Arbeiten im Softex-Lager begonnen. In zwei Monaten sollen alle 293 Familien ihre eigene 3,5 mal 8 Meter große Hütte bekommen, mit Türschloss und eigener Toilette. Der Plan sieht zudem Grünflächen vor, weitere Schulen, Geschäfte, einen Fußball- und zwei Basketballplätze. Die verschiedenen Ethnien leben laut dem Entwurf klarer voneinander getrennt – auch so sollen Spannungen abgebaut werden.

Soweit der Plan für die bestehenden Einrichtungen, doch die Regierung in Athen verfolgt die politische Entwicklung im Nachbarland Türkei mit Sorge. Sollte der Flüchtlingsdeal mit der EU tatsächlich platzen, wäre wohl mit Zehntausenden Neuankömmlingen zu rechnen. Schon jetzt gibt es Pläne für den Ernstfall.

„Fühle mich wie ein Tier behandelt

Die EU macht den Griechen die Arbeit nicht leichter. Noch immer, so die Kritik, sei nur ein Bruchteil der versprochen Unterstützung eingetroffen – vor allem natürlich Finanzhilfen, aber auch zusätzlichen Asylbeamte, Übersetzer und andere Experten. Das System, mit dem Flüchtlinge aus Griechenland über die EU verteilt werden sollen, existiert weiter vor allem auf dem Papier. Gerade einmal 2300 Menschen wurden bisher auf diesem Weg umgesiedelt.

Es gibt viele Gründe, warum sich die Lage in Griechenland nur langsam verbessert – den meisten Flüchtlingen sind sie jedoch ziemlich egal. So auch Waseem, der die Geduld verloren hat. Der Jura-Student floh aus Syrien, nachdem seine Frau bei einem Bombenangriff getötet wurde.

„Ich habe an einem Tag alles verloren: meine Frau, mein Haus, mein ganzes Leben. Jetzt fühle ich mich hier in Europa wie ein Tier behandelt“, sagt er in seinem penibel aufgeräumten Zelt. Vor ihm steht ein Tee mit viel Zucker.

Sein Traum heißt Deutschland. Dort will er fertig studieren. „Dann hole ich meine Familie nach. Und fühle mich wieder wie ein Mensch.“

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