Quelle: NZZ
Hunderte von Bootsflüchtlingen kommen täglich in Italien an. Die meisten werden nun registriert. Andere EU-Staaten übernehmen aber nicht wie versprochen Asylbewerber.
von Andrea Spalinger, Rom
Jeden Tag werden auf dem Mittelmeer weiterhin Hunderte von Bootsflüchtlingen gerettet und nach Italien gebracht. Die Küstenwache verschickt allabendlich eine Mail mit den jüngsten Zahlen, doch diese finden in den Medien nur noch selten Erwähnung. Die Ankünfte gehören mittlerweile zum Alltag. Seit der Schliessung der Balkanroute erreicht die deutliche Mehrheit der Migranten – im Juli waren es 93 Prozent – Europa wieder über Italien. Laut der europäischen Grenzschutzagentur Frontex sind im letzten Monat allein 25 300 Männer, Frauen und Kinder hier an Land gegangen, im ersten Halbjahr waren es insgesamt 95 000.
Chaos im Norden
Langsam braut sich eine neue Krise zusammen. Auf Druck der EU werden in den süditalienischen Hotspots die meisten Ankömmlinge mittlerweile registriert, und die Zahl der Asylanträge steigt rasant. Von August 2015 bis Juli 2016 wurden in Italien 105 867 Anträge auf politisches Asyl gestellt – und damit 50 Prozent mehr als in der Vorjahresperiode. In den kommenden Monaten dürfte die Zahl nach Meinung von Experten weiter steigen.
Die im Gegenzug von Brüssel versprochene Umsiedlung von Flüchtlingen kommt jedoch weiterhin nicht in Schwung. Der sogenannte Relocation-Plan von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sieht vor, dass zwischen September 2015 und 2017 insgesamt 160 000 Asylbewerber aus Italien und Griechenland in andere EU-Mitgliedstaaten transferiert werden. Nach knapp einem Jahr sind aber erst 902 beziehungsweise 2665 Asylbewerber aus den beiden Ländern übernommen worden. Allen voran die osteuropäischen Staaten haben bisher keinerlei Willen gezeigt, ihren Verpflichtungen nachzukommen.
Früher hatte Italien Migranten, die gute Asyl-Chancen hatten, untertauchen und nach Nordeuropa weiterreisen lassen. Das geschieht nun sehr viel seltener, und jene, die es doch versuchen, bleiben immer häufiger stecken. Frankreich hat seine Grenze zu Ligurien schon vor längerer Zeit dichtgemacht, und in der Grenzstadt Ventimiglia herrscht seit Monaten Ausnahmezustand. Seit kurzem führen nun aber auch die Schweizer und die Österreicher immer mehr Kontrollen durch und schicken illegal Einreisende nach Italien zurück.
Die Flüchtlingskrise, die sich bisher vor allem in Sizilien, Kalabrien und Apulien abspielte, hat damit Norditalien erreicht. In Mailand und in Como campen seit Wochen Hunderte von Migranten nahe dem Bahnhof und im Stadtzentrum. Der Bürgermeister von Mailand hat nun entschieden, vorübergehend Kasernen zur Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen. Sein Kollege in Como will ein grosses Lager mit Notunterkünften errichten.
Schnellere Asylverfahren
In allen Regionen des Landes sind die bestehenden Unterkünfte für Asylbewerber überfüllt. Derzeit sind rund 140 000 Personen in permanenten Zentren und Notunterkünften untergebracht. Innenminister Angelino Alfano fordert die Gemeinden in regelmässigen Abständen dazu auf, mehr Plätze zur Verfügung zu stellen, doch vielerorts regt sich Widerstand. Vor allem in von der rechtspopulistischen Lega Nord regierten Regionen, aber nicht nur. Für Empörung in den sozialen Netzwerken sorgte die Weigerung des linken Bürgermeisters von Capalbio – einem toskanischen Küstenort, in dem sich im Sommer die italienische Intelligenzia trifft –, in einem leeren Gebäude im Stadtzentrum Flüchtlinge aufzunehmen.
Um die neuralgischen Punkte zu entlasten, haben die Behörden in den letzten Wochen damit begonnen, gestrandete Migranten aus nördlichen Grenzgemeinden mit Bussen in die sogenannten Hotspots der EU in Süditalien zurückzubringen, um sie dort zu registrieren. Justizminister Andrea Orlando hat der zuständigen parlamentarischen Kommission diese Woche zudem einen Gesetzesentwurf vorgestellt, mit dem die Asylverfahren in Italien effizienter und schneller werden sollen. Das ist dringend nötig. Bisher werden die Verfahren nach einer ersten Beurteilung durch regionale Kommissionen vor gewöhnlichen zivilen Gerichten geführt und können bis zu drei Jahre dauern. Künftig sollen Fachrichter entscheiden, die Verfahren dafür aber deutlich abgekürzt werden.
Experten haben den Gesetzesvorschlag begrüsst. Bis dieser durchs Parlament ist, dürfte es allerdings noch eine ganze Weile dauern. Zudem bleibt die Ausschaffung ein Problem. Neben Eritreern, Sudanesen und Somaliern kommen derzeit jedoch auch sehr viele Bürger aus anderen schwarzafrikanischen Staaten nach Italien, die keinen Anspruch auf politisches Asyl haben. Nach Angaben des Innenministeriums werden derzeit etwa 60 Prozent der Asylanträge abgelehnt. Rom hat aber nur beschränkte Möglichkeiten, Leute abzuschieben, weil es nur mit wenigen Staaten bilaterale Rückführungsabkommen gibt. Mehr als die Hälfte der abgewiesenen Asylbewerber taucht laut dem Ministerium deshalb unter. Rom verhandelt derzeit mit verschiedenen afrikanischen Staaten über solche Abkommen, ohne diplomatische Hilfe aus Brüssel wird es aber kaum viel erreichen.
Fehlende Solidarität
In Italien wächst der Unmut darüber, dass das Dublin-System trotz seinem offensichtlichen Versagen noch immer gilt und man innerhalb Europas nicht auf mehr Solidarität zählen kann. Zumindest in Regierungskreisen scheint man sich durchaus bewusst, dass einige Staaten wie Deutschland oder Schweden deutlich mehr Asylbewerber aufgenommen haben als Italien. Doch Ministerpräsident Matteo Renzi argumentiert, dass Rom bei der Rettung noch immer viel mehr leiste als alle anderen. Zudem kritisiert er, dass sich bei der Relocation ja gerade jene Mitgliedstaaten querstellten, die selbst noch kaum Asylbewerber aufgenommen hätten.
Es sei wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Regierung wegen ihrer grosszügigen Flüchtlingspolitik innenpolitisch unter Druck komme, meint ein Mitarbeiter des Uno-Flüchtlingshilfswerks. Derzeit brächten an der europäischen Operation «Triton» beteiligte deutsche, französische und britische Schiffe alle auf hoher See geretteten Migranten in italienische Häfen. Wenn das südeuropäische Land aber auf immer mehr Migranten sitzenbleibe, werde es sich früher oder später wohl weigern, diese zu übernehmen, befürchtet er.