19. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Atatürk und die Flüchtlinge: Der große Bevölkerungstausch“ · Kategorien: Lesetipps, Türkei

Quelle: FAZ

Nach dem griechisch-türkischen Krieg strömten im Jahr 1923 Muslime aus anderen Ländern in die Republik Atatürks. Wie löste die Türkei ihr damaliges Flüchtlingsproblem? Ein Gastbeitrag.

von KLAUS KREISER

Im bitterkalten Spätherbst des Jahres 1923 kampierten in den griechischen Häfen an der Ägäis Zehntausende von Menschen, zum Teil unter freiem Himmel. Es waren ausnahmslos Muslime, sie sprachen in der Mehrzahl Türkisch, unter ihnen waren Bauern, Handwerker, Kaffeehausbesitzer, Lehrer, Religionsdiener. Sie hinterließen Häuser, Ackerland und Werkstätten in Mazedonien, Thessalien, im Epirus und auf den Inseln. Alle erwartete nach ihrer Verschiffung eine unbestimmte Zukunft in einem unbekannten Land – in der wenige Wochen zuvor ausgerufenen Republik Türkei.

Vorausgegangen war die hastige Evakuierung der griechischen Invasionsarmee, nachdem sie von den Truppen Mustafa Kemals in mehreren Schlachten besiegt worden war. Nach dem Waffenstillstand von Mudanya am Marmara-Meer im Oktober 1922 hatten sich Türken und Griechen in der Schweiz an den Verhandlungstisch gesetzt. Am 30. Januar 1923 wurde in Lausanne das „Abkommen über den Austausch der griechischen und türkischen Bevölkerung“ beschlossen. Der erste Artikel war präziser, hier wird der 1. Mai als Beginn des „obligatorischen Austausches“ der griechisch-orthodoxen Bevölkerung der Türkei mit den muslimischen Bewohnern Griechenlands festgehalten.

Kinder und Hilfsbedürftige zuerst

Ausgenommen waren die entsprechenden Minderheiten in Westthrakien und Istanbul einschließlich der Inseln am Dardanellen-Eingang. Aber erst im Oktober 1923 traf sich eine aus Türken, Griechen und neutralen Vertretern zusammengesetzte Kommission, um über die Modalitäten eines Bevölkerungsaustauschs zu beraten. Im selben Monat erließ die türkische Nationalversammlung Gesetz Nr. 368 über die Aufgaben und Vollmachten eines Ressorts für Flüchtlingsfragen. Mustafa Necati, Abgeordneter von Izmir, hatte den Namen „Ministerium für Bevölkerungsaustausch, Wohnungsbau und Siedlungswesen“ vorgeschlagen. Er war dann der erste und einzige „Migrationsminister“, seine Aufgaben wurden schon nach fünf Monaten auf andere Ministerien verteilt.

Die Menschen in Saloniki und an anderen Plätzen konnten und wollten die warme Jahreszeit nicht abwarten. So begann der Austausch von rund einer halben Million europäischer Muslime mit der etwa dreifachen Zahl kleinasiatischer und ostthrakischer Christen eher spontan, lange vor den für die Sommermonate 1924 geplanten Umsiedlungen. Für die Regierung in Ankara war das Transportproblem über Land und Meer vorrangig. Die Kapazitäten der von den Osmanen übernommenen staatlichen Reederei und der Handelsschifffahrt waren bescheiden. Aus einer internationalen Ausschreibung der Flüchtlingstransporte ging der Lloyd Triestino als billigster Anbieter hervor. Necati schlug jedoch das Angebot der Italiener als unvereinbar mit dem Nationalgefühl aus. Die türkischen Schiffseigner kamen nun zum Zug. Sie gewährten freie Passage für Kinder und Hilfsbedürftige und akzeptierten die Bezahlung in Drachmen.

Die „Ausgetauschten“

Die Zahl leerstehender Häuser war begrenzt. Die Menschen drängten sich in Vorhöfen von Moscheen, einschließlich der Hagia Sophia und überlasteten Spitälern. Antike Tempel und byzantinische Kirchen dienten als provisorische Unterkünfte. Der deutsche Journalist Hans Tröbst, als ehemaliger Offizier im Dienste der Kemalisten ein genauer Kenner des Landes, schrieb 1924: „Auch Pergamon ist voll von diesen Unglücklichen. Die griechischen Häuser, auf die sie rechneten, liegen in Trümmern. Türkischer Hass und griechische Verzweiflung haben sie in Flammen aufgehen lassen. Und so beschäftigen sich die Mohadschirs damit zu warten.“ Ohne Übertreibung könne man sagen: „Von hundert dieser Rückwanderer haben 25 Tee- und Kaffeestuben eröffnet, 25 Lokantas, kleine Speisehäuser, und der übrige Rest bevölkert diese Stätten des Zeitvertreibs und der Erholung und klagt dort trauernd der Vergangenheit nach.“

Tröbst verwendet das bis heute geläufige muhacir, wenn er über die von 1923 an „Ausgetauschten“ spricht. Das arabische Wort bedeutet zunächst in der Alltagssprache jene Muslime, Türken und andere Nationalitäten, die als Opfer von Flucht und Vertreibung einwanderten, dann aber auch wenig sinngemäß die durch Staatsverträge „Ausgetauschten“. Ursprünglich verstand man darunter die Genossen des Propheten Mohammed, die sich im Jahr 622 vor den missgünstigen Mekkanern durch die Flucht (Hidschra) nach Medina retteten, worüber aber nur in der Religionsgeschichte bewanderte Türken genauer Bescheid wissen. Die säkularen Sprachreformer schufen um 1933 für Aus- und Einwanderer aller Art das Retortenwort göçmen, das dann von den sechziger Jahren an auch die nach Europa gegangenen Arbeitsmigranten bezeichnete.

Die „letzten Osmanen“

Der Islamwissenschaftler Bernard Lewis hatte schon 1961 in seinem Buch „The Emergence of Modern Turkey“ (Die Entstehung der modernen Türkei) eher beiläufig die Meinung vertreten, dass die Ausgetauschten von 1923, Griechen wie Türken, nicht repatriiert wurden – also keine Rückwanderer in ihr Heimatland waren -, sondern vielmehr als altansässige Bewohner Kleinasiens beziehungsweise Südosteuropas ins Exil gingen. Im Übrigen kommt das Wort in der Lausanner Konvention, die an mehreren Stellen von émigrés spricht, gar nicht vor.

Aber erst in jüngerer Zeit schließen sich türkische Autoren und Autorinnen dieser Auffassung an. Sie betonen statt politischer Unterschiede die kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen den kleinasiatischen Griechen und Türken. Zuletzt hat Emine Yeşim Bedlek die umgesiedelten Kleinasiaten (Mikrasiates) als „letzte Osmanen“ bezeichnet, deren „imperiale Identität“ sie von den über ein Jahrhundert nationalistisch geprägten Griechen unterscheide und deshalb ihre Integration erschwerte („Imagined Communities in Greece and Turkey. Trauma and Population Exchanges under Atatürk“, London, New York, Tauris 2016).

Bye, bye, Anatolien

Die „Ausgetauschten“ wurden nicht überall mit offenen Armen empfangen. Die von den Griechen hinterlassenen Immobilien waren zum Teil von früher eingetroffenen Migranten okkupiert. In der Nationalversammlung von Ankara polemisierte ein Abgeordneter gegen die Verdrängung von Einheimischen, deren Häuser im türkisch-griechischen Krieg verbrannt waren, durch die Neuankömmlinge. Zwischen dem Finanzministerium, das nicht auf die Mieteinnahmen dieser Immobilien verzichten wollte, und den Behörden des Innenministeriums, die sich um Wohnraum kümmern mussten, entstanden massive Kompetenzstreitigkeiten. Schon am 13. März 1924 wurde das Migrationsgesetz zugunsten der Ansässigen abgemildert.

Die Regierung kam in der Regel zwei Monate für den Unterhalt der ausgetauschten Familien auf, immer unter der Voraussetzung, dass sie sich an dem für sie vorgesehenen Ort niederließen. Wer dieser „Wohnsitzauflage“ nicht folgte, indem er es etwa vorzog, bei Verwandten in einer größeren Stadt unterzuschlüpfen, erhielt keine Unterstützung. Beim Besteigen der Schiffe wurden Familien auseinandergerissen. Es kam vor, dass einige Mitglieder in Samsun am Schwarzen Meer ausgebootet wurden, andere tausend Kilometer südwestlich in Izmir. Dasselbe galt im größeren Maßstab für in Griechenland unmittelbar benachbarte Dörfer, deren Menschen in Anatolien auf Nimmerwiedersehen getrennt wurden. Wenn auch viele in verlassenen Häusern unterkamen, wurde es oft für das notwendige Kleinvieh auf der gemeinschaftlichen Dorfweide zu eng.

Zweiundsiebzigeinhalb Nationalitäten

Die türkischen Behörden hatten einen Masterplan für die Umsiedler, der ihre möglichst gleichmäßige Verteilung in Anatolien und Ostthrakien vorsah. Der kurdisch geprägte Osten wurde so gut wie vollständig („aus Sicherheitsgründen“) ausgespart. Auch sollten die Flüchtlinge dort Fuß fassen, wo die „klimatischen“ Bedingungen ihrer alten Heimat ähnelten und ihre Fähigkeiten angewendet werden konnten. Nach der Vorstellung des Migrationsministers sollten beispielsweise Tabakpflanzer aus dem makedonischen Drama nach Samsun oder Bafra an die mittlere Schwarzmeerküste oder in den Ägäis-Raum ziehen, weil auch an diesen Orten Tabak angebaut wurde.

Die herkömmliche ethnische Arbeitsteilung war zusammengebrochen. Die Flüchtlinge konnten nicht aus dem Stand den Anbau von Sonderkulturen wie Wein oder Baumwolle fortsetzen oder Gewerbe übernehmen, auf die viele kleinasiatische Griechen und Griechinnen spezialisiert waren, wie das Töpfern, das Knüpfen bestimmter Teppiche oder das Pressen von Olivenöl.

Die Umsiedler der Zwischenkriegszeit fanden sich in einem bevölkerungsarmen Staat von etwa dreizehn Millionen Einwohnern. Sprichwörtlich warteten in der Republik Türkei zweiundsiebzigeinhalb Nationalitäten auf ihre Verschmelzung. Ein neueres Übersichtswerk der ethnischen Gruppen der Türkei listet immerhin siebenundvierzig Gruppen auf. Darunter befinden sich neben den großen turksprachigen Gruppen vor allem Kurden, aber auch muslimische und christliche Araber, Tscherkessen und andere Einwanderer aus den Kaukasusländern. Insgesamt aber trugen die Umsiedler dieser Jahrzehnte mit drei bis vier Prozent nur geringfügig zum Bevölkerungswachstum bei, während sie die Einwohnerschaft Griechenlands um ein Viertel vermehrten.

Die Grundausstattung: Garten, Ackerland und Bienenstöcke

Erst ein Jahrzehnt nach der Ankunft der ersten „Ausgetauschten“ konnten die türkischen Behörden größere Erfolge bei der Ansiedlung präsentieren. Die türkisch-griechischen Beziehungen wurden im Vertrag von Ankara am 10. Juni 1930 bereinigt. Im selben Jahr besuchte der griechische Ministerpräsident Venizelos die neue türkische Hauptstadt, gegen Proteste im Parlament von Athen stimmte er einem Vermögensausgleich mit der Türkei zu.

In den dreißiger Jahren unterstand die europäische Resttürkei einem Generalinspekteur namens Kazim Dirik. Der ehemalige Militär war ein typischer Vertreter der in den Balkanländern sozialisierten „Jungtürken“, die dann in der Republik Türkei als Reformer Karriere machten. Für die Neuansiedler zwischen Edirne und Istanbul habe Kazim, so die regierungsnahe „Cumhuriyet“, „wie ein Vater“ gesorgt. In einer Nummer der Zeitung aus dem Jahr 1936 findet man Fotos von Flüchtlingsdörfern: einfache ziegelgedeckte Häuser, die beiden Räume trennte ein schattenspendender Flur. Der Staat stellte die Lebensgrundlage der Ansiedler: einen Garten, Ackerland für Getreide oder Zuckerrüben und Bienenstöcke.

Eine Erfolgsgeschichte

Die neuen Bürger hatten im Durchschnitt ein höheres Bildungsniveau als die Anatolier, die Mehrehe war seltener, die Zahl der Kinder geringer. Die erste Generation der „Ausgetauschten“ lebte nicht konfliktfrei mit den Ansässigen. Der Film von Çagan Irmak „Die Menschen meines Großvaters“ thematisiert derartige Erfahrungen, die ein alter Mann seinem Enkel vom Leben in einer anatolischen Kleinstadt nach seiner Ankunft aus Griechenland vermittelt. Er wurde von der Ortsjugend als „Ungläubiger“ gemobbt, die Scheiben seines Hauses mit Steinen beworfen. Trotz dieser bitteren Erlebnisse überwiegt in dem 2012 auch in Deutschland gezeigten Film ein versöhnlicher, oft heiterer Ton.

Heute wird auf beiden Seiten der Ägäis das Andenken an die alte Heimat gepflegt. In Athen wurde 2012 eine Ausstellung mit sakralen Kunstwerken gezeigt, die Flüchtlinge aus Kleinasien und Ostthrakien mitführen konnten. Die meisten Objekte wurden vor dem Verlassen der Heimat dem Feuer überantwortet. Auf türkischer Seite haben sich Nachkommen der „Ausgetauschten“ zu Vereinen zusammengeschlossen, die Kontakt mit griechischen Schwesterorganisationen halten.

Alles in allem muss man die Integration der Muslime aus Griechenland, Bulgarien und anderen Nachfolgestaaten des Osmanenreichs in die Republik Atatürks als eine Erfolgsgeschichte bezeichnen.

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