18. August 2016 · Kommentare deaktiviert für Flüchtlinge werden auf der Balkanroute zu „Desperados“ · Kategorien: Balkanroute, Europa, Griechenland, Italien, Serbien · Tags:

Quelle: Welt | N24

Von Matthias Kamann

ZUSAMMENGEFASST

In Ländern an der Balkanroute leben Flüchtlinge in extremer Armut und ohne Perspektive, viele von ihnen illegal.
Hilfsorganisationen werfen der EU vor, sie lasse sich die Migranten „vom Halse halten“, statt den Ländern zu helfen.
Experten fürchten, dass sich die Überforderung Serbiens und Griechenlands auf weitere Peripheriestaaten ausdehnt.

WARUM DAS WICHTIG IST

Werden ohnehin schon arme Länder mit den Flüchtlingen alleingelassen, wächst auch ihre eigene soziale und wirtschaftliche Not – das sollte sich die EU bewusst machen.

Ein hartes Wort: „Desperado“. Besonders alarmierend klingt es, wenn es von der Chefin eines evangelischen Hilfswerks ausgesprochen wird. Und das noch mit Blick auf Flüchtlinge.

Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin der Diakonie Katastrophenhilfe, benutzt das Wort mit Blick auf die Migranten, die derzeit in Griechenland und anderen Balkanstaaten leben. „Sie werden auf die Dauer zu Desperados im Wortsinne, zu Verzweifelten, wenn sie jahrelang ohne Integrationschancen, Rechte, Einkommen und Perspektive bleiben.“

Hier entstehe „ein enormes soziales Problem“, sagt Füllkrug-Weitzel im Gespräch mit der „Welt“. Es sei „zu befürchten, dass davon demnächst auch Italien in größerem Ausmaß betroffen sein wird“. Denn in Italien, auch im wohlhabenden Norden etwa am Comer See, beginnt gegenwärtig, was sich in Serbien und Griechenland schon seit Monaten beobachten lässt: Zehntausende von Menschen stecken fest, weil sie nach der Flucht aus Afrika oder dem Nahen Osten nicht mehr weiter nach Zentraleuropa kommen.

Während man sich in Deutschland freut, dass wegen des harten Grenzregimes der EU-Staaten Ungarn und Kroatien mittlerweile viel weniger Menschen ankommen, verschlimmert sich genau deswegen die Lage in den süd- und südosteuropäischen Ländern.

So entsteht eine neue Zweiteilung des Kontinents. In der Mitte und im Norden werden die Probleme zumindest geordnet, aber an der Peripherie breitet sich die Unordnung weiter aus. Für diese Unordnung benutzt Füllkrug-Weitzel ein weiteres alarmierendes Wort: „Illegalität“. Denn in diese, die es bei Migranten in Südeuropa schon seit Jahrzehnten gibt, drohten nun noch viel mehr Menschen zu geraten.

Flüchtlinge verteilen sich über ganz Griechenland und Serbien

Extrem schwierig mache dies die Arbeit der Hilfsorganisationen. So weit es sich um kirchliche handelt, koordiniert sie die Diakonie Katastrophenhilfe für ganz Europa im Rahmen des christlichen Netzwerks Act Alliance. Lokale Organisationen werden dabei durch Personal aus Deutschland unterstützt; gemeinsam ermittelt man den Bedarf und beschließt, wohin Spendengelder fließen.

Aber „wohin“ ist ein Fragewort – und die Antwort fällt immer schwerer. Denn anders als im vergangenen Jahr, da es eine klar umrissene Balkanroute mit eindeutig zu identifizierenden Hotspots des Hilfsbedarfs gab, läuft jetzt die Wanderung der Menschen über kaum zu erkennende Wege.

Und meist ist es gar keine Wanderung, sondern ein Stillstehen von Tausenden, die sich in Griechenland oder Serbien übers ganze Land verteilen. „Selbst für unsere Partnerorganisationen“, erzählt Füllkrug-Weitzel, „ist es schwierig, sie aufzuspüren, um sie versorgen zu können, obwohl die meisten Partner seit Jahren mit Sozialarbeit im Land unterwegs sind.“

Illegal Eingewanderte leben in extremer Armut

Weit verstreut seien dort die Flüchtlinge. Und es scheine, als würden viele aus Angst vor einer möglichen Abschiebung einer Identifizierung aus dem Wege gehen. „Sie leben in diesen ohnehin armen Ländern in extremer Armut“, sagt Füllkrug-Weitzel. Man könne nur versuchen, „möglichst viele von ihnen wenigstens mit Suppenküchen oder einer medizinischen Grundversorgung und Geldkarten in informellen Anlaufstellen zu erreichen“.

Wegen der Illegalität sind die offiziellen Zahlen etwa zu Griechenland mit großer Vorsicht zu betrachten. Die Zahl registrierter Flüchtlinge liegt auf dem griechischen Festland bei rund 40.000, von denen die meisten nach Mitteleuropa wollen.

Hinzu kommen noch einmal 10.000 auf den Ägäisinseln, wohin sie übers Meer aus der Türkei kamen. Bei ihnen ist noch gar nicht klar, ob sie überhaupt aufs Festland dürfen oder wieder zurück in die Türkei gebracht werden.

Aber auszugehen sei davon, dass in Griechenland „noch viele weitere Menschen illegal leben“, sagt Markus Koth, der die Südosteuropaarbeit der Diakonie Katstrophenhilfe vor Ort organisiert. Viele dieser Illegalen seien schon vor Jahren gekommen, etwa aus Pakistan.

Griechen jahrelang mit der Flüchtlingskrise alleingelassen

Das aber heißt: Ein großer Teil der Probleme in Griechenland hat gar nichts damit zu tun, dass Deutschland im vergangenen Jahr eine so große Aufnahmebereitschaft signalisierte. Vielmehr erlebt Griechenland schon seit Jahren eine Flüchtlingskrise – „aber früher hat sich dafür im übrigen Europa niemand interessiert“, sagt Koth.

Man habe die Griechen damit „jahrelang alleingelassen“. Erst jetzt, da sich daraus ein Problem auch für den Rest des Kontinents entwickeln kann, werde die Dimension der griechischen Probleme auch andernorts bemerkt.

Was aber nicht heißt, dass den Griechen diese Last nun abgenommen würde. Im Gegenteil: Gerade wegen der jetzt aufgekommenen Sorgen in den anderen EU-Staaten bleiben die meisten dieser Migranten, ob registriert oder illegal, bislang in Griechenland.

Konkret gibt es für sie drei Möglichkeiten. Erstens, so Koth: „Sie versuchen, mit Schleppern nach Mitteleuropa zu kommen. Dies nimmt in Griechenland wieder zu, bringt die Menschen in die Illegalität und und birgt die Gefahr von Ausbeutung oder sexueller Gewalt, der insbesondere Frauen und Mädchen ausgesetzt sind.“

Die zweite Möglichkeit ist das Relocationprogramm der EU, womit die Menschen auf andere EU-Staaten verteilt werden sollen. „Das bleibt aber bisher hinter den Erwartungen zurück“, sagt Koth. Denn viele EU-Staaten wollen niemanden aufnehmen.

Die dritte Möglichkeit besteht darin, in Griechenland selbst zu bleiben – wo die Arbeitslosenquote 25 Prozent beträgt.

Flüchtlingscamps werden internationalen Standards nicht gerecht

Doch nicht nur die weiteren Perspektiven sind dort miserabel, sondern auch die aktuellen Lebensverhältnisse. Denn wer sich in Griechenland registrieren lässt und somit auf Legalität setzt, landet in Camps, von denen Koth sagt, dass viele davon „internationalen Standards in puncto Sicherheit, Hygiene und Gesundheit nicht gerecht werden“. Daher versuchten Hilfswerke, zumal Familien mit kleinen Kindern in Wohnungen unterzubringen.

Eine zusätzliche Belastung ist der Zwang zum Warten. Dass viele in Griechenland fürs Erste registriert wurden, bedeutet nämlich nicht, dass ihre Fälle rasch geklärt würden.

Vielmehr läuft es so, dass sie bei der ersten Erfassung ihre Telefonnummer angeben mussten und jetzt eine SMS erhalten sollen, worin ihnen der Termin für ein zweites Gespräch mitgeteilt wird. Bei dem dann sollen sie sagen, ob sie am EU-Verteilungsprogramm teilnehmen möchten oder ein Anrecht auf Zusammenführung mit Familienangehörigen haben, die schon in EU-Staaten leben.

„Aber wenn dann die SMS kommt“, berichtete Koth, „kann es sein, dass der Termin für dieses zweite Gespräch erst in mehreren Monaten stattfindet. Bis dahin hängen die Menschen in der Warteschleife.“

Ärzte sehen Schnittwunden von den Zäunen und Hundebisse

Aus ihr brechen Tausende auf eigene Faust aus und gelangen via Mazedonien oder Bulgarien nach Serbien. Dort kommen nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR derzeit pro Tag 200 bis 300 Flüchtlinge an – aber nicht mehr weiter. Denn nur 30 können pro Tag legal weiter nach Ungarn einreisen.

Somit füllt sich Serbien wieder mit Flüchtlingen. Direkt an den zwei Grenzübergängen nach Ungarn sind informelle Camps mit Menschen entstanden, die darauf hoffen, es irgendwann nach Ungarn in die EU zu schaffen.

Koth war erst in der vergangenen Woche in einem dieser Grenzcamps bei Horgos. „Erschreckend schlecht“ sei die Lage. „Dort leben mehrere Hundert Menschen in kleinen Zelten oder in aus Ästen und Planen errichteten Hütten, es gibt nur einen Wasserhahn, nur wenige Dixi-Toiletten, die Essensversorgung ist schwierig, die Menschen verbrennen den Müll, was jetzt im Hochsommer die Brandgefahr erhöht.“

Zwar versuchen die serbischen Behörden, die allgemein wegen ihrer Professionalität und Hilfsbereitschaft sehr gelobt werden, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie sich in offizielle serbische Camps bringen lassen. Dort können sie temporäre oder dauerhafte Asylanträge für Serbien stellen. Aber viele weigern sich, wollen weiter nach Mitteleuropa, bleiben daher in den informellen Camps und geraten damit schnell in die Illegalität, weil sie in Serbien kein Aufenthaltsrecht mehr haben.

Und manche versuchen, die Grenze nach Ungarn ohne Genehmigung zu überqueren. Meist scheitern sie. „Die Folgen sehen unsere Ärzte in diesen Camps“, erzählt Koth. „Es gibt Schnittwunden von den Zäunen, Hundebisse, zuweilen auch Spuren körperlicher Gewalt.“

Scharfe Kritik am Verhalten der EU gegenüber Eritrea

Aber auch wenn die Menschen sich entschließen, erst einmal in Serbien zu bleiben und sich dort registrieren zu lassen, mache das die Lage für die serbischen Behörden nicht einfacher. Koth: „Die Zahl der Flüchtlinge im Land steigt, und man fragt sich, wie lange Serbien all diese Menschen noch aufnehmen und so gut versorgen kann, wie das bisher geschieht.“

Füllkrug-Weitzel befürchtet, dass sich solche Überforderung wegen des EU-Grenzregimes auf weitere Peripheriestaaten ausdehnt. Also auf außereuropäische Staaten, in die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder afrikanischen Staaten kommen.

„Es sieht so aus, als ziele die EU-Politik gegenüber den Mittelmeeranrainerstaaten nur darauf, dass die uns die Flüchtlinge vom Halse halten“, sagt die Präsidentin des kirchlichen Hilfswerks. Die EU lasse dabei aber jene Länder nicht nur mit den Flüchtlingen allein, sondern auch mit „der Bewältigung ihrer eigenen, dadurch wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Not“. Nicht gefragt werde in der EU zudem, ob jene Länder „die Flüchtlinge menschenrechtskonform behandeln“.

Besonders scharf kritisiert Füllkrug-Weitzel die Versuche der EU, das ostafrikanische Eritrea zum Zurückhalten von Flüchtlingen zu bewegen. Es sei „zynisch, ein Land wie Eritrea zu belohnen, wenn es Flüchtlinge zurückhält, die das Land gerade wegen der unerträglichen Zustände dort verlassen wollen“.

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siehe auch: Handelsblatt

Lage für Flüchtlinge in Südosteuropa „schlecht“ bis „katastrophal“

Helfer kritisieren die Lage in Flüchtlingslagern in Südosteuropa nach der Schließung der Balkanroute. Allein in Griechenland säßen 57.000 Menschen fest, die Bedingungen seien manchmal „katastrophal“.

Ein Jahr nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise ist die Lage der Asylsuchenden in Südosteuropa nach Einschätzung der Diakonie Katastrophenhilfe „häufig schlecht, manchmal sogar katastrophal“. Nach der Schließung der Balkanroute säßen allein in Griechenland 57.000 Menschen fest, sagte der Flüchtlingshilfekoordinator der Diakonie Katastrophenhilfe für die Region, Markus Koth, am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP in Berlin.

Die griechischen Inseln seien mit geschätzt 10.000 Flüchtlingen jetzt schon überfordert, ihre Aufnahmekapazität liege bei rund 8000, sagte Koth. Viele Flüchtlinge seien in Zeltlagern ohne Strom und fließendes Wasser untergebracht und Gesundheitsrisiken ausgesetzt.

Als vordringlich für die Flüchtlingsarbeit bezeichnete Koth die Bereitstellung von gutem und sicherem Wohnraum. Dies sei die Voraussetzung dafür, dass die Menschen „aus ihrer Opferrolle herauskommen und ihr Schicksal selbst bestimmen“. Insbesondere allein reisende Frauen und Kinder müssten sicher untergebracht werden. Die Diakonie Katastrophenhilfe, die am Donnerstag in Berlin ihre Jahresbilanz zieht, unterhalte entsprechende Projekte für festsitzende und neu ankommende Flüchtlinge.

Koth berichtete aus eigener Anschauung auch über die Lage im serbischen Horgos an der Grenze zu Ungarn. Dort lebten derzeit etwa 450 Flüchtlinge unter schwierigsten Bedingungen in Zelten und in aus Ästen zusammengezimmerten Notunterkünften mit Planen. Die ungarischen Behörden ließen dort täglich 15 Menschen über die Grenze.

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