14. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Bevölkerungsentwicklung: Die große Migrationswelle kommt noch“ · Kategorien: Europa · Tags:

Quelle: FAZ

Rasantes Bevölkerungswachstum in Afrika sowie im Nahen Osten und hohe Jugendarbeitslosigkeit bilden ein explosives Gemisch. Eine aktuelle Studie zeigt: Hunderte Millionen wollen auswandern.

von Philip Plickert

Im vergangenen Jahr kamen gut eine Million Menschen aus Krisenregionen des Nahen Ostens, aus Afrika und vom Balkan als Asylbewerber nach Deutschland. In diesem Jahr rechnen die Kommunen mit etwa einer Dreiviertelmillion. Rückläufige Zahlen sollen die Bevölkerung beruhigen. Der Zustrom wird geringer, seit die Balkan-Route im Frühjahr gesperrt wurde und das umstrittene Abkommen mit der Türkei für eine bessere Sicherung der EU-Außengrenze sorgt.

Doch ist es wirklich angebracht, von einer generellen Entspannung der Flüchtlingskrise auszugehen? Mit Blick auf die Bevölkerungsentwicklung in Afrika und im Nahen Osten ist vielmehr zu erwarten, dass der Migrationsdruck mittelfristig stark zunimmt. Das zeigt auch eine im Frühjahr präsentierte Studie über die Krisenregion Mena (Middle East North Africa) des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Sie unterstreicht die Gefahr einer Destabilisierung der Region an der Südflanke zu Europa. Das Institut spricht von einem „Pulverfass vor den Toren Europas“.

Derzeit leben etwa 370 Millionen Menschen in den 19 Ländern der Mena-Region, die sich von Marokko bis nach Jemen und Iran erstreckt. Bis zum Jahr 2030 dürfte die Zahl um fast 100 Millionen steigen, so die Prognose der Demographen. Allein die Zahl der Ägypter wächst in fünfzehn Jahren um etwa 28 Millionen, die der Algerier um 10 Millionen und die der Jemeniten um rund 9 Millionen, ein Drittel mehr als heute. „Das Hauptproblem ist, dass das Bevölkerungswachstum viel schneller ist als das Jobwachstum“, sagt Reiner Klingholz, der Direktor des Berlin-Instituts.

Der „Youth Bulge“

Jedes Jahr drängten etwa 5 Millionen junge Menschen neu auf den Arbeitsmarkt. Doch nur eine Minderheit von etwa 40 Prozent findet eine Stelle, die meisten schlecht bezahlt im Dienstleistungssektor und ohne soziale Absicherung. Es sind bloß einfachste Anstellungen, etwa als Obstverkäufer. Die Mena-Region und Subsahara-Afrika sind die Regionen mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit weltweit. Besonders gering ist die Beschäftigungsquote der Frauen. Umso höher sind die Geburtenraten.

Noch dramatischer erscheinen die Zahlen für Afrika und Arabien zusammen. Derzeit leben dort 1,3 Milliarden Menschen. Bis 2050 dürfte sich die Zahl auf 2,7 Milliarden verdoppeln, so die mittlere UN-Bevölkerungsprognose. Vor allem in den ärmsten und am schlechtesten entwickelten Ländern ist die Kinderzahl weiterhin extrem hoch, so dass sich dort die Bevölkerungszahl verdreifachen wird. Frauen in Niger bekommen im Durchschnitt 7,6 Kinder, in Somalia und in der Republik Kongo mehr als sechs, in Uganda knapp sechs, in Nigeria 5,6. Allein Nigeria könnte so bis 2050 auf 440 Millionen Menschen, bis 2100 gar auf kaum vorstellbare 900 Millionen Menschen wachsen, heißt es in der UN-Bevölkerungsprognose. Unter den arabischen Ländern haben der Jemen, der Irak und die Palästinenser-Gebiete die höchsten Fertilitätsraten. Bei knapp über vier liegt dort die Kinderzahl je Frau.

Die Folge der hohen Geburtenzahlen ist ein gewaltiger Jugendüberschuss. Dieser „Youth Bulge“ gilt – gerade in politisch ohnehin instabilen Ländern – als wichtige Ursache von (Verteilungs-)Konflikten. Ein sehr hoher Anteil von Jugendlichen und jungen Erwachsenen wirkt destabilisierend, wenn die jungen Leute keine Arbeitsplätze finden. Ihr Frustrationspotential wächst, das Risiko von Unruhen und Aufständen bis hin zu Bürgerkriegsgefahren nimmt zu. Auch in den Ländern Nordafrikas, in denen die Geburtenraten seit einiger Zeit deutlich gesunken sind, ist der Anteil der jungen Leute, die auf den Arbeitsmarkt drücken, bedenklich hoch. Die als „Arabellion“ bekannt gewordenen Aufstände gegen autoritäre Herrscher in der Region brachen bezeichnenderweise in einer Zeit aus, als die Jugendüberhänge einen Höhepunkt erreichten.

Der Sozialwissenschaftler Gunnar Heinsohn, einer der führenden Forscher zum Phänomen „Youth Bulge“, der inzwischen am Nato Defense College in Rom lehrt, verdeutlicht die Konfliktgefahr mit einem sogenannten Kriegsindex. Dieser drückt aus, wie viele junge Leute (zwischen 15 und 19 Jahren) es relativ zur Zahl älterer Leute (von 55 bis 59 Jahren) gibt. Die einen suchen Beschäftigung, die anderen stehen kurz vor der Rente, machen also bald Platz. In Deutschland liegt der „Kriegsindex“ bei 0,66 (auf 1000 Ältere kommen nur 660 Jugendliche) – das Konfliktpotential um Arbeitsplätze ist minimal. Ganz anders in Afrika. „In Subsahara-Afrika kommen auf 1000 Ältere etwa 3500 bis 7000 Junge, die Arbeit suchen“, sagt Heinsohn. Den Nato-Kommandeuren zeigt er dann Landkarten mit erschreckenden Zahlen. In Uganda etwa liegt der „Kriegsindex“ bei sieben, in Mali, Afghanistan und Ruanda über sechs, in Palästina, Jemen und Somalia bei fast sechs. „Bei solchen Jugendüberschüssen droht Gewalt in irgendeiner Form, meist Gewalt nach innen. Das geht bis hin zu Völkermorden“, warnt Heinsohn.

Und diese Konflikte und die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit führen dann dazu, dass ein erheblicher Teil der Menschen ans Auswandern denkt. In den Subsahara-Ländern würden 39 Prozent gerne ihre Länder dauerhaft verlassen, ergab eine große Gallup-Befragung von 2009. In dieser sehr armen Region leben bis heute etwa 600 Millionen Menschen ohne elektrischen Strom, erinnert Heinsohn. In Nordafrika und im Nahen Osten waren es 23 Prozent Auswanderungswillige. Laut einer Umfrage des Doha-Instituts von 2015 liegt der Anteil in Arabien immer noch bei etwa einem Viertel. In den islamischen Länder Asiens, von Afghanistan über Pakistan und Bangladesch bis Indonesien, möchte laut Gallup-Umfrage mindestens ein Zehntel gerne emigrieren. Heinsohn rechnet mit insgesamt bis zu 600 Millionen Wanderungswilligen auf der ganzen Welt. Überproportional viele Junge würden gerne gehen. In Algerien etwa denkt die Hälfte der jungen Erwachsenen ans Auswandern. Allerdings können nur wenige diese Wünsche bislang verwirklichen. Millionen Migranten in Afrika und Arabien gehen zunächst in Nachbarländer; erst zeitverzögert – und nachdem zerfallende Staaten wie Libyen den Weg übers Mittelmeer eröffnen – beginnt die Migration nach Europa.

Wenig Gründe für Optimismus

Die meisten Faktoren deuten auf einen steigenden Migrationsdruck in den kommenden Jahren: Sowohl die Demographie als auch das hohe Wirtschafts- und Einkommensgefälle zu Europa, die instabile Sicherheitslage sowie sich verschlechternde Umweltfaktoren sprächen dafür. Die Perspektiven könnten sich nur verbessern, wenn in den betroffenen Ländern viel mehr in berufsorientierte Bildung und die entsprechenden Jobs investiert würde. Auf dem Papier haben zwar einige nordafrikanische und arabische Länder höhere Quoten von Bildungsabschlüssen vorzuweisen. „Die Qualität der Abschlüsse ist aber sehr dürftig“, sagt Klingholz. In internationalen Vergleichstests wie der Pisa-Studie oder der Timss-Mathe-Studie liegen Afrika und Arabien ganz weit unten, betont Heinsohn. Die jungen Leute würden zudem das Falsche studieren, zu viel Sozial- und zu wenig technisch-mathematisch-naturwissenschaftliche-Fächer, kritisiert das Berlin-Institut. Viele Absolventen hofften auf eine Stelle in den aufgeblähten staatlichen Verwaltungsapparaten, die Privatwirtschaft bleibt schwach.

Paradoxerweise würden mehr Bildung und mehr Wohlstand zunächst auch nicht zu einem Rückgang des Migrationsdrucks führen. Denn es sind eher die gebildeteren, urbanen Schichten, die überhaupt das Wissen und die Mittel zur Auswanderung haben. Zudem nimmt das Risiko einer sozialen und politischen Destabilisierung in den Herkunftsländern eher zu, wenn junge Leute trotz besserer Bildung keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.

Die wirtschaftlichen Verhältnisse könnten nur dann wirklich besser werden, wenn die Rahmenbedingungen für Unternehmen günstiger würden, ist Klingholz überzeugt. Aktuell werden Unternehmer durch viel Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit behindert. „Wenn sich die Perspektiven der Menschen nicht bald verbessern, haben wir es mit einer wachsenden Zahl von Wirtschaftsflüchtlingen und anderen Flüchtlingen zu tun“, sagt Klingholz. Er will nicht nur schwarzmalen – doch fällt es ihm schwer, Gründe für Optimismus zu finden.

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