20. Februar 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge: Die Verbannten“ · Kategorien: Lesetipps · Tags:

Quelle: Zeit Online

Wen meinen wir, wenn wir von Flüchtlingen sprechen? Erst jetzt wird sichtbar, in welchem Ausmaß wir es mit den „Illegalen“, den „sans-papiers“, zu tun haben werden.

Von Adam Soboczynski

Sind eigentlich alle Menschen, die derzeit nach Deutschland ziehen, Flüchtlinge? Das ist nur auf den ersten Blick eine polemische Frage. Jürgen Kaube hat vor einigen Tagen eindrücklich dargelegt, wie sehr der Begriff des Flüchtlings überdehnt wird und juristische Probleme aufwirft. Wer von Flüchtlingen spricht, legt nahe, dass Menschen aus unmittelbarer Kriegsnot nach Deutschland gelangen. Die meisten, so argumentiert auch der FAZ-Herausgeber, brachen allerdings nach längerem Aufenthalt aus der Türkei auf und gelangten über die Slowakei nach Österreich und von dort nach Deutschland. Das weite Herz des Flüchtlingsbegriffs scheint derzeit jede Differenzierung zu verhindern und ist damit auch ein rhetorischer Brandbeschleuniger. Wenn „der Flüchtling“ eine unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben suggeriert, so ist umgekehrt jeder, der sich kritisch zur Flüchtlingskrise äußert, auch moralisch unmittelbar zweifelhaft, was ihn wiederum zum Gegenvorwurf der Naivität, Traumtänzerei und Doppelmoral verleitet. Die Flüchtlingsdebatte befindet sich in einem Stadium, in dem vor allem Platzverweise ausgesprochen werden und auf Schritt und Tritt ein Gesinnungstest lauert.

Zur begrifflichen Unklarheit trägt bei, dass über Flüchtlinge gesprochen wird, als seien sie nicht nur aus humanitären, sondern auch und vielleicht vor allem aus wirtschaftlichen Gründen willkommen: Man verweist auf den Fachkräftemangel, die demografische Entwicklung, die brummende Wirtschaft und hat somit offensichtlich eine dauerhafte Zuwanderung vor Augen. Deshalb wirkte es fast kurios, als die Kanzlerin am Wochenende daran erinnerte, dass der gewährte Schutz zumeist auf drei Jahre befristet sei und man erwarte, dass die meisten Flüchtlinge wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Hatte man die Flüchtlinge über Monate nur versehentlich als Zuwanderer aufgefasst, die es zu integrieren gelte und die eine Bereicherung für das Land bedeuteten?

Besitzt das undifferenzierte Sprechen über Flüchtlinge womöglich eine gesellschaftliche, gar politische Funktion? Die Kölner Silvesternacht hat jedenfalls eine Ahnung davon gegeben, dass die derzeitige Zuwanderung deutlich vielschichtiger ist, als es der überstrapazierte Flüchtlingsbegriff nahelegt. Viele der Täter stammen offenbar aus den Maghrebstaaten Marokko und Algerien, einige von ihnen sind Asylbewerber mit wenigen Chancen auf eine Bleibeperspektive, andere halten sich ohnehin bereits illegal in Deutschland auf. Die Frage, die zunächst diskutiert wurde, lautete: Waren die Täter Flüchtlinge? Wer die Algerier und Marokkaner, die sich aus den elenden Verhältnissen ihrer Länder davongemacht haben, umgangssprachlich als Flüchtlinge begreift, wie es gemeinhin getan wird, wird dies natürlich uneingeschränkt bejahen. Und zwar auch dann, wenn sie weder aufgrund politischer Verfolgung asylberechtigt sind noch eine Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Konvention geltend machen können. Es war eben ein weitreichender semantischer Vorgang, als man den „Asylbewerber“ gegen den Terminus „Flüchtling“ austauschte. Der „Asylbewerber“ ließ noch in kalter Bürokratensprache offen, ob einem Antrag auf einen Aufenthaltstitel überhaupt stattgegeben wird. Der Flüchtlingsbegriff indes verdrängte erfolgreich negative Aspekte der Zuwanderung, die nach dem Kölner Vorfall entsprechend hysterisch ins Bewusstsein rückten.

Mit wem hatte man es in Köln eigentlich zu tun? Doch sehr offenkundig mit jungen Männern, die nur noch wenig zu verlieren haben, da sie am untersten Ende der Zuwandererhierarchie stehen. Mit Menschen, die entweder keinen Aufenthaltsstatus oder aber wenig Aussicht haben, ein längerfristiges Bleiberecht zu erwirken. Mit illegalen Migranten oder solche, denen die Illegalität und damit ein Leben im Untergrund zumindest drohen. Kurzum: mit jenen, die in Frankreich der Einfachheit halber sans-papiers genannt werden und die in manchen Städten wie Marseille so unmittelbar sichtbar sind, dass man keine Statistik braucht, um die Alltagskriminalität zu ermessen. Sie bilden dort nicht nur ein gefürchtetes soziokulturelles Problem, sie sind seit vielen Jahren auch ein beliebtes Sujet in Filmen und Romanen. Die Werke handeln von der Willkür der Behörden, von der Ausbeutung in illegalen Beschäftigungsverhältnissen, von Taschendiebstahl, von Prostitutionsgewerbe und Drogenhandel, auch von der Islamisierung. Kurzum: von einer weitgehend rechtlosen Existenz, vom nackten, nomadischen Leben und seinen kriminellen Begleiterscheinungen.

Es war auffällig, mit welchem Eifer man die Vorfälle in Köln sogleich im weiten Reich sexualisierter Männergewalt verortete. Womöglich tat man dies auch, um die sehr naheliegende Beobachtung von sich zu weisen, dass man es mit einem neuen sozialen Milieu zu tun hatte, welches gewiss nicht über Nacht verschwinden wird – egal, wie viele Polizisten man in Zukunft auf die Straße stellt. Offenkundig sollte das Gemeinschaftsgefühl, das man mit den Flüchtlingen zu teilen bereit war, von jeder Verschmutzung bewahrt werden. Dass mit den Zuwanderern auch die sozial besonders Deklassierten, die Rechtlosen und sexuell Frustrierten ins Land kamen, störte die philanthropische Mittelschichtsglückseligkeit jedenfalls erheblich.

Mit wem hatte man es in Köln also eigentlich zu tun? Der sans-papiers kommt der vom italienischen Philosophen Giorgio Agamben zitierten altrömischen Figur des Homo sacer nahe, des aller Rechte beraubten Menschen. Er ist die Personifikation des modernen Ausnahmezustands, der – wenn man Agamben folgt – permanent auch in westlichen Demokratien verankert ist. Der Illegale haust zwar im Herzen der legalen Demokratie, er steht aber gleichzeitig außerhalb. Zuwanderer sind als politisch Verfolgte und Hochqualifizierte bis zu einem gewissen Grad durchaus erwünscht, der sans-papiers aber fällt durch jedes Migrationsraster. Er befindet sich immer schon jenseits irgendeiner Obergrenze. Sein bloße Anwesenheit ist strafbar, oftmals wird er allerdings geduldet, vor allem dann, wenn sein Pass nicht auffindbar ist, wofür er natürlich selbst sorgen kann. Dann erhält er Sachleistungen, arbeitet schwarz in der Großküche oder auf der Baustelle und schlägt sich als Kleinkrimineller durch. Er ist hier und sollte woanders sein. Irgendwo, nur eben nicht hier. Der Illegale verweist auf den unerbittlichen Mechanismus von Souveränität und Ausnahme in modernen Staaten: Das Recht wird im Raum des Rechts ausgesetzt, der Ausnahmezustand mit den Mitteln des Rechts verwaltet.

Die Polizisten der Silvesternacht berichteten, sie hätten eine so manifeste Respektlosigkeit gegenüber sich als Amtspersonen noch nie in ihrer Karriere erlebt. Der sans-papiers ist weitgehend rechtlos, und dann wundert man sich also, dass er sich benimmt, als gäbe es kein Recht. Wenn er als Rechtssubjekt in Erscheinung tritt, dann vorzugsweise als Delinquent. Der sans-papiers verweist auf den dunklen Schatten der Zuwanderungspolitik: Er fungiert als äußere Grenze, um die Integration der legalen Migranten zu gewährleisten. Man könnte sogar den ketzerischen Verdacht hegen, der so menschenfreundliche Begriff des Flüchtlings sei auch deshalb ersonnen worden, um die Abgewiesenen und Ausgestoßenen der Zuwanderung so unsichtbar zu machen, wie es nur irgend geht.

Wie nun geht man in Zukunft mit jenen um, die ihre Ohnmacht nur noch durch die Demonstration körperlicher Überlegenheit und gewalttätiger Virilität kompensieren können? Zu ihnen fällt der Politik derzeit wenig mehr ein, als sie abzuschieben, selbst dann, wenn es keinen Staat gibt, der sie als seine Bürger anerkennt. Sie dürften ohnehin Wege finden zu bleiben. Und man fragt sich, wo eigentlich jener Typus des Sozialdemokraten abgeblieben ist, der nach Köln nicht nur an Ausweisungen und neue Polizeieinheiten denkt, sondern an robuste und ausdauernde Sozialarbeit, die derzeit notwendig wäre, um den Ausgestoßenen der Zuwanderung zu einem Mindestmaß an Ansehen und Respekt zu verhelfen.

Für die Bemitleidenswerten gibt es keine Heimat und kein Recht. An ihnen zerschellt die übliche Menschenrechtsrhetorik. Die Verbannten werden nur als Täter sichtbar. Als Opfer politisch bedingter Ausgrenzung kommen sie unter keinen Umständen in Betracht.

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