Quelle: Frankfurter Rundschau
Ein geleaktes Protokoll zeigt, wie der türkische Präsident Erdogan seine Position in der Flüchtlingskrise ausnutzt. Erdogan fordert mehr Geld – und droht damit, Flüchtlinge in Bussen an die EU-Grenzen zu schicken.
Von Frank Nordhausen
Großes Aufsehen hat in der Türkei ein griechischer Medienbericht hervorgerufen, dem zufolge der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am Rande des G 20-Gipfels in Antalya im November der Europäischen Union mit der kompletten Öffnung der Grenzen und Bustransporten mit Flüchtlingen direkt nach Griechenland drohte, falls die Union ihr Angebot an die Türkei nicht verbessern sollte. Das geht aus der vierseitigen Zusammenfassung eines Gesprächs hervor, das Erdogan in Antalya mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk geführt haben soll. Die als seriös geltende griechische Finanz-Webseite „euro2day.gr“ hatte das Transkript am Montag veröffentlicht.
Als „schockierenden Dialog“ bezeichnete die oppositionelle türkische Zeitung „Sözcü“ die sogenannten „Erdogan-Leaks“, bei denen der Präsident seine überlegene Position in der Flüchtlingskrise gegenüber der EU ausgespielt habe. Thema des Gesprächs waren vor allem die Hilfsgelder Brüssels für eine bessere Unterbringung der Flüchtlinge in der Türkei.
Als Erdogan fragte, wie hoch die Summe sei, habe Juncker geantwortet, die EU plane mit drei Milliarden Euro für zwei Jahre. Erdogan habe stattdessen drei Milliarden Euro jährlich gefordert und erklärt, dass die Türkei das Geld eigentlich gar nicht brauche: „Wir können die Tore nach Griechenland und Bulgarien jederzeit öffnen und die Flüchtlinge in Busse setzen.“ Die Türkei hat laut Regierungsangaben bislang rund drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen und für deren Versorgung rund acht Milliarden Euro aufgewendet.
Das Treffen fand vor dem G 20-Gipfel am 29. November 2015 statt, bei dem auch der Aktionsplan der EU mit der Türkei zur Eindämmung des Flüchtlingszuzugs nach Europa verhandelt wurde. Im Gegenzug für die Abschottung der Grenze versprach die EU Ankara außer den drei Milliarden Euro auch die visa-freie Einreise für Türken in den Schengen-Raum, die Teilnahme an den EU-Gipfeln und die Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche. Inzwischen haben alle 28 EU-Mitgliedsstaaten den Fonds bewilligt. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte am Montag bei ihrem Besuch in Ankara, dass die Mittel bereitstünden. In der kommenden Woche findet in Brüssel ein Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs statt, an dem auch die Türkei teilnehmen wird.
Keine Bestätigung, kein Dementi
Laut dem Transkript beharrte Erdogan auf drei Milliarden Euro jährlich und hielt den EU-Politikern vor, dass der Aktionsplan schließlich vor allem dazu diene, das Schengen-Projekt der offenen Grenzen Europas am Leben zu erhalten. Juncker daraufhin: Falls Schengen kollabiere, werde die Türkei keine Vereinbarung zur Visa-Liberalisierung mit der EU erhalten. Erdogan konterte mit der rhetorischen Frage: „Wie wollen Sie denn mit den Flüchtlingen verfahren, wenn es keine Einigung gibt? Die Flüchtlinge umbringen?“ Tusk habe geantwortet, man könne die EU weniger attraktiv für Migranten machen, aber das sei nicht die Lösung, die man wolle. Erdogan erklärte daraufhin, dass die EU in diesem Fall mit mehr als nur einem toten Jungen an der türkischen Küste konfrontiert werde. „Es werden 10 000 oder 15 000 sein. Wie wollen Sie damit umgehen?“
Als die EU-Politiker einwandten, dass sie Erdogan schließlich auch entgegengekommen seien, als sie die Veröffentlichung des verheerenden EU-Fortschrittsberichts bis nach den türkischen Parlamentswahlen am 1. November verschoben, habe Erdogan gesagt, dies habe den Wahlsieg seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP gar nicht beeinflusst. „Auf jeden Fall war der Bericht eine Beleidigung. Wer hat ihn überhaupt zusammengestellt? Wie können Sie damit ankommen?“ Deutlich wurde, wie sehr der türkische Präsident sich durch Brüssels Politik erniedrigt fühlt, als er sich beklagte, dass die Türkei seit 53 Jahren auf Fortschritte beim EU-Beitritt warte. „Wieder wurden keine Beitrittskapitel eröffnet, trotz unserer guten Fortschritte.“
Der Fortschrittsbericht der EU-Kommission sollte eigentlich am 14. Oktober 2015 veröffentlicht werden, wurde aber bis nach der Wahl verschoben, was die türkische Opposition als Parteinahme zugunsten Erdogans interpretierte. Darin wurden der Regierung massive Rückschritte bei der Rechtsstaatlichkeit vorgeworfen. Juncker erklärte laut dem Gesprächsprotokoll, man habe den Bericht auf Erdogans eigenen Wunsch hin zurückgehalten. „Warum sonst hätten wir es auf uns genommen, deswegen kritisiert zu werden?“ Antwort Erdogans: „Die EU hat bisher nichts für die Türkei getan. Sagen Sie mir eine Sache, die Sie der Türkei bisher gegeben haben.“
Als Juncker auf die Dringlichkeit der Flüchtlingskrise hinwies und mit Blick auf ein vergangenes Treffen in Brüssel Anfang Oktober erklärte: „Wir arbeiten hart, und wir haben Sie in Brüssel wie einen Prinzen behandelt“, habe Erdogan geantwortet: „Wie einen Prinzen? Natürlich, ich repräsentiere kein Dritte-Welt-Land.“ Erdogan habe sich zudem mokiert, dass Junckers Heimatland Luxemburg „gerade mal die Größe einer türkischen Stadt“ habe.
Sprecher von EU-Rat und EU-Kommission wollten die Echtheit der Aufzeichnungen auf Medien-Anfragen weder bestätigen noch dementieren.
:::::
siehe auch: Telepolis
Erdogan: „Wir können die Tore nach Griechenland und Bulgarien jederzeit öffnen“
Die Türkei versucht mit den Flüchtlingen ihre Interessen durchzusetzen, die Konfliktlage in und um Syrien wird immer unübersichtlicher und explosiver
Florian Rötzer
Der türkische Präsident scheut nicht davor zurück, die US-Regierung massiv und öffentlich unter Druck zu setzen, damit diese die Unterstützung der syrischen Kurden aufgibt. Mit dem Flüchtlingsproblem in Europa hat er die Hebel in der Hand, um sich durchzusetzen. Bei den Verhandlungen mit der EU hatte bereits, wie aus einem Gesprächsprotokoll hervorgeht, angedroht, die Westgrenze ganz zu öffnen, wenn die EU nicht mehr als die 3 Milliarden Euro zu zahlen bereit ist. Mit einer solchen Drohung hat er Europa, vor allem die deutsche Regierung, in der Hand – und damit auch die USA, die die Einheit der Nato nicht gefährden wollen und die Türkei, nicht zuletzt den Militärflughafen Incirlik, als regionalen Partner benötigen, der auch geostrategisch im Hinblick auf den primären Feind Russland für die Südgrenze der Nato wichtig ist.
Die USA haben allerdings spätestens seit Kobane begonnen, die syrischen Kurden der YPG, die mit der PKK liiert sind, zu unterstützen. Zuletzt wurde mit der Hilfe der USA die so genannten Syrisch-Demokratischen Streitkräfte (SDF) aufgebaut, zu denen pro forma auch einige Stämme und sunnitische Gruppen gehören, um weiter gegen den IS mit dem Ziel der Eroberung von Raqqa vorzugehen.
Die USA mitsamt ihren Alliierten stehen seit Beginn der russischen Intervention in Syrien in Konkurrenz mit Moskau um den Einfluss auf die syrischen Kurden, die für beide Lager als kampferfahrene Bodentruppen wichtige Verbündete im Kampf gegen den IS darstellen. Die syrischen Kurden hatten sich aus der Opposition gegen Assad herausgehalten und waren eine Art Stillhalteabkommen mit dem Assad-Regime eingegangen, um so im Kampf gegen den IS und andere Rebellen die von ihnen kontrollierten Gebiete entlang der syrisch-türkischen Grenze zu sichern und auszubauen.
Nachdem Brett McGurk, der Sondergesandte des Präsidenten für den Kampf gegen den IS, und Vertreter des US-Verteidigungsministeriums am 1. Februar Kobane besucht, sich dort mit YPG-Vertretern getroffen und mit diesen „kampferprobten, multiethnischen Anti-IS-Kämpfern die nächsten Schritte der Syrien-Kampagne“ erörtert hatte, ist dem türkischen Präsidenten Erdogan der Kragen geplatzt. Für die türkische Regierung sind die YPG-Kämpfer ebenso wie die PKK Terroristen, zudem fürchtet die Türkei, dass sich aus den von der YPK kontrollierten Gebiete ein kurdischer Staat bilden könnte, wodurch der türkisch-kurdische Konflikt im eigenen Land noch weiter angeschürt würde.
Erdogan geht daher mit massiver Gewalt gegen die Kurden in der Osttürkei vor, lässt gegen die PKK im Nordirak Luftangriffe fliegen und droht mit einer Intervention, wenn die kurdischen Milizen den vom IS und Rebellen kontrollierten Korridor zwischen Rojave und Afrin schließen sollte. Zusammen mit Saudi-Arabien hat die Türkei erreicht, dass die syrischen Kurden nicht zu den – dann sowieso erst einmal geplatzten – Verhandlungen über einen Waffenstillstand in Syrien zugelassen wurden. Während Washington hier nachgab, drängt Moskau auf deren Teilnehme.
Jetzt machte Erdogan klar, dass die US-Regierung sich entscheiden müsse, ob sie sich für die Türkei oder für die Kurden entscheiden (Erdoğan: „Bin ich euer Verbündeter oder die Terroristen von Kobanê?“). Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu setzte gestern bei seinem Besuch in Budapest auf einer Pressekonferenz nach. Die PYD müsse wie die PKK als Terrororganisation eingestuft werden: „Unsere Freunde und Alliierten müssen sich entschließen. Sind wir eines der Partnerländer in Syrien im Kampf gegen den IS oder sind es Terrororganisationen?“
John Kirby, der Sprecher des US-Außenministeriums, hatte am Montag noch einmal betont, dass die USA die YPG nicht als Terrororganisation sehen, sondern als Partner. Um zu demonstrieren, wie ernst man die Angelegenheit nimmt, bestellte das türkische Außenministerium gestern auch den US-Botschafter John Bass ein. Man habe ihm deutlich gemacht, wie besorgt man die Haltung Washingtons gegenüber der YPG und der PYD nimmt, so ein Diplomat anonym.
Der Hebel der Flüchtlinge
Bundeskanzlerin Merkel hatte sich bei ihrem erneuten Besuch in der Türkei ganz hinter die türkische Regierung gestellt, die russischen Luftangriffe bei Aleppo verurteilt und vereint mit der türkischen Regierung eine Nato-Mission zur Bekämpfung der Schlepper gefordert. Der Nato-Generalsekretär erklärte, die Nato denke ernsthaft über einen solchen Einsatz nach. Die Verteidigungsminister sollen auf dem Treffen heute und morgen in Brüssel darüber beraten. Das vermutlich auch auf dem Hintergrund der neuen Flüchtlingskrise an der türkisch-syrischen Grenze. Was aber würden Nato-Kriegsschiffe in der Ägäis mit den Flüchtlingen machen? Nach Griechenland bringen und einsperren, in die Türkei zurückdrängen? Mehr Ertrinkende riskieren? Möglicherweise Tote, wenn sich die Flüchtlinge wehren?
Wegen der Kämpfe um Aleppo sind Zehntausende an die Grenze geflüchtet, die die Türkei aber noch weitegehend geschlossen hält. Die syrische Armee hat bereits weitgehend Aleppo eingeschlossen und die Versorgungswege für die Rebellen abgeschnitten. Am Montag wurde auch die nordsyrische Stadt Kfeen nahe der türkischen Grenze eingenommen. Das UN-Flüchtlingswerk fordert die Türkei auf, sie zu öffnen, woraufhin der türkische Außenminister sagte, man tue dies auf „kontrollierte Weise“. Neuerdings wurden Verletzte in die Türkei gelassen, aber ansonsten bleiben bis jetzt die Tore geschlossen. Der Außenminister warnte zugleich, dass bis zu einer Million Flüchtlinge kommen könnten, wenn die russische Luftangriffe auf Stellungen der Rebellen weitergingen.
Damit hat die türkische Regierung zynischerweise einen weiteren Hebel in der Hand, um Druck auf die USA, Deutschland und die übrigen Nato-Länder auszuüben, um die Interessen der Türkei zu beachten. Die Türkei hat Sorge, dass kurdische Kräfte und die syrische Armee den noch den Rebellen, darunter auch al-Nusra, verbliebenen Korridor zwischen Aleppo und der türkischen Grenze ganz zu schließen. Damit wären die türkischen Verbündeten abgeschnitten, aber auch Gruppen, die von den USA durch die CIA und Saudi-Arabien unterstützt werden.
Möglicherweise denkt daher die US-Regierung über eine Bodenoffensive in Syrien nach, obgleich dies zu einer Konfrontation mit Russland, der syrischen Armee und den iranischen und Hisbollah-Kämpfern führen könnte. Saudi-Arabien hat Bodentruppen angeboten, falls die USA eine Offensive startet. US-Außenminister Kerry Adel soll dies begrüßt haben, sagte der saudische Außenminister al-Jubeir gestern.
Ein die diplomatischen Verhältnisse offenlegendes Protokoll
Ein von der griechischen Nachrichtenseite Euro2Day veröffentlichtes, vermutlich, so der Spiegel, authentisches Protokoll des Gesprächs zwischen dem EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rats, mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan im November des letzten Jahres macht deutlich, welchen Druck die Türkei derzeit vor allem auf Europa ausüben kann – ähnlich wird es bei den Gesprächen mit Bundeskanzlerin Merkel gewesen sein.
Tusk hat gerade Russland beschuldigt, für den neuen Flüchtlingsstrom verantwortlich zu sein: „Als direkte Folge der russischen Militäroffensive gewinnt das mörderische Assad-Regime an Boden und verliert die gemäßigte syrische Opposition an Boden und tausend weitere Flüchtlinge fliehen Richtung Türkei und Europa.“
Tusk spricht fälschlicherweise lediglich von gemäßigten Rebellen, dabei sind in Aleppo auch viele islamistische Gruppen tätig, allen voran al-Nusra, die al-Qaida zugehört, oder Ahrar al-Sham, die von Saudi-Arabien unterstützt werden. Turkmenische bewaffnete Gruppen, denen sich türkische nationalistische Kämpfer angeschlossen haben, sollen sich mit al-Nusra verbündet haben. Unklar ist, wer überhaupt noch unter der Freien Syrischen Armee fungiert, die meisten Rebellengruppen sind islamistisch oder salafistisch und unterscheiden sich kaum von al-Qaida oder dem IS.
Nach dem Protokoll hat Erdogan gezeigt, dass die Flüchtlinge von ihm ebenso instrumentalisiert werden wie von den europäischen Ländern, die lange die Türkei, Jordanien, den Libanon, aber auch die EU-Länder Griechenland und Italien damit alleine gelassen haben. Erdogan soll angedroht haben, die Grenze nach Europa für die Flüchtlinge zu öffnen, wenn die EU nicht mehr Geld zahlt als die beschlossenen 3 Milliarden, die allerdings noch immer nicht in der Türkei angekommen sind. Erdogan soll gedroht haben: „Wir können die Tore nach Griechenland und Bulgarien jederzeit öffnen und die Flüchtlinge in Busse setzen.“ Er fragte auch, was die EU mit den Flüchtlingen machen werde, wenn es zu keiner Vereinbarung käme: „Die Flüchtlinge töten?“ Als Tusk erklärte, man könne die EU weniger attraktiv machen, meinte Erdogan, dass vielleicht 10.000 oder 15.000 Kinder ertrinken könnten: „Wie wollen Sie damit umgehen?“